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3 Die deutschsprachigen Werke auf der Bühne in China von 1924 bis 1949

4.3 Interkulturelle Adaption aus einer deutschen Perspektive: Woyzeck

4.3.2 Handlung und Darstellung

Abbildung 29: Der Darsteller als Marie493

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sellschaftlichen Konflikte verdeckt.495 In Verbindung mit dem Kern des Dramas Woyzeck kann jedoch auch die traditionelle Peking-Oper Gesellschaftskritik üben und das Publikum zum Nachdenken anregen. Im Hinblick auf die Reform und Innovation des traditionellen Musikthea-ters ist diese Adaption daher von großer Bedeutung.

Die Handlung der Adaption folgt im Großen und Ganzen der Handlung des Originals. Dies erleichtert es den Zuschauern, die das Stück von Büchner schon kennen, der Geschichte zu fol-gen. Allerdings sind im Detail notwendige Änderungen vorgenommen worden, da alle Dialoge aus dem Original zu Monologen umgeschrieben wurden. Mimik und Gestik mussten deshalb angepasst werden. Mit Rücksicht auf die Tatsache, dass der Darsteller in dieser So-lo-Performance alle Rollen alleine spielen sollte, gestaltet es sich als unvermeidbar, die Figuren des Originals zu reduzieren. Im Original tritt also eine höhere Anzahl an Figuren auf, während in der Adaption nur fünf Figuren, und zwar Woyzeck, der Hauptmann, der Doktor, der Tambour-major und Marie, beibehalten werden. Diese Figuren sind unentbehrlich, damit die Handlung des adaptierten Stücks um Woyzecks Mord an Marie nach dem Missbrauch durch seine Vorgesetz-ten und Maries Verrat reibungslos dargestellt werden kann.

Wie oben erwähnt, handelt es sich hier um eine Solo-Performance mit Peking-Oper-Elementen.

Die Frage, die sich hier stellt, ist, wie der Darsteller durch seine Darstellung die fünf Figuren alleine verkörpern und dem Publikum die Handlung vermitteln kann. Zur Beantwortung ist es notwendig, auf die spezielle Darstellungskunst verschiedener Rollen in der Peking-Oper hinzu-weisen. Jeder Rollentyp hat eine eigene Mimik, Gestik und Singweise, die dabei helfen, die Rol-len in der traditionelRol-len Oper differenzieren zu können. Durch die einzigartige Gestalt und Dar-stellungskunst jeder Rolle gibt es die Möglichkeit, Rollen mehrfach zu besetzen. Die Handlung wird dem Publikum vermittelt, indem der Darsteller durch An- und Umziehen der Kostüme die Rollen in der Reihenfolge Hauptmann, Doktor, Tambourmajor und Marie spielt. Die einzige Ausnahme ist Woyzeck, der unter anderem durch Anziehen der weißen Weste mehrmals auftritt, um die Handlung voranzutreiben. Die Schaufensterpuppen dienen dabei nicht nur der temporä-ren Darstellung der andetemporä-ren Rollen, sondern auch als Requisiten. Darüber hinaus vollzieht sich der Rollenwechsel durch das Umziehen auf der Bühne. Die Zuschauer können daher leicht nachvollziehen, welche Rolle gerade gespielt wird. Die Illusion einer inszenierten Realität wird dadurch gebrochen. Erwähnenswert ist noch, dass der Darsteller die verschiedenen Rollen fast ausschließlich durch Gestik und Mimik verkörpert, das heißt, dass diese Solo-Performance ihren Schwerpunkt auf die stilisierte Körper-Darstellung legt. Dies bestätigt sich auch darin, dass in dem Stück sehr wenig gesprochen wird. Infolgedessen ist das Theaterstück im Großen und

495 Vgl. Zhuo, a. a. O., S. 62.

zen nicht schwer zu verstehen, ob die Zuschauer die chinesische Sprache kennen oder nicht. Als Beispiel werden einige Szenen ausführlich vorgestellt, die besonders beeindruckend erscheinen.

Szene 1: Doktor und Woyzeck

Der Doktor wird im Stück als die Rolle Sheng dargestellt. Im Stück tritt er auf, indem der Dar-steller seinen Hut aufsetzt und eine Erbsen-Kette in der Hand hält. Nach seinem Auftreten ändert der erfahrene Darsteller seine vorherige Darstellungsweise. Gangart, Mimik, Blick und Ton sind jetzt angepasst an die Rolle des Doktors. Zynisch und arrogant wirkend spricht er kurz über sich selbst und seine Beziehung zu Woyzeck, der von der auf dem Boden liegenden Weste symboli-siert wird. Durch eine Reihe von flüssigen Bewegungen wird deutlich aufgezeigt, dass der Dok-tor Woyzeck zwingt, die Erbsen zu essen. Der Darsteller hat den Rollenwechsel vom DokDok-tor zu Woyzeck reibungslos vollbracht, indem er als Doktor gleichzeitig die Erbsen-Kette und seinen Hut in die Höhe wirft, der seine Rolle als Doktor symbolisiert. Mit dem Kopf schlüpft er ge-schickt in die Erbsen-Kette (Abb. 30), trägt sie um seinen Hals und zieht sich rasch die Weste an, die auf seine Identität als Woyzeck hindeutet. Wie oben im Kontext der Kostüme erwähnt, dient die Erbsen-Kette hier als zentraler Gegenstand der Darstellung. Die Anwendung der Erb-sen-Kette ist wohl auf „Shuaifagong

甩发功“ (Haarschwenkekunst) in der Peking-Oper

zurück-zuführen. Wie der Name „Haarschwenkekunst“ verrät, handelt es sich um eine Kunstfertigkeit, bei der lange Haare geschwenkt werden. Diese Kunst wird in der traditionellen chinesischen Oper verwendet, um innere Beunruhigung wie Zorn, Angst, Wahnsinn, Hilflosigkeit oder Ver-zweiflung zum Ausdruck zu bringen.496 Der Darsteller hat die Kunst in diesem Stück ausge-zeichnet auf die Erbsen-Kette übertragen, die hier als Haare im Sinne der Haarschwenkekunst dient.

496 Vgl. Sun, Shaoen孙绍恩: Mantan xiqu shuaifa gongde xunlian yu yunyong 漫谈戏曲甩发功的训练与运用 [Skizze über die Ausbildung und Anwendung der Shuaifa-Kunst], in: Musiktheaterkunst 戏曲艺术, 1986 (4), S. 68.

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Abbildung 30: Der Darsteller als Woyzeck497

Im Stück muss Woyzeck die Erbsen-Kette tragen, nachdem er vergeblich Widerstand geleistet hat. Mit dem geschickten minutenlangen Schwenken der Kette um den Hals, die ihn wie eine Fessel nicht loszulassen scheint, drückt der Darsteller Woyzecks Qualen und Verzweiflung aus.

Szene 2: Tambourmajor, Marie und Woyzeck

Die komplexen Beziehungen zwischen Tambourmajor, Marie und Woyzeck zählen zum essenzi-ellen Teil des Stücks, der vor allem aus Maries Affäre mit dem Tambourmajor, Woyzecks Ent-deckung dieser intimen Beziehung und folglich seiner schweren Entscheidung für den Mord an Marie besteht. In diesem Prozess spielt ein Paar bestickte Schuhe eine bedeutende Rolle. In der alten Zeit in China standen Schuhe im engen Zusammenhang mit Ehe und Sex. Das Phänomen, dass Schuhe als Sex-Symbol angesehen wurden, könnte man auf die Geburt von Houji

后稷

, der als Stammvater des Zhou-Volkes und häufig als Gott des Ackerbaus im antiken China bezeich-net wird, zurückführen.498 Es wird in Shiji

史记 (Aufzeichnungen des Chronisten)

499

497 Der Darsteller spielt die Rolle Woyzeck, der gezwungenermaßen die Erbsen-Kette tragen muss. http://www.annapeschke.de/

woyzeck_fotos.html (Stand: 10/10/2017).

498 Vgl. Ni, Fangliu 倪方六: Gudai qiongren weihe „jieyi bu jiexie“? 古代穷人为何“借衣不借鞋”? [Warum leihen arme Leute in der alten Zeit keine Schuhe sondern nur Kleidung?], in: Lesenabstract读书文摘, 2015 (5), S. 28.

zeichnet, dass Houjis Mutter davon schwanger wurde, dass sie auf die Fußspur eines Riesen ge-treten ist. In der feudalen chinesischen Gesellschaft zählten die Füße der Frauen zu den wich-tigsten Körperteilen. Fremde Männer durften die Füße von fremden Frauen nicht sehen. Sogar im Haus trugen Frauen beim Schlafen immer Nachtschuhe. Vor dem Hintergrund dieser Konno-tation von Schuhen kommt den bestickten Schuhen von Marie in diesem Stück ebenfalls eine besondere Bedeutung zu. Nachdem der Tambourmajor mit Marie geflirtet hat, zieht er seine Kleidung und Schuhe aus und stattdessen Maries Schuhe an, was auf eine intime körperliche Beziehung zwischen ihm und Marie hindeutet. An ebendiesen Schuhen schöpft Woyzeck den Verdacht, dass Marie in einer Beziehung mit einem anderen Mann stehen könnte. Darauffolgend bestätigt sich Woyzecks Verdacht auf eine grausame Weise. Er sieht nämlich mit eigenen Augen das Zusammensein vom Tambourmajor und Marie – in diesem Moment werden auf der Bühne die zwei Schaufensterpuppen von dem Tambourmajor und Marie plötzlich in hellem Licht er-leuchtet. Die Beleuchtung übt eine starke visuelle Wirkung aus und symbolisiert eine große in-nerliche Erschütterung. Um Woyzecks großen Schock und Ärger auszudrücken, verwendet der Darsteller hier eine stilisierte Gestik. Seine Hand zittert heftig. Auf diese Weise werden dem Publikum seine Gefühle deutlich und direkt vermittelt.

Szene 3: Woyzeck als Clown

Das Ende, das sich aus der Darbietung der Rolle Woyzecks bildet, könnte als spannendster und erschütterndster Moment des ganzen Stücks gelten. Nach langem Zögern und Überlegen ist Woyzeck schließlich an die Grenze des geistigen Zusammenbruchs gekommen. Er macht nun auch Marie für seine Qualen verantwortlich und tötet sie. Daraufhin verfällt er in Wahnsinn und vermittelt dabei einen hilflosen Eindruck. Mühsam und stumpfsinnig erscheinend geht er die Bühne entlang, bis er an einen Tisch kommt. Mit beiden Händen berührt er einen schwarzen Farbstoff auf einem Teller, mit dem er sich langsam und zitternd über das Gesicht streicht. Seine Augen bleiben geschlossen. Der schwarze Farbstoff auf seinen Händen und seinem Gesicht wirkt wie das Blut von Marie. Nach einer kurzen Weile öffnet er seine Augen. Auch seine Mimik, Haltung und Bewegung ändern sich. Er verwandelt sich von der männlichen Rolle Sheng in die Rolle des Clowns Chou, die durch etwas krumme Beine gekennzeichnet ist. Nachdem er den letzten Halt und seine Würde als Mann verloren hat, ist sein männliches Dasein nicht mehr zu rechtfertigen. Der Rollenwechsel erscheint deshalb passend.

Das Aussehen des Clowns in der Peking-Oper ist durch eine Stehhaltung mit krummen Beinen und eine kleine viereckige Fläche gekennzeichnet, die mit weißer Farbe auf die Nase aufgetragen

499 Das Shiji 史记 (Aufzeichnungen des Chronisten) von Sima Qian aus der frühen Han-Zeit beschreibt die Zeit von den my-thologischen Anfängen der Geschichte bis zur frühen Han-Dynastie und umfasst eine ca. 3000-jährige Geschichte. Es gilt als grundlegender Text der chinesischen Zivilisation.

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wird. Im adaptierten Stück wird auf diese gewohnte Schminke verzichtet. Stattdessen wird Woyzecks Gesicht mit schwarzem Farbstoff bestrichen, was hinsichtlich des Kontexts und der Verstärkung des theatralen Effekts mit Rücksicht auf die Reaktion der Zuschauer bedeutungs-voller erscheint. Das traditionelle Clown-Image ist ein lustiges und dazu verpflichtet, die Zu-schauer zum Lachen zu bringen. Das Image von Woyzeck entspricht diesem traditionellen Bild nicht ganz. Nachdem er seinen letzten Halt verloren hat, wirkt er eher tragisch und erregt deshalb Mitleid, was die Zuschauer dazu anregt, über die Gründe für sein Schicksal nachzudenken. Des-halb soll sein Bild hier, zumindest von seinem Aussehen betrachtet, nicht lustig wirken, weil sonst das Publikum nur ans Lachen denken könnte. Durch subtile Mimik und Gestik kann seine Komik ebenfalls zum Ausdruck gebracht werden. Die Rolle des Clowns in der Peking-Oper er-füllt mehrere Funktionen, die nicht nur eine unterhaltende, sondern auch eine ironische Funkti-on500 einschließen. Diese Funktion lässt sich mit dem veränderten Woyzeck, der Marie bereits erstochen hat, gut verbinden und regt die Zuschauer zum Nachdenken an.

Erwähnenswert ist zudem, dass die Rolle des Clowns sowohl bei deutschen als auch chinesi-schen Zuschauern auf Resonanz gestoßen ist. Dies liegt vermutlich daran, dass der Clown so-wohl in der westlichen als auch in der chinesischen Kultur seit langer Zeit existiert. Die primäre Kunst des Clowns im Westen ist es ebenso wie jene in China, Menschen zu unterhalten und sie zum Lachen zu bringen. Darüber hinaus ist das Phänomen vom bösen Clown, das seit den 1980er-Jahren immer häufiger im Westen auftritt, nicht zu ignorieren. Dieser soziopathische Horror-Clown steht dem gutherzigen Zirkusclown gegenüber und macht ihm Konkurrenz. Para-doxerweise könnte der böse Clown mit seinem grotesk-furchterregenden, blutrünstigen Bild in gewissem Maße eine positive Rolle in der Gesellschaft spielen. Er hat nämlich die Position eines subtilen Gesellschaftskritikers eingenommen, so Lena Sharma, „der als Verfechter des Zufalls auftritt: eines Prinzips, das Hierarchien und Kategorien wie Armut und Reichtum, würdig und unwürdig außer Acht lässt.“501 Wenn man an die Gestaltung der Figur Woyzeck nach seinem Mord an Marie denkt, spiegelt sich das Bild des bösen Clowns mehr oder weniger in Woyzeck wider. An der Rolle des Clowns lässt sich auch die erfolgreiche kulturelle Hybridisierung erken-nen. Es ist anzunehmen, dass dadurch das Ziel eines gemeinsamen Verständnisses zwischen Ost und West erreicht wird.

500 Vgl. Liu, Xiaolin 刘晓玲: Lun xiqu choujue de wutai gongneng 浅论戏曲丑角的舞台功能 [Diskurse über die bühnischen Funktionen der Clown-Rolle], in: Zeitschrift der Universität Zhongbei 中北大学学报, 2009 (103), S. 66.

501 Sharma, Lena: Phänomen Evil Clown. Der Trickster-Archetyp seit der Postmoderne, in: Über den Clown. Künstlerische und theoretische Perspektiven, hrsg. von Richard Weihe, Bielefeld 2016, S. 241-242.