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Orthodoxe Kirche und orthodoxer Glauben

Im Dokument Die Serbisch-Orthodoxen in (Seite 40-47)

1. Historische Rahmungen – Glauben, Kirche, Herrschaft und Raum

1.1 Orthodoxe Kirche und orthodoxer Glauben

Im 4.  Jahrhundert legalisierte das Römische Reich den christlichen Glauben nicht nur, es verflocht die christliche Religionsorganisation auch bald darauf eng mit seinen politischen Herrschaftsstrukturen. Als sich am Ende des selben Jahrhunderts (395) das Reich in eine Ost- und eine Westhälfte teilte, wurde da-mit auch eine Religionsorganisation getrennt, die im Aufbau begriffen war und erst unlängst mit der weltlichen Herrschaft verbunden worden war. Die Teilung des Römischen Reiches – in Südosteuropa in etwa von der Bucht von Catta-rus (Cattaro/Kotor) und nördlich entlang des Flusses Drina nach Singidunum (Belgrad) verlaufend – war dabei kein eindeutiger politischer Akt: Zum einen wechselten die politischen Einflussgebiete zwischen Rom und Konstantinopel danach häufig, zum anderen deckten sie sich oft nicht mit den kirchenpoliti-schen Sphären. So reichten romtreue Bistümer lange Zeit bis nach Thessalonica/

Thessa loniki und der Konstantinopler Kaiser übte seine politische Herrschaft teils auch weit westlich der Drina aus.1 Einer Verschiebung der weltlichen Ein-flussgebiete ging jedoch meist die kirchliche Verwaltung voraus oder sie legiti-mierte und sicherte eine solche Veränderung im Nachhinein. Kirchliche und weltliche Herrschaft waren dabei zwar eng miteinander verzahnt, stellten aber dennoch getrennte Institutionen dar.

Die theologischen Differenzen der Kirchen Roms und Konstantinopels wa-ren in den ersten Jahrhunderten marginal. Im Zentrum der frühen Auseinandersetzungen stand häufig die Frage der Vorrangstellung im Kreis der fünf -Patriarchate der Kirche – der Pentarchie von Rom, Konstantinopel, Antiochia, Alexandria und Jerusalem.2 Vor dem Hintergrund dieser Rivalität kam es zwi-schen Rom und Konstantinopel bereits Ende des 5. Jahrhunderts zum ersten Schisma, das sich an unterschiedlichen Positionen zur göttlichen und mensch-lichen Natur Christi entfachte. Solche theologischen Differenzen überwanden

1 Pfeilschifter, Georg: Die Balkanfrage in der Kirchengeschichte. Freiburg 1913, 27–94;

Hudal: Die serbisch-orthodoxe Nationalkirche 1–3.

2 Thon, Nikolaus: Quellenbuch zur Geschichte der orthodoxen Kirche. Trier 1983, 53–55;

Larentzakis, Grigorios: Die orthodoxe Kirche. Ihr Leben und ihr Glaube. Wien 2012, 18 f.;

Gallagher, Clarence: The two churches. In: Jeffreys, Elizabeth/Haldon, John F./Cormack, Robin (Hg.): The Oxford handbook of Byzantine studies. Oxford, New York 2008, 592–598;

die Patriarchate dabei immer wieder – entweder durch Kompromisse oder in-dem man die strittigen Fragen auf Konzilen einfach ausklammerte.3

Im Gegensatz zum Weströmischen Reich überstand das Oströmische Reich die Wirren der Völkerwanderung. Es dehnte sich sogar noch nach Norden und Westen aus. Die Kirche Konstantinopels hatte in den ersten Jahrhunderten da-mit ein beständiges weltliches Herrschaftssystem im Rücken, da-mit dessen Unter-stützung sie sich entwickelte.4 Aus dieser Tradition entstand im 6. Jahrhundert das Ideal der Verschmelzung von geistlich-religiöser und weltlich-politischer Macht – von Kirche und Staat. Affirmativ nannte man diese symbiotisch ge-dachte Beziehung Symphonie. Aus westlicher Perspektive erschien dieser ver-meintliche Gleichklang der Mächte dagegen als eine Verweltlichung des Reli-giösen, als eine verflachte sakrale Verbrämung des Weltlichen, unter das sich die Kirche unterordnete. Dabei warfen sich beide Kirchen am Verhältnis zu weltlicher Herrschaft mit diametralen Argumenten das Gleiche – nämlich Ver-weltlichung – vor. Orthodoxe Theologen erblickten in der Ferne oder dem Feh-len einer schützenden weltlichen Macht den Grund für den Rationalismus, die Entmystifizierung und Profanisierung einer Kirche, die übermäßig mit der Ver-waltung ihrer Bistümer und Kirchengüter beschäftigt gewesen sei. Westliche Theologen schrieben der Ostkirche hingegen jahrhundertelange willfährige Unterstellung unter ein pompöses und diesseitiges Kaiserreich zu, was dazu ge-führt habe, dass sich die Orthodoxie verstärkt mit inhaltsschwacher Mystik zur Legitimierung weltlichen Pomps gekümmert habe.5

Dabei gab es trotz des oströmischen Symphonie-Ideals, das sich in einer en-gen Verflechtung von Politik, Religion, Wissenschaft und Kunst manifestierte, immer wieder auch differierende Machtinteressen zwischen Kaisertum, Patri-archat und den Bischöfen.6 Die traditionelle Nähe der orthodoxen Kirchenver-waltung zur weltlichen Herrschaft blieb dennoch über die Jahrhunderte eines ihrer unbestrittenen Spezifika.

Überzeugend sah der orthodoxe Theologe Stefan Zankow den Unterschied beider Kirchen in ihren unterschiedlichen Kulturen verwirklicht. So habe das östliche Christentum einen geistlich-mystischen und gemeindlich-freiheitlichen

3 Ders.: The episcopal councils in the East. In: Ebd. 583–591, hier 585 f.

4 Aufgrund der Macht des Oströmischen Kaiserreiches bezeichnete sich der Patriarch von Konstantinopel als das Oberhaupt der Reichskirche bereits im frühen 6. Jahrhundert als

»Ökumenischer Patriarch«, d. h. als allgemeines und den »ganzen bewohnten Erdkreis« be-stimmendes Kirchenoberhaupt. Tamcke: Das orthodoxe Christentum 15.

5 Vgl. Angold, Michael/Whitby, Michael: The Church. Structures and administration.

In: Jeffreys, Elizabeth/Haldon, John F./Cormack, Robin (Hg.): The Oxford handbook of -Byzantine studies. Oxford, New York 2008, 571–582.

6 Vgl. Runciman, Steven: The orthodox churches and the secular state. Auckland, Ox-ford 1971, 13–20; Ducellier, Alain/Asdracha, Catherine/Balard, Michel/Arrignon, Jean-Pierre:

Das Ende des Reiches. In: Ducellier, Alain (Hg.): Byzanz. Das Reich und die Stadt. Frankfurt am Main 1990, 387–499, hier 481–487.

Orthodoxe Kirche und orthodoxer Glauben 41 Zug entwickelt, die westlich-römische Kirche hingegen einen scholastisch- ratio-nalen und hierarchischen Zug.7 Obwohl diese Gegenüberstellung vieles verkürzt, führt sie doch nicht ganz in die Irre. Orthodoxe Kirchen entwickelten einen stär-ker episkopalen Charakter, d. h. die Bistümer einer autokephalen orthodoxen Kirche besaßen oft weitreichende Autonomien. Der Patriarch war und ist in vie-len Bereichen nur primus inter pares unter den Bischöfen der Kirche. Auch blieb die Kirchenverwaltung im Gegensatz zur westlichen Kirche deutlich stärker pa-rochial und dadurch stärker von Laien geprägt. So hatten Laien in den Gemein-den oft weitreichende Kompetenzen in der Verwaltung als auch in der Lehre. Le-diglich das sakramentale und in religiösen Belangen richtende Amt war de jure ein unbestrittenes Monopol der Geistlichkeit. Im Rahmen dieser Spezifika stellte die Eparchie Herzegowina eher die Norm als die Ausnahme dar.

Die Rolle von Sprache für Kirche und Staat

In der wechselseitigen Entfremdung der Kirchen von Rom und Konstantinopel spielte die sprachliche Trennung von Griechisch und Latein eine wichtige Rolle.8 Beide Sprachen besaßen zentrale Bedeutung in der Theologie, Verwaltung, Rechtsprechung und Liturgie. Zu dieser Sprachendualität trat in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts eine weitere heilige und gelehrte Sprache hinzu: das von den Brüdern Kyrill und Method auf Veranlassung Konstantinopels in einen schriftlichen Standard gefasste Slawische. Dieses sogenannte (Alt-)Kirchensla-wische war von Konstantinopel als Mittel der Mission der Slawen und ihrer Bin-dung an die eigene Kirchenverwaltung gedacht. Rom erkannte kurz darauf die neue Sprache ebenfalls an, jedoch nur solange mit ihr die eigene Kirchenverwal-tung gestärkt werden konnte oder sie schlicht nicht effektiv zu bekämpfen war.9

7 Zankow, Stefan: Das orthodoxe Christentum des Ostens. Sein Wesen und seine gegen-wärtige Gestalt. Berlin 1928, 26.

8 Pfeilschifter: Die Balkanfrage 41; Gallagher: The two churches 593.

9 Ende des 9. Jahrhunderts vertrieben romtreue Bischöfe und fränkische Fürsten die sla-wischsprachigen Missionare, die mit Kyrills Bruder Method nach Mähren und Pannonien gekommen waren. Ihre Rückkehr nach Südosteuropa stärkte in der Folge von Dalmatien bis Makedonien das Slawische als christliche Kult- und weltliche Verwaltungssprache. Bereits im 10. Jahrhundert wandte sich der lateinsprachige Klerus der dalmatischen Küstenstädte als auch der Papst gegen die slawische Liturgiesprache. Slawische Kirchenbücher verbreiteten sich dennoch in Istrien und Dalmatien rasant. Über Jahrhunderte versuchten der Papst und der lateinsprachige städtische Klerus die glagolitische, also die slawische Liturgietradition in den Gebieten nördlich der Neretva zu unterbinden – etwa im 11., 13. und 15. Jahrhundert. In den katholischen Diözesen südlich der Neretva, etwa dem Erzbistum von Antivari, wurde die slawische Liturgie dabei nie verfolgt, da sich Rom dort noch stärker der Erfolglosigkeit einer lateinischen Liturgie- und Kirchensprache bewusst war. Jireček: Geschichte der Serben (I) 177–179; Fine: The early medieval Balkans 266–281; Ders.: When ethnicity did not matter in the Balkans. Ann Arbor/Michigan 2006, 94, 140 f.

Zur politischen und jurisdiktionellen Frage der Kirchenverwaltung auf dem Bal-kan kam damit seit dem späten 9. Jahrhundert die kulturelle Frage der Liturgie- und Verwaltungssprache hinzu. So diente das Kirchenslawische bereits wenige Jahrzehnte nach seiner ersten Verbreitung durch Geistliche in slawischen Fürs-tentümern als Kanzleisprache und damit als Mittel der inneren Konsolidierung und Abgrenzung ihrer Herrschaften.10

Mit der Einführung des sogenannten (Alt-)Kirchenslawischen war auch eine tiefgreifende Umwälzung für slawische Gemeinschaften verbunden: Sie konn-ten das Chriskonn-tentum nun annähernd in ihrer Volkssprache leben und verstehen, womit eine Diglossie beinahe verschwand, die gelebte und gelehrte Religion oft zusätzlich teilte. Trotz der immer wiederkehrenden Versuche Roms, das Slawi-sche als Liturgiesprache aus der katholiSlawi-schen Praxis zu bannen, wurde sie von Istrien bis Antivari/Bar auch unter katholischen Geistlichen als sla wische oder glagolitische Liturgie (nach der so bezeichneten frühesten Schrift) teils bis ins 19. Jahrhundert gepflegt. In gewisser Analogie zur annähernden Volkssprach-lichkeit unter Slawen integrierte die orthodoxe im Gegensatz zur katholischen Kirche deutlich mehr vorchristliche Kultformen in den standardisierten Glau-ben, solange nur das religiös Bezeichnende (signifiant) für das damit Bezeich-nete (signifié) eindeutig christlich war.

Die Kirchenspaltung zwischen Ost und West

Die Kirche hatte sich über die Jahrhunderte an den Primatsstreit zwischen Rom und Konstantinopel gewöhnt. Mitte des 11. Jahrhunderts nahmen die Konflikte allerdings zu, zumal auch ein allseits anerkanntes Konzil mehr als ein Jahrhun-dert zurücklag.11 Neben dem Primatskonflikt hatte sich eine Reihe theologi-scher Differenzen ergeben. Am wichtigsten und folgenreichsten war das so-genannte filioque-Problem der Trinitätslehre, bei dem man um den Ursprung und die Hierarchie der drei Naturen Gottes stritt.12 Zudem gab es verschiedene Auffassungen zum Fegefeuer, zur Frage nach dem Zölibat der niederen

10 Der Kirchenhistoriker und katholische Bischof Alois Hudal bezeichnete das Kirchen-slawische als »Scheidewand zwischen römischer und byzantinischer Kirche«. Hudal: Die ser-bisch-orthodoxe Nationalkirche 5; Hervorhebung im Original.

11 Die orthodoxen Kirchen erkennen sieben Konzile als ökumenisch an. Das siebte und letzte war das Konzil von Nicea im Jahre 787. Ein Jahrhundert später kamen 879–880 die Patriarchen in Konstantinopel zusammen, erneut um ein Schisma zu versöhnen. Dieses Kon-zil wurde nachträglich von Rom jedoch als ungültig angesehen, vor allem wegen der ver-einbarten Haltung zum filioque-Problem. Gallagher: The episcopal councils 586 f.; Ders.: The two churches 593 f.

12 Kurz gesagt befasst sich das filioque-Problem als kirchengeschichtlich wirkmächtiger Streit mit der theologischen Frage, »ob der Heilige Geist ›vom Vater‹, ›vom Vater allein‹, ›vom Vater durch den Sohn‹ oder aber ›vom Vater und vom Sohn‹ ›aus- bzw. hervorgeht‹«.

Ober-Orthodoxe Kirche und orthodoxer Glauben 43 lichkeit und zu den Sakramenten.13 Ein neuer Streit darüber, ob gesäuertes oder ungesäuertes Brot beim Abendmahl verwendet werden sollte (Azymenstreit) diente letztlich im Jahre 1054 als Auslöser für die Kulmination der Konflikte im gegenseitigen Kirchenbann.14 Zumindest Konstantinopel verstand das Schisma dabei nicht als eine grundlegend neue Situation. Beide Kirchenzentren pflegten auch danach noch freundliche Beziehungen miteinander. Erst die Kreuzzüge Ende des 12. Jahrhunderts und die Eroberung und Plünderung Konstantinopels 1204 machten die Trennung von 1054 zum Großen Morgenländischen Schisma und besiegelten die Spaltung der beiden Kirchen.

Neben ihren machtpolitischen Ursachen offenbaren die theologischen Aus-einandersetzungen auch Unterschiede im Selbstverständnis beider Kirchen.

Als Vertreterinnen des wahren und universellen Glaubens, betrachten sich beide Kirchen also als orthodox – wortwörtlich rechtgläubig, und katholisch – allgemeingültig. Die orthodoxe Kirche nannte sich sowohl orthodox als auch -katholisch.15 Konstantinopel verstand sich als wichtigstes Patriarchat der alten, ursprünglichen und wahrhaftigen Kirche, als Wächterin gegen verfälschende Neuerungen. Im landläufig gewordenen Abgrenzungsbegriff orthodox drückte sich daher eine stärkere Berufung auf die unverfälschte Kirche Jesu Christi, auf das Vermächtnis der Apostel und die sieben Konzile der alten Kirche aus. In vie-len Disputen, alvie-len voran dem filioque-Streit, verfocht Konstantinopel die ver-meintlich alten Positionen, mit denen die Sakralität der religiösen Zeichen vor allem auch durch ihre Unveränderlichkeit bewahrt werden sollte. Reinheit und Heiligkeit wurden dabei theologisch stärker gewichtet als innere Kohärenz der Glaubenslehre. Die scholastische Methode Roms zur Rationalisierung des Glau-benssystems lehnten orthodoxe Theologen weitgehend ab.16

Das Oströmische Kaiserreich hatte sich und seine Kirche gegen die Konkur-renz im Westen, die Einwanderung von Slawen im 6. und 7. Jahrhundert aus dem Norden sowie das darauf folgende Vorrücken islamischer Reiche im Süden und Osten behauptet. Ab dem 11. Jahrhundert mehrten sich die Niederlagen:

Ostrom unterlag den seldschukischen Streitkräften und an der Wende vom 12.

zum 13. Jahrhundert wiederholt auch katholischen Ritterheeren und Venedig.17

dorfer, Bernd: Filioque. Geschichte und Theologie eines ökumenischen Problems. Göttingen 2001, 12; vgl. auch Larentzakis: Die orthodoxe Kirche 155–158.

13 Zu den heute bestehenden theologischen Differenzen zwischen Ost- und Westkirche vgl. u. a.: Vukšić: Međusobni odnosi 217–270.

14 Thon: Quellenbuch 62; Gallagher: The two churches 596.

15 Vgl. Begović: Istorija srbske crkve. Na osnovu pravoslavnog duha i kanona Apostolski i veliki sabora jedne svete istočne katoličke crkve hristove. Novi Sad 1877. Meine Hervorhebung im Titel.

16 Vgl. Oberdorfer: Filioque 15–20.

17 Zankow: Das orthodoxe Christentum 25 f.; Ducellier, Alain/Ferluga, Jadran/Arrignon, Jean-Pierre/Carile, Antonio: Krieg und Außenpolitik. In: Ducellier, Alain (Hg.): Byzanz. Das Reich und die Stadt. Frankfurt am Main 1990, 151–209.

Zudem erstritten serbische, bosnische, bulgarische und albanische Balkanfürs-tentümern bis ins 13. Jahrhundert weitgehende Unabhängigkeit, welche einige unter ihnen mit Königskronen des römischen Papstes legitimierten.18 Seit dem 13. Jahrhundert war das Oströmische Reich so zunehmend zu einer Regional-macht geworden, von der die Osmanen in den folgenden beiden Jahrhunderten eine Provinz nach der anderen eroberten.

Die Orthodoxe Kirche im Osmanischen Reich

Die Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 bedeutete das Ende des tausend-jährigen Oströmischen Kaiserreiches. Für die orthodoxe Kirche von Konstanti-nopel war dies eine unvorstellbare Demütigung und ein massiver Bedeutungs-verlust, es war aber nicht ihr Ende. Zwar wurde die Hagia Sophia, der größte Kirchenbau der Christenheit und die Kathedrale des Patriarchen, unmittelbar nach der Eroberung der Stadt zur wichtigsten Moschee des Reiches umgebaut und das Patriarchenamt blieb für Monate unbesetzt. Die Existenz und der Füh-rungsanspruch der orthodoxen Kirchenorganisation wurde jedoch nicht ange-tastet. Im Jahr nach der Eroberung ließ Mehmed II. wieder einen Patriarchen einsetzen. Das Patriarchat zog in eine kleine Kirche am Rande der Stadt.19

Wie das Russländische Reich auch kannte das Osmanische Reich bis ins 19. Jahrhundert im Grunde drei Gruppen von Untertanen – Anhänger der Re-ligion der herrschenden Dynastie, mit bestimmten Rechten ausgestattete An-gehörige von tolerierten Glaubensgemeinschaften sowie Mitglieder von Glau-bensgemeinschaften, die nicht anerkannt waren.20 Die osmanische Herrschaft respektierte nach islamischem Prinzip Christen und Juden als »Völker des Bu-ches« (ahl al-kitāb). Voraussetzung war die uneingeschränkte Vorrangstellung des Islams in der Verwaltung, der Wirtschaft und der Rechtsprechung. Die an-erkannten Nicht-Muslime bezeichnete die osmanische Verwaltung als dhimmī (türk. zimmi/skr. auch zimija), geschützte Untertanen oder Schutzbefohlene. Ih-nen wurden bestimmte Rechte zugestanden wie der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit, des Besitzes und des religiösen Kultes. Im Ge-gensatz zu den muslimischen Untertanen des Reiches zahlten sie an den osma-nischen Staat eine Kopfsteuer (cizye). Das Recht, nicht-muslimische Gottes häuser

18 Ducellier, Alain: Balkan powers. Albania, Serbia and Bulgaria (1200–1300). In: Shepard, Jonathan (Hg.): The Cambridge history of the Byzantine Empire c. 500–1492. Cambridge 2008, 779–802.

19 Runciman, Steven: The Great Church in captivity. A study of the Patriarchate of Con-stantinople from the eve of the Turkish conquest to the Greek war of independence. Cam-bridge 1968, 165–185.

20 Vgl. Barkey, Karen: Empire of difference. The Ottomans in comparative perspective.

Cambridge 2008, 11–14.

Orthodoxe Kirche und orthodoxer Glauben 45 zu erneuern oder zu errichten, war im Osmanischen Reich eingeschränkt. Es war aber auch nicht grundsätzlich verboten, Kirchen und Synagogen zu bauen. Ab-hängig von der Region, der Zeit und der Loyalitätsvermutung gegenüber einer bestimmten Glaubensgemeinschaft wurden stark unterschiedliche Herrschafts-praktiken gegenüber Nicht-Muslimen angewandt.21 So war die rechtliche Pra-xis im Osmanischen Reich oft toleranter, teils aber auch restriktiver als die gül-tige Rechtsnorm, weswegen man häufig von einem fluiden Verwaltungsapparat im Osmanischen Reich spricht.22 Dauerhaft versuchte das Osmanische Reich je-doch die christlichen und jüdischen Religionsverwaltungen in seine Herrschafts-strukturen zu integrieren. In regionalen und lokalen Kontexten gelang dies oft besser als reichsübergreifend im Zentrum. Beispielsweise hatten die orthodoxen Kirchenverwaltungen Steuern und Abgaben unter ihren Gläubigen einzunehmen und dem Staat abzuführen. Hierfür gewährte die osmanische Verwaltung den Religionsorganisationen Autonomie in inneren religiösen, familienrechtlichen und karitativen Belangen. Häufig wird für diese Herrschaftspraxis, die auf einer administrativen Integration und Autonomie der Nicht-Muslime basierte, pau-schal die Bezeichnung millet-System verwendet. Dem heterogenen, wandelbaren Osmanischen Reich wird man dabei keineswegs gerecht, da der Begriff impli-ziert, dass die imperiale Verwaltung hochgradig heterogener Gebiete und Be-völkerungsgruppen über fünfhundert Jahre einem Grundprinzip gefolgt sei.23

21 Vgl. Reinkowski, Maurus: Die Dinge der Ordnung. Eine vergleichende Untersuchung über die osmanische Reformpolitik im 19. Jahrhundert. München 2005, 18.

22 Vgl. Krämer, Gudrun: Moving out of place. Minorities in Middle Eastern urban so-cieties, 1800–1914. In: Sluglett, Peter (Hg.): The urban social history of the Middle East.

1750–1950. Syracuse, N. Y. 2008, 182–223, hier 190; Nielsen, Jørgen S.: Religion, ethnicity and contested nationhood in the former Ottoman space. Leiden 2012, 50. Zum Begriff des fluiden Verwaltungsapparats: Philliou, Christine May: Biography of an empire. Governing Ottomans in an age of revolution. Berkeley u. a. 2011, 6 f.

23 Der Begriff millet war bis ins 19. Jahrhundert hochgradig unpräzise. Diverse Sprach- und Religionsgemeinschaften bezeichnete man im Osmanischen Reich als millet, wobei je-weils unterschiedliche Rechtsprivilegien damit verbunden waren. Auch Muslime galten als millet. Erst im frühen 19. Jahrhundert erlangte millet in etwa die Bedeutung einer rechtlich geschützten, nicht-muslimischen Glaubensgemeinschaft innerhalb des Reiches. Der Kern der modernen, säkular intendierten Reformen der tanzimat-Zeit ab den späten 1830er Jah-ren bestand genau in der Aufhebung jener hierarchischen Einteilung der Gesellschaft in Glaubensgemeinschaften.

Zum sogenannten millet-System vgl. Braude, Benjamin: Foundation myths of the millet system. In: Ders./Lewis, Bernard (Hg.): Christians and Jews in the Ottoman empire. The functioning of a plural society. New York 1982, 69–88; Kursar, Vjeran: Non-muslim communal divisions and identities in the early modern Ottoman balkans and the millet system theory. In:

Baramova, Maria/Mitev, Plamen/Parvev, Ivan/Racheva, Vania (Hg.): Power and influence in South-Eastern Europe. 16th–19th century. Berlin 2013, 97–108; Adanır, Fikret: Religious com-munities and ethnic groups under imperial sway. Ottoman and Habsburg lands in comparison.

In: Hoerder, Dirk/Harzig, Christiane (Hg.): The historical practice of diversity. Transcultural interactions from the early modern Mediterranean to the postcolonial world. New York 2003,

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befand sich das Osmanische Reich seit Jahr-zehnten in der Krise. Den Staat belasteten eine Reihe verlorener Kriege, schwache Finanzen, eine rückständige Wirtschaft, zentrifugale Kräfte von Regionalver-waltungen, die sich in zahlreichen, nicht nur christlichen Aufständen entluden.

Mit Montenegro, Serbien und Griechenland gingen zu Beginn des Jahrhunderts mit Unterstützung der europäischen Mächte weitere Gebiete für das Reich ver-loren. Dem setzte das osmanische Zentrum von 1839 bis 1876 eine Reihe mo-derner Reformen entgegen, die sogenannten tanzimat-Reformen (Neuordnung).

Diese zielten auf einen säkularen, monarchisch strukturierten und effektiven Zentralstaat, der über die Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften eine ge-sellschaftliche Modernisierung nach westlichem Vorbild erreichen als auch die Loyalität seiner heterogenen Bevölkerung verbessern wollte. In diesem Zuge wurden seit den 1850er Jahren Verwaltung, Justiz und Militär spürbar zentrali-siert und säkularizentrali-siert. Eine häufige Begleiterscheinung der Gleichstellung

Diese zielten auf einen säkularen, monarchisch strukturierten und effektiven Zentralstaat, der über die Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften eine ge-sellschaftliche Modernisierung nach westlichem Vorbild erreichen als auch die Loyalität seiner heterogenen Bevölkerung verbessern wollte. In diesem Zuge wurden seit den 1850er Jahren Verwaltung, Justiz und Militär spürbar zentrali-siert und säkularizentrali-siert. Eine häufige Begleiterscheinung der Gleichstellung

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