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3 Die deutschsprachigen Werke auf der Bühne in China von 1924 bis 1949

3.2 Überlegungen zur Beliebtheit von Goethe und Schiller in China

Wie die Liste der aus deutschsprachigen Literaturwerken adaptierten Theaterstücke in China I zeigt, wurden die Literaturwerke von Goethe und Schiller in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-derts am häufigsten adaptiert. Aber warum waren Goethe und Schiller so beliebt in China? Den naheliegendsten Grund mag der hohe literarische und künstlerische Wert ihrer Literaturwerke darstellen, der eine große Aufmerksamkeit der chinesischen Intellektuellen, wie zum Beispiel Guo Moruo oder Tian Han, erregte und deren künstlerisches Schaffen signifikant beeinflusste.

Daneben sind noch drei weitere wichtige Gründe zu nennen: Erstens sind Goethe und Schiller die deutschen Schriftsteller, die schon früh, und zwar in der Qing-Dynastie, in China vorgestellt wurden. Zugleich wurden ihre wichtigen Werke ebenfalls früh in China eingeführt und ins Chi-nesische übersetzt. Es sollte an dieser Stelle wiederholt werden, dass ab dem Ersten Opiumkrieg (1839–1842) in China die Tür zum Westen geöffnet wurde. Wegen der Niederlage im Krieg entschloss sich die Regierung der Qing-Dynastie, fortschrittliche Techniken und Naturwissen-schaften aus Deutschland zu übernehmen, was auch zur Vermittlung der deutschen Literatur führte. Im Jahr 1878 schrieb der Diplomat Li Fengbao zum ersten Mal den Namen Schillers.

1890 zeichnete Zhang Deli die Handlung des Theaterstücks Wilhelm Tell auf. 1903 übersetzte Zhao Bizhen die vom japanischen Schriftsteller Daqiao Xintailang verfasste Sammlung Deyizhi wenhao liuda jiazhuan

德意志文豪六大家传 (Sammlung der Biographien von sechs

bedeu-tenden deutschen Schriftstellern). In dieser Sammlung gab es ein Kapitel speziell über Schiller, in dem Schillers Lebenslauf und seine Literaturwerke ausführlich vorgestellt wurden. 1915 übersetzte Ma Junwu Schillers Meisterwerk Wilhelm Tell und veröffentlichte seine Arbeit in der Zeitschrift Dazhonghua zazhi

大中华杂志 (Zeitschrift des Reichs der Mitte) in sechs Folgen.

Diese Übersetzung fand ein großes Echo in China und zählte zu den erfolgreichsten Überset-zungen vom Ende der Qing-Dynastie bis zur Bewegung des vierten Mai 1919.225

Wie zuvor bereits Schillers Name wurde auch Goethes Name zum ersten Mal vom Diplomaten Li Fengbao niedergeschrieben.226 Im Werk Sammlung der Biographien von sechs bedeutenden deutschen Schriftstellern wurden auch Goethe und seine Literaturwerke detailliert aufgeführt.

Der erste, der Goethes Werke übersetzte, war Ma Junwu. Zwischen 1902 und 1903 übersetzte er einen Ausschnitt der Gedichte Ossians aus Die Leiden des jungen Werthers und die Mig-non-Gedichte aus Wilhelm Meisters Lehrjahre ins Chinesische. Die Übersetzung der Gedichte wurde in die Majunwu shigao

马君武诗稿 (Gedichtsammlung von Ma Junwu) aufgenommen,

225 Vgl. Mo, Xiaohong 莫小红: Xile zai jinxiandai zhongguo de jieshou 席勒在近现代中国的接受 [Die Rezeption von Schil-ler im modernen China], in: Zeitschrift der Universität Anhui 安徽大学学报, 2014 (5), S. 65.

226 Vgl. Wang, Yingjie 王英杰: Gede zai zhongguo de chuanbo yu jieshou 歌德在中国的传播与接受 [Die Verbreitung und Rezeption von Goethe in China], in: Zeitschrift der Sozialen Berufsschule Chongqing 重庆社会工作职业学院学报, 2004 (2), S. 60.

die 1914 veröffentlicht wurde.227 In den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden Goethes Werke von drei weiteren Schriftstellern übersetzt: von Su Manshu 1911 in Chaoyin

潮 音 (Wellenton), von Ying Shi 1914 in

Deshi hanyi

德诗汉译 (Chinesische Übersetzung der

deutschen Lyrik), von Zhou Xiujuan 1917 in Oumei mingjia duanpian xiaoshuo

欧美名家短篇 小说 (Sammlung der Erzählungen von europäischen berühmten Schriftstellern).

228 Die Über-setzung des Romans Die Kameliendame wurde im Jahr 1899 veröffentlicht und läutete in China eine neue Ära der literarischen Übersetzung ein. Die Werke von Goethe und Schiller zählen da-mit zu den ersten nach China überda-mittelten und ins Chinesische übersetzten Werken. Da sie be-reits Anfang des 20. Jahrhunderts zugänglich waren, konnten sie sich in China weit verbreiten.

Einen ersten Höhepunkt erfuhr die Übersetzung der Werke Goethes und Schillers schließlich nach der Bewegung des vierten Mai 1919.229

Im Weiteren lebten Goethe und Schiller in einem Zeitalter, in dem Deutschland politisch zerris-sen war und die feudale autokratische Herrschaft brutal erschien. Angesichts dieser aussichtslos wirkenden Situation in Deutschland brachten Goethe und Schiller ihren Wunsch nach Freiheit durch ihre Literaturwerke zum Ausdruck. Dies lässt sich insbesondere an Schillers Werken zei-gen. Im modernen China sind ähnliche Ereignisse festzustellen. Nach Niederlagen in den Krie-gen, wie in den zwei Opiumkriegen (1839–1842/1856–1860) und dem Ersten Japa-nisch-chinesischen Krieg (1894–1895), ging China allmählich in eine halb-koloniale und halb-feudale Gesellschaft über. Angesichts der unfähigen und korrupten Regierung der Qing-Dynastie, der jahrelangen chaotischen Kriege verschiedener Kriegsherren der Beiyang-Regierung und der Invasion der Imperialisten wurde das chinesische Volk in dieser dunklen Zeit einer dauerhaften Unterdrückung ausgesetzt.230 Aufgrund der ähnlichen sozialen Situation waren die Werke von Goethe und Schiller vom chinesischen Publikum ohne weiteres aufzunehmen und erfreuten sich dort großer Beliebtheit.

Der dritte Grund für die Beliebtheit der Werke Goethes und Schillers ist darin zu finden, dass die Themen der Literaturwerke beider Schriftsteller besonders den Zeitgeist in China trafen. Als Beispiel ist die Rezeption des Romans Die Leiden des jungen Werthers zu nennen. Im Jahr 1922 wurde die chinesische Übersetzung des Romans Die Leiden des jungen Werthers durch den be-rühmten Schriftsteller Guo Moruo veröffentlicht. Diese vollständige Übersetzung erhielt in der chinesischen Gesellschaft ein bemerkenswertes Echo und fand bei den chinesischen Lesern gro-ßen Anklang. Ihr Erfolg rückte den bedeutenden deutschen Dichter Goethe vermehrt ins Blick-feld der chinesischen Leser. Obwohl unterdessen auch andere Übersetzungsversionen231

227 Vgl. Yang, a. a. O., 1982b, S. 323.

228 Vgl. ebd.

229 Vgl. Yang, a. a. O., 1982b, S. 325.

230 Vgl. Mo, a. a. O., S. 70.

231 Dabei handelt es sich vor allem um die Übersetzung von Huang Lubu (Longhu-Verlag, 1928), Luo Mu (Beixin-Verlag, 1931), Fu Shaoxian (Weltverlag, 1931), Qian Tianyou (Qiming-Verlag, 1936) usw. Siehe: Yang, a. a. O., 1982b, S. 326.

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schienen, war die Übersetzung von Guo Moruo die einflussreichste und bekannteste Fassung.

Von 1922 bis 1932 wurde seine Übersetzung mehr als fünfzig Mal nachgedruckt. Die Begeiste-rung der Chinesen für diesen Roman ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Themen des Romans den Zeitgeist um die Bewegung des vierten Mai 1919, nämlich Anti-Feudalismus und Streben nach Freiheit, genau widerspiegeln. Der Protagonist Werther, die für eine freie Liebe sogar sein eigenes Leben aufgibt, ermutigte zahlreiche chinesische Leser, die unter feudalen Ehen und der feudalen Gesellschaftsordnung leiden mussten, für sich selbst zu kämpfen und Widerstand gegen den Feudalismus zu leisten.232 Diese Werther-Leidenschaft hat außerdem großen Einfluss auf das literarische Schaffen vieler wichtiger chinesischer Schriftsteller wie Xi-ang PeiliXi-ang, Mao Dun, Cao Xuesong usw. ausgeübt und die Entwicklung der neuen Literatur in China gefördert.233 Unter dem Einfluss des Romans wurde das Genre des Briefromans in China populär. Nicht wenige berühmte Schriftsteller, wie Guo Moruo, Bing Xin, Xiang Peiliang usw., haben auch Briefromane verfasst.234 Bei Schiller ist eine ähnliche Verbindung festzustellen. Das Thema der Freiheit durchzieht fast sein gesamtes Werk. Der bedeutende Dramatiker Tian Han bewertete Schiller als

„einen Mann, der lebenslang für Freiheit kämpft“

235. Nach Tian Hans Meinung handle das Stück Wilhelm Tell von Einwohnern, die zwar nicht rebellisch und nur ein-fache Leute seien, die sich aber, wenn ihr ruhiges Leben von anderen gestört und gefährdet wer-de, furchtlos für die Revolution einsetzten.236 Der Kampf um die Befreiung in Wilhelm Tell ent-sprach genau dem Zeitgeist der antijapanischen Aggression seit den 1930er-Jahren in China, weil sich das chinesische Volk zu diesem Zeitpunkt mit der japanischen Invasion konfrontiert sah.

Deshalb erscheint es nicht verwunderlich, dass dieses Stück von den chinesischen Dramatikern Chen Baichen, Song Zhidi und Xiang Peiliang während des Antijapanischen Kriegs adaptiert und inszeniert wurde, um das chinesische Volk zum Widerstand gegen die japanische Aggressi-on aufzurufen.

232 Vgl. Yang, a. a. O., 1982b, S. 326.

233 Vgl. Huang, Yi/Wei, Maoping 黄艺/卫茂平: Gede zai zhongguo 歌德在中国 [Goethe in China], in: Wenbei: Vergleichen-de Literatur und Kultur 文贝:比较文学与比较文化, 2013 (Z1),S. 172-173.

234 Vgl. Yang, a. a. O., 1982a, S. 100.

235 Redaktionsausschuss (Hrsg.) 本书编委会 (编): Tian Han quanji dishi sijuan 田汉全集·第十四卷 [Das Gesamtwerk von Tian Han, Bd. 14], Shijiazhuang huashan wenyi chubanshe 石家庄: 花山文艺出版社 2000, S. 388.

236 Vgl. ebd.