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Albrecht, Stefan; Malír, Jirí; Melville, Ralph (Hrsg.): Die „sudetendeutsche Geschichtsschrei-bung“ 1918-1960. Zur Vorgeschichte und Grün-dung der Historischen Kommission der Sudeten-länder. München: Oldenbourg Wissenschaftsver-lag 2008. ISBN: 978-3-486-58374-8; 301 S.

Rezensiert von: Karel Hruza, Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien, Institut für Mittelalterforschung

Das Buch versammelt die „Vorträge der Tagung der Historischen Kommission für die böhmischen Länder (vormals: der Sudetenländer) in Brünn vom 1. bis 2. Oktober 2004 aus Anlass ihres fünf-zigjährigen Bestehens“ und dokumentiert einen selbstreflexiven Läuterungsprozess der durch ihre Geschichte und ihren Namen „belasteten“ Kom-mission. Neben der kritischen historischen Auf-arbeitung der eigenen Geschichte stand für die Kommission gemäß dem Vorwort ihres damaligen Obmanns Ralph Melville auch die Positionierung in der Wissenschaft und letztlich in der interna-tionalen Öffentlichkeit auf der Tagesordnung: Im Jahr 2000 war die „Historische Kommission der Sudetenländer e.V.“ in „Historische Kommission für die böhmischen Länder e.V.“ umbenannt und gleichzeitig der Beschluss gefasst worden, den so genannten „Traditionsparagrafen“ der Vereinssat-zung einer Prüfung zu unterziehen. Der Paragraf nahm nämlich Bezug auf Institutionen und Verei-ne, die in den 1930er- und 1940er-Jahren bis zu ih-rem Ende 1945 mehrheitlich von nationalsozialis-tisch orientierten Mitgliedern beherrscht und auch von der Politik nutzbar gemacht wurden.1 Nach dem Vorliegen der Tagungsergebnisse wurde 2007 beschlossen, in der Satzung auf die Nennung der Institutionen und Vereine zu verzichten.

In der Tagung sollten diese Institutionen und Vereine, aber auch die Gründungsmitglieder der Kommission wissenschaftsgeschichtlich porträ-tiert werden: Ihr „wissenschaftliches Werk sowie

1„Der Verein steht in der Tradition der früheren Deutschen Akademie der Wissenschaften in Prag, namentlich ihrer His-torischen Kommission, der Sudetendeutschen Anstalt für Landes- und Volksforschung in Reichenberg und ihrer Kom-mission für Geschichte, sowie der deutschen Geschichtsver-eine von Böhmen und Mähren-Schlesien.“

ihre weltanschaulich-politische(n) Orientierung“

standen im Mittelpunkt (S. X). Da die Kommission 1954 aus 40 Mitgliedern gebildet wurde und viel-fach Vorarbeiten zu diesen Personen ebenso wie zu den Institutionen und Vereinen fehlten, konn-te nur ein Ausschnitt des umfassenden Vorhabens verwirklicht werden. Die im vorliegenden Band behandelten Themen lassen sich grob in vier Grup-pen gliedern: Institutionengeschichte, Biografien, Disziplinengeschichte, Verhaltensmuster.

Als schwierig dürften sich die biografiege-schichtlichen Arbeiten erwiesen haben. Zwar wa-ren von den Gründungsmitgliedern einige vor 1945 nicht in Böhmen und Mähren tätig und fie-len aus dem Untersuchungsraster, aber es gelang trotzdem nur neun Personen abzuhandeln. Dabei ist die Einreihung Bertold Bretholz’ (†1936) un-ter eine „sudetendeutsche Geschichtsschreibung“

nicht unproblematisch, und Wilhelm Wostry, ei-ner der zentralen Historiker eiei-ner deutschböhmi-schen/sudetendeutschen Geschichtswissenschaft, starb bereits 1951. Dass letztlich andere zentrale Figuren wie Anton Ernstberger, Eugen Lemberg, Kurt Oberdorffer, Bruno Schier, Rudolf Schreiber, Ernst Schwarz oder Heinz Zatschek fehlen, ist zu bedauern. Unter den Institutionen fehlt die Prager Deutsche Akademie der Wissenschaften, während etwa der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen in dem Porträt seines Obmanns Wostry behandelt wird. Nimmt man jedoch Abstand von dem, was erreicht werden sollte oder könnte, bie-tet das Buch fast durchgehend sehr wertvolle und anregende Beiträge!

Im einleitenden Beitrag „Zu den Anfängen der Historischen Kommission der Sudetenländer“ (S.

1-9) skizziert Stephan Dolezel kritisch Entste-hung, Ziele und erste Arbeiten der Kommissi-on, die gemäß ihrer Satzung von 1954 „im Sinne des Völkerverständigungsgedankens und der Tole-ranz“ die „wissenschaftliche Erforschung der Su-detengebiete“ angehen wollte. Im Zuge der Bil-dung der Kommission wurde auch darauf verzich-tet, bis 1945 im „Protektorat Böhmen und Mäh-ren“ und im „Sudetengau“ existierende Institutio-nen und Vereine wiederzubeleben. Die Kommis-sion konnte den Großteil der geisteswissenschaft-lichen sudetendeutschen Elite versammeln, wobei nach der politischen Tätigkeit der Mitglieder vor

S. Albrecht u.a. (Hrsg.): Die „sudetendeutsche Geschichtsschreibung“ 2008-2-206

1945 nicht gefragt wurde. Mag man da und dort beharrlich an alten Geschichtsauffassungen festge-halten haben, so konnte sich die Kommission in der demokratischen BRD längerfristig nicht einer Öffnung zur (gesamten) tschechischen Geschich-te unGeschich-ter InGeschich-tegration tschechischer Lehrmeinungen verschließen. Ein weiteres institutionengeschicht-liches Thema bietet Ota Konrád mit „Die Sudeten-deutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung 1940-1945: ‚Wissenschaftliche Gründlichkeit und völkische Verpflichtung’“ (S. 71-95). Die in Rei-chenberg (Liberec) angesiedelte außeruniversitäre Anstalt wird von ihm auf Grundlage archivalischer Quellen überzeugend beschrieben und ihre auch ausgeprägt auf politischen Zielsetzungen und ei-nem weit gespannten Netzwerk beruhende Bedeu-tung innerhalb der sudetendeutschen Geschichts-wissenschaft dargelegt. In der „praktischen Um-setzbarkeit [. . . ] der Erkenntnisse der Geisteswis-senschaften für politische Zwecke“ erblickt Kon-rád „geradezu die Existenzberechtigung der An-stalt“. Die Anstalt sollte etwa eine zehnbändi-ge Quellenedition zum „Volkstumskampf“ in den

„Sudetenländern“ herausgeben und helfen, den

„tschechischen Geschichtsmythos“ zu liquidieren.

Konrád verweist auch auf das „hohe Maß(es) an personeller Kontinuität zwischen der Reichenber-ger Anstalt und den wichtigsten wissenschaft-lichen Institutionen der Sudetendeutschen nach 1945“, deren Auswirkungen noch genauer zu un-tersuchen wären. Nicht zutreffend ist jedoch die Feststellung: „Für die deutschen Wissenschaften in den böhmischen Ländern spielte nach 1938/39 auch die Tatsache [sic!] eine besondere Rolle, dass die zielgerichtete Forschung an der deutschen Uni-versität in Prag in Folge ihrer Gleichschaltung, die schon im Herbst 1938 einsetzte, durch tiefgreifen-de Veräntiefgreifen-derungen im Lehrkörper und durch die Ungewissheit über ihre künftige Ausrichtung min-destens bis 1942 fast gänzlich lahmgelegt wur-de. Daher übernahmen zwei [. . . ] Forschungsein-richtungen [. . . ] – die Reichenberger Anstalt und die 1942 gegründete Reinhard-Heydrich-Stiftung in Prag – im Großen und Ganzen die Forschungs-rolle der Universität.“ Eine „zielgerichtete For-schung“ wurde nämlich erst mit der Gleichschal-tung konzeptionell auf den Plan gebracht und soll-te eben durch einen Umbau des Lehrkörpers über-haupt ermöglicht werden. Die Reinhard-Heydrich-Stiftung konnte bekanntlich erst im Sommer 1943 ihre Tätigkeit aufnehmen und hat nur noch we-nige schriftliche „Forschungs“-Ergebnisse

vorle-gen können. Zudem muss beachtet werden, dass die Anstalt und die Stiftung zuvorderst mit Uni-versitätsangehörigen besetzt wurden und so Über-schneidungen bzw. Schnittmengen entstanden. Die aus dem Postulat Konráds ableitbare Frage, wo, wann und von wem welche geisteswissenschaft-lichen Forschungen geleistet wurden, ist freilich höchst interessant und bedarf einer eingehenden Antwort.

Die biografischen Beiträge eröffnet Zdeˇnka Sto-klásková mit „’Stets ein guter und zuverlässi-ger Deutschmährer’. Zur Laufbahn von Bertold Bretholz (1862-1936)“ (S. 25-41). Der Mährer Bretholz, von deutschjüdischer Abstammung, war während seiner Karriere ungeachtet seiner großen Leistungen als Historiker und Archivar in Mäh-ren immer wieder mit Antisemitismus konfron-tiert, wandte sich schließlich der jüdischen Ge-schichte zu und verübte 1936 wahrscheinlich Selbstmord. Seine Frau starb 1942 in Theresien-stadt (Terezín). Reto Heinzel untersucht in „Von der Volkstumswissenschaft zum Konstanzer Ar-beitskreis. Theodor Mayer und die interdiszipli-näre deutsche Gemeinschaftsforschung“ (S. 43-59) einen aufschlussreichen Aspekt aus der er-eignisreichen Laufbahn des Mediävisten Mayer und zeigt auf, wie stark der von diesem 1951 begründete „Konstanzer Arbeitskreis für mittel-alterliche Geschichte“ auf sein Wirken während der 1920er- bis 1930er-Jahre, also noch vor sei-ner Leitungsfunktion insei-nerhalb des „Kriegseinsat-zes der Geisteswissenschaften“, zurückgriff. All-gemein resümiert Heinzel, dass man bei der Histo-risierung damaliger Forschungsergebnisse „nicht darum herumkommt, die konkreten Wechselwir-kungen zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und den außerwissenschaftlichen Anschauungen und Überzeugungen eines Historikers zu erforschen“.

Diesem Postulat wird Thomas Krzenck mit „Wil-helm Weizsäcker – Ein Gelehrter zwischen Schuld und Verstrickung“ (S. 97-112) nicht gerecht. We-der gelingt Krzenck eine schlüssige Positionierung Weizsäckers als Wissenschaftler noch vermag er diesen in seiner Partizipation am NS-Regime ein-zuordnen und dabei „Schuld und Verstrickung“ zu problematisieren. Das überrascht insofern nicht, als der Autor nicht konsequent auf Archivmate-rial zurückgegriffen hat und weit hinter den nur etwas älteren Arbeiten von Joachim Bahlcke und Karel Hruza verbleibt. Fragwürdig wird Krzencks Vorgehen allerdings dann, wenn er mit handwerk-lich unsauberem Zitieren Kollegen unberechtigte

Meinungen zuweisen will (S. 98, 111f.). Jiˇrí Nˇe-mec betritt Neuland mit „Eduard Winter und sein Prager Kreis“ (S. 113-125) und zeigt den Einfluss des selbst noch verhältnismäßig jungen Winter auf Gruppierungen der deutschen katholischen Jugend (so der „Staffelsteiner“) in den 1930er-Jahren in der ˇCSR. Winter war etwa mit Rudolf Schrei-ber, Eugen Lemberg, Josef Hemmerle oder Pau-lus Sladek gut bekannt. Die Pläne eines friedlichen deutschnationalen Wirkens im katholischen Sinn fanden 1938 ihr abruptes Ende. Nina Lohmann widmet sich in „’Heimat und Volk’. Der Historiker Wilhelm Wostry zwischen deutschböhmischer und sudetendeutscher Geschichtsschreibung“ (S. 128-149) vor allem der wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit und der Positionierung Wostrys an der Prager Deutschen Universität und im von ihm jah-relang geleiteten Verein für Geschichte der Deut-schen in Böhmen. Diskussionswürdig ist Loh-manns Feststellung, dass sich nach 1939 „der stets loyale Staatsbeamte Wostry [. . . ] willig instrumen-talisieren“ ließ und als „’williger Helfer’ des NS-Regimes bezeichnet“ werden kann. Mirek Nˇemec porträtiert in „Emil Lehmann und Anton Altrich-ter – Zwei deutsche Erzieher aus der Tschechoslo-wakei“ (S. 152-166) zwei bisher kaum erforschte Personen. Der Germanist, Gymnasiallehrer, Hei-matforscher und „Volksbildner“ Lehmann gehör-te seit 1918 der DNSAP an, arbeigehör-tegehör-te mit Erich Gierach in Reichenberg in der „Anstalt für su-detendeutsche Heimatforschung“, wirkte aktiv für deutsche Volksbildung und im „Volkstumskampf“.

Er floh 1936 als fanatischer Nationalsozialist aus der ˇCSR, um in Dresden zu arbeiten. Altrichter, Heimatforscher und Historiker, lehrte jahrelang an Gymnasien in Mähren und war zuvorderst als Päd-agoge tätig. Als Historiker betonte (bzw. erfand) er ein „Mährertum“, in das er die tschechisch-und die deutschsprachige Bevölkerung integrierte, schloss sich aber auch der nationalsozialistischen Ideologie an. Andreas Wiedemann untersucht in

„Karl Valentin Müller – Ein Rassenhygieniker im Dienste der Volkstumspolitik“ (S. 167-182) den mittlerweile bekanntesten sudetendeutschen „So-zialanthropologen“, der seine „Forschungen“ be-wusst als politikberatend verstand und diese zu-letzt vor allem in der Reinhard-Heydrich-Stiftung erarbeiten wollte. Dass die Dimension seiner Ar-beiten und Planungen in der BRD der Nachkriegs-zeit nicht thematisiert wurde, überrascht indes we-nig. Stefan Albrecht porträtiert in „Helmut Preidel – Zwischen deutscher und tschechischer

Archäo-logie“ (S. 201-217) einen nicht leicht zu veror-tenden sudetendeutschen Prähistoriker, der haupt-beruflich als Gymnasiallehrer arbeitete, politisch eher liberal eingestellt war und gute Kontakte zu tschechischen Kollegen unterhielt. 1939 von den Deutschen zwangspensioniert, kooperierte er den-noch eng mit Fritz Valjavec zusammen und konnte weiterhin publizieren. In der Nachkriegszeit war er Mitglied sudetendeutscher Organisationen in der BRD und genoss und genießt auch in Tschechien Anerkennung.

Ein Thema der Disziplinengeschichte behan-delt Miroslav Kunštát mit „’Sudetendeutsche’ Kir-chengeschichte an der Theologischen Fakultät der ehemaligen Deutschen Universität in Prag“ (S.

61-70) und bietet Material zum Wirken August Naegles, Eduard Winters, Augustin Kurt Hubers und anderer Theologen. Martin Zückert verfolgt in „Die Volkskunde als Nachbardisziplin der ‚su-detendeutschen’ Geschichtsschreibung. Gegensei-tige Beeinflussung und parallele Forschungsinter-essen“ (S. 183-199) Aspekte der Disziplin wie das Verhältnis zur „Volksgeschichte“ und liefert zu-gleich einen Beitrag zu den Biografien der späte-ren Kommissionsmitglieder Josef Hanika und Bru-no Schier.

Ein kleines Lexikon von erheblichem Wert bil-den die „Biogramme der Mitglieder der Histori-schen Kommission der Sudetenländer im Grün-dungsjahr 1954“ (S. 219-276), die von K. Erik Franzen und Helena Peˇrinová erarbeitet wurden und für manche Person die primäre Informations-basis darstellen. Zu erwähnen sind zuletzt die her-vorragenden Register (Personen, Orte, Institutio-nen) der Buches.

Was bietet das Buch? Bis auf eine Ausnahme überzeugende wissenschafts-, institutionen- und biografiegeschichtliche Beiträge, die einige we-sentliche Bereiche der Vorgeschichte der Kommis-sion analysieren. Eine Fortführung der Arbeiten ist sehr wünschenswert, denn der eingeschlage-ne Weg, Institutioeingeschlage-nen, Disziplieingeschlage-nen und Protagonis-ten einer bestimmProtagonis-ten wissenschaftlichen Produk-tion nebeneinander und auch überschneidend zu untersuchen, führt letztlich zu einem umfassenden Ergebnis.2

2Hinzuweisen ist auch auf die Sammelbände: Lemberg,Hans (Hrsg.), Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Ge-schichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 86, München 2003); Brenner, Christiane; Franzen, K. Erik; Haslinger, Pe-ter; Luft, Robert (Hrsg.), Geschichtsschreibung zu den böh-mischen Ländern im 20. Jahrhundert.

Wissenschaftstraditio-W. Gruner (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden 2008-2-158

HistLit 2008-2-206 / Karel Hruza über Albrecht, Stefan; Malír, Jirí; Melville, Ralph (Hrsg.):Die

„sudetendeutsche Geschichtsschreibung“ 1918-1960. Zur Vorgeschichte und Gründung der Histo-rischen Kommission der Sudetenländer. München 2008. In: H-Soz-u-Kult 30.06.2008.

Aly, Götz; Gruner, Wolf; Heim, Susanne; Herbert, Ulrich; Kreikamp, Hans-Dieter; Möller, Horst;

Pohl, Dieter; Weber, Hartmut (Hrsg.): Die Ver-folgung und Ermordung der europäischen Ju-den durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Bd. 1: Deutsches Reich 1933-1937, be-arb. von Wolf Gruner. München: Oldenbourg Wis-senschaftsverlag 2008. ISBN: 978-3486584806;

811 S.

Rezensiert von:Susanne Willems, Geschichtsbü-ro Berlin

Eine Auswahl von 320 Dokumenten legt der Her-ausgeberkreis mit dem ersten Band der Edition zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden vor. Die in den kommenden zehn Jahren zu komplettierende 16-bändige Edition wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft langfris-tig finanziert und findet Unterstützung durch in-und ausländische Archive. Den vorliegenden Band zum Deutschen Reich 1933-1937 hat Wolf Gruner eingeleitet, der als Bearbeiter auch die Recherche sowie die Kommentierung der Dokumente verant-wortet. Gudrun Schroeter, wissenschaftliche Pro-jektmitarbeiterin und neun studentische und wis-senschaftliche Hilfskräfte (Romina Becker, Giles Bennet, Natascha Butzke, Florian Danecke, Ulri-ke Heikaus, Ivonne Meybohm, Titus Milosevic, Remigius Stachowiak und Elisabeth Weber) ha-ben zur Entstehung des Bands beigetragen. Die Dokumentenedition ist eine Dienstleistung für al-le, die sich künftig anhand schriftlicher oder ver-schriftlichter Quellen mit der Geschichte des Völ-kermords an den europäischen Juden während der Nazizeit auseinandersetzen wollen.

Die Edition macht bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte der Judenver-folgung in der NS-Zeit den Rückgriff auf ande-re Spezialeditionen nicht entbehrlich, sei dies von Polizei- oder Sopade-Berichten, von Regierungs-, Partei-, Militär-, Kirchen- oder Nachkriegspro-nen – InstitutioNachkriegspro-nen – Diskurse (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 28, München 2006).

zessakten. Auch ersetzt sie nicht die früheren Do-kumentationen, die – wie die Herausgeber im Vorwort bemerken – als thematisch übergreifende Sammlungen unter Gesichtspunkten der pädago-gischen Wirkung konzipiert sind oder politisch-thematische Schwerpunkte setzen. Ihrerseits ver-zichten die Herausgeber innerhalb der einzelnen Bände auf thematische Bündelungen, weil sie „in-terpretierende und dramatisierende Abfolgen ver-meiden“ (S. 7) wollen. Sie stellen die mit größ-ter Sorgfalt kommentierten Quellen ungekürzt zur Interpretation bereit, ohne zu verkennen, dass die Auswahl der Dokumente Ausdruck ihres derzei-tigen Wissensstands ist. Aufgenommen werden in aller Regel nur zeitgenössische, ab 1933 in Deutschland, ansonsten ab 1938 und bis zur Be-freiung vom Faschismus 1945 entstandene Quel-len. Einen Überblick zu der anspruchsvollen Ge-samtedition, zu den Kriterien der Quellenauswahl und zur politisch-territorialen Gliederung der Rei-he hat Dieter Pohl 2005 in den VierteljahrsRei-heften für Zeitgeschichte gegeben und dabei die zeitli-chen, geographischen und sachlichen Abgrenzun-gen der Bände geAbgrenzun-geneinander und verbleibende Kompromisse und Ausnahmen von den selbstge-setzten Editionsregeln erläutert.1

Der vorliegende Band, zu zitieren als VEJ 1, ist der erste von fünf Bänden zur Judenverfolgung in Deutschland, Österreich und der Tschechoslo-wakei (für den Zeitraum 1938 bis August 1939 folgt auch unter dem Titel Deutsches Reich VEJ 2, Deutsches Reich und Protektorat heißen die Bän-de VEJ 3 bis September 1941, VEJ 6 bis Juni 1943 und VEJ 11 bis 1945). Weitere vier Bän-de behanBän-deln die Verelendung und Ermordung Bän-der polnischen Juden unter dem jeweiligen deutschen Okkupationsregime und die Vernichtung der de-portierten europäischen Juden (jeweils unter dem Haupttitel Polen drei Bände, VEJ 4: September 1939 bis Juli 1941, VEJ 9: Generalgouvernement August 1941 bis 1945 und VEJ 10: eingeglieder-te Gebieeingeglieder-te August 1941 bis 1945; der die Editi-on abschließende Band VEJ 16: Das KZ Ausch-witz und die Zeit der Todesmärsche). Zwei Bände dokumentieren die Massenvernichtung der Juden nach dem Überfall auf die Sowjetunion (VEJ 7 und VEJ 8: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I und II). Zwei weitere Bände werden dem Schick-sal der Juden unter deutscher Herrschaft in

West-1Pohl, Dieter, Die Verfolgung und Ermordung der europäi-schen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Ein neues Editionsprojekt, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4/2005, S. 651-659.

und Nordeuropa gewidmet sein (VEJ 5: 1940 bis Juni 1942, VEJ 12: Juli 1942 bis 1945). Drei Ein-zelbände vervollständigen die Edition mit der Do-kumentation der Judenverfolgung unter deutscher Hegemonie in den abhängigen Staaten Slowakei, Rumänien und Bulgarien (VEJ 13: 1939 bis 1945), im okkupierten Südost- und Südeuropa (VEJ 14:

1941 bis 1945) und speziell in Ungarn (VEJ 15:

1944 bis 1945).

Für die Dokumentation der deutschen Politik des Völkermords an den europäischen Juden mes-sen die Herausgeber den jeweiligen politischen Regimen der Unterwerfung und damaligen admi-nistrativen Grenzen infolge der deutschen Aggres-sion, des Kriegs und der Okkupation mehr Rele-vanz zu, als den international anerkannten Gren-zen der damaligen Völkerrechtssubjekte. Das Vor-gehen ist mit Blick auf die Periodisierung der Ge-schichte des Völkermords an den Juden plausibel – und politisch vertretbar, weil die länderspezifische Dokumentenedition „Europa unterm Hakenkreuz.

Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus (1938-1945)“ bereits vollständig vorliegt.2

Wolf Gruner gibt mit der Einleitung, die 34 der Dokumente einbindet, einen Überblick über die historischen Voraussetzungen der nazistischen Ju-denverfolgung in Deutschland, die er als Aufhe-bung der politischen und wirtschaftlichen Emanzi-pation der Juden durch eine reaktionäre Politik be-greift, die Juden schrittweise entrechtete: Ihnen ab 1933 durch Berufsverbote den Zugang zum öffent-lichen Dienst verweigerte, sie durch die Nürnber-ger Rassegesetze 1935 zu BürNürnber-gern zweiter Klasse degradierte, und deren seit dem Aprilboykott 1933 angegriffene wirtschaftliche Existenz in Deutsch-land sie im Jahr 1938 vollends zerstörte.

Die Quellen sind – mit begründeten Ausnahmen – in chronologischer Reihenfolge ihrer Entstehung abgedruckt. Weder die Verzeichnisse und Register des 48-seitigen Anhangs, noch das – von diesen nicht erschlossene – auf 14 Druckseiten dem Do-kumententeil vorangestellte Verzeichnis der Doku-mententitel erlauben eine Orientierung über den Inhalt des Bands. Dadurch ist die als

„Nachschla-2Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus (1938-1945). Achtbändige Dokumen-tenedition, hrsg. von einem Kollegium unter Leitung von Wolfgang Schumann und Ludwig Nestler, Bände 1 bis 5, Berlin 1988 bis 1991, Band 6, hrsg. vom Bundesarchiv, bear-beitet und eingeleitet von Martin Seckendorf, Band 7, hrsg.

vom Bundesarchiv, bearbeitet und eingeleitet von Fritz Pe-trick, Band 8 (= Ergänzungsbände 1 und 2) zusammenge-stellt und eingeleitet von Werner Röhr, Berlin und Heidelberg 1992 bis 1996.

gewerk“ und „Schriftdenkmal“ empfohlene Editi-on gegen die Verwendung in KompositiEditi-onen vEditi-on Wissensschnipseln gesperrt und, wer Aufklärung sucht, auf den zeitaufwendigen Weg der quellen-kritischen Aneignung einzelner Dokumente ver-wiesen. Deshalb sei die erschwerte Nutzbarkeit dieses Gebrauchsgegenstands hingenommen.

Zur Struktur der wissenschaftlich fundierten Dokumentenauswahl gehört die von den Heraus-gebern gesetzte Parität der Quellenherkunft, die keine gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse abbil-den oder historische Zeugnisse gewichten will:

Den Hauptkorpus bilden Dokumente der Verfol-ger, denen in möglichst großem Umfang solche der Verfolgten gegenübergestellt werden. Den wenigs-ten Platz nehmen Schriftstücke der weder als Täter noch als Opfer am historischen Prozess Beteiligten ein. Angestrebt ist eine exemplarische Vielfalt der Art schriftlicher Quellen und der zeitgenössischen Reaktionen auf die Judenverfolgung.

Für den Zeitraum 1933 bis 1937, für den Jo-seph Walk 1031 behördliche Diskriminierungen gegen Juden rubriziert hat3, versammelt VEJ 1 von den Schreibtischen der Verfolger fast 200 Doku-mente, von denen 16 Gesetze und reichsweit gel-tende Erlasse sind. Die größte Gruppe sind die mehr als 60 internen amtlichen Schreiben und Ver-merke, davon sechs aus Kanzleien der NSDAP, 15 von Gestapo und SD und ansonsten mehrheit-lich Vorlagen, Stellungnahmen und Berichte aus Reichsministerien. 32 Dokumente stammen aus

Für den Zeitraum 1933 bis 1937, für den Jo-seph Walk 1031 behördliche Diskriminierungen gegen Juden rubriziert hat3, versammelt VEJ 1 von den Schreibtischen der Verfolger fast 200 Doku-mente, von denen 16 Gesetze und reichsweit gel-tende Erlasse sind. Die größte Gruppe sind die mehr als 60 internen amtlichen Schreiben und Ver-merke, davon sechs aus Kanzleien der NSDAP, 15 von Gestapo und SD und ansonsten mehrheit-lich Vorlagen, Stellungnahmen und Berichte aus Reichsministerien. 32 Dokumente stammen aus