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Carl, Gesine: Zwischen zwei Welten? Übertritte von Juden zum Christentum im Spiegel von Kon-versionserzählungen des 17. und 18. Jahrhunderts.

Hannover: Wehrhahn Verlag 2007. ISBN: 978-3-86525-069-8; 572 S.

Rezensiert von: Heike Bock, Institut für Ge-schichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Konversionen im Sinne individueller Glaubens-wechsel haben sich in den letzten Jahren zu ei-nem populären Untersuchungsobjekt der Frühneu-zeitforschung entwickelt.1Das wachsende Interes-se an religiöInteres-sen Grenzgängern und -überschreitern speist sich dabei auch aus einer kulturwissen-schaftlichen Neigung zu Grenzbereichen und Grauzonen, zu Uneindeutigem und schwer Kate-gorisierbarem, deren Bedeutung für vormoderne Glaubenswelten (wieder-)entdeckt wird, nachdem solche Phänomene durch Forschungsrichtungen wie die Konfessionalisierungsforschung aus dem Blick geraten waren. Das derzeitige Forschungs-interesse an Konversionen sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei forma-len Glaubenswechseln in der Frühen Neuzeit um ein – in Relation zu Bevölkerungszahlen – selte-nes Phänomen handelte, insbesondere im Fall von Übertritten von Juden zum Christentum. Entspre-chend ihrer Seltenheit erregten solche Fälle aber oft über den lokalen Raum hinausgehende Auf-merksamkeit.

Gesine Carl widmet sich in ihrer Saarbrücker Dissertation der faszinierenden Gattung der früh-neuzeitlichen Konversionsberichte, bei denen der Grat zwischen individueller Gestaltung und topi-scher, (kontrovers-)theologisch bestimmter narra-tiver Gestaltung oft sehr schmal ist, was den Histo-riker vor die methodische Herausforderung stellt, das eine vom anderen zu scheiden und gleichzeitig die Frage aufwirft, ob eine solche Trennung nicht vielleicht auch anachronistisch sein kann.

1Vgl. nur: Lotz-Heumann, Ute; Mißfelder, Jan-Friedrich;

Pohlig, Matthias (Hrsg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2007; Siebenhüner, Kim, Glau-benswechsel in der Frühen Neuzeit. Chancen und Tendenzen einer historischen Konversionsforschung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 34 (2007), S. 243-272.

Dieser Herausforderung stellt sich Gesine Carl sehr gründlich. In ihrer bewusst im Grenzgebiet zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft angesiedelten Studie zu Erzählungen über Konver-sionen von Juden zum Christentum im mitteleuro-päischen Raum wendet sie konsequent die „Me-thode der Lektüre ‚zwischen den Zeilen‘“ (S. 538) an. Sie bezieht sich auf die einschlägigen Publika-tionen in diesem Bereich2und stellt ihrer Untersu-chung eine differenzierte Auseinandersetzung mit wichtigen theoretischen Arbeiten der Religionsso-ziologie und -psychologie voran (William James, John Lofland, Rodney Stark, David A. Snow, Ri-chard Machalek, Lewis R. Rambo, Thomas Luck-mann, Bernd Ulmer, Franz Wiesberger, Monika Wohlrab-Sahr).

Die Hauptfragen der Studie betreffen die Ver-ankerung der Konvertiten in mehreren Bezie-hungsnetzwerken, die Wahrnehmung der Glau-benswechsel durch die Betroffenen selbst ebenso wie durch ihre jüdischen und christlichen Zeitge-nossen und schließlich die Etablierung der Kon-vertiten in ihrer neuen Beziehungswelt. Die Arbeit gliedert sich in zwei große Teile: Im ersten Teil (S.

78-237) werden 35 Erzählungen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, durch die sich die Konversionen von 41 Personen erschließen lassen, systematisch nach verschiedenen Analysekategorien ausgewer-tet. Dem wird im zweiten Teil (S. 238-526) eine extensive Fallstudie des Konvertiten Christian Sa-lomon Duitsch (1734-1795) gegenübergestellt und nach analogen Kriterien analysiert. Das im ersten Teil ausgewertete Quellenkorpus lässt sich noch einmal unterscheiden in Autobiographien – also Selbstzeugnisse – und Biographien über Konver-titen, die zumeist von den deren Lehrern und Kon-versionsbegleitern abgefasst wurden. Obwohl Carl diese beiden Quellentypen, die doch recht unter-schiedliche Sichtweisen auf einen Glaubensüber-tritt vermuten lassen, im einzelnen stets mitbe-denkt, geht die Unterscheidung in der Fülle der ausgewerteten Details manchmal unter; hier

wä-2Graf, Johannes (Hrsg.), Judaeus conversus. Christlich-jüdische Konvertitenautobiographien des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1997; Carlebach, Elisha, Divided Souls.

Jewish Converts from Judaism in Germany, 1500-1750; New Haven 2001; Braden, Jutta; Ries, Rotraud (Hrsg.), Juden – Christen – Juden-Christen. Konversionen in der Frühen Neu-zeit, in: Aschkenas 15 (2005), S. 257-433.

re eine systematischere Berücksichtigung hilfreich gewesen.

Sehr sorgfältig und mit Gespür für Zwischentö-ne analysiert Carl ihr Quellenkorpus, wobei sie zu-nächst die geographische und zeitliche Verteilung der Konversionsfälle, die Altersstruktur und die so-zialen Hintergründe der 32 Konvertiten und 9 Kon-vertitinnen erörtert. Es folgen detaillierte Auswer-tungen der Darstellung des Konversionsprozesses (Auslöser der Auseinandersetzung mit dem Chris-tentum, Weg zur Entscheidung, Taufunterricht und Taufe, ggf. Namenwechsel), des Lebens nach der Taufe, der Reaktionen von Juden auf die Taufe, der Begegnungen mit Christen und der Kontakte zu anderen Konvertiten. Die Ausführungen wer-den abgerundet durch eine Analyse der Adressa-ten, Schreibmotive und Textgestaltung der Konver-sionserzählungen.

Auf fast 300 Seiten wird dann exemplarisch und akribisch der lange und konfliktreiche Konver-sionsprozess des Christian Salomon Duitsch an-hand seiner zweibändigen, sehr erfolgreichen Au-tobiographie (Amsterdam 1768 und 1771) analy-siert. In dieser stellt der im ungarischen Temes-war geborene ehemalige Rabbiner in literarisch talentierter, dramatischer und emotionaler Spra-che seine Odyssee durch halb Europa dar, die 1767 mit der Taufe in Amsterdam endete und 1777 zur Übernahme der reformierten Pfarrei Mi-jdrecht führte. Duitschs lebendige Darstellung sei-ner Lebensgeschichte, die von den Leitmotiven der Wüstenwanderung und der göttlichen Lenkung strukturiert wird, gewährt ungewöhnliche Einbli-cke in das zerrissene Gefühls- und Seelenleben ei-nes Geistlichen auf dem Weg zum Glaubenswech-sel. Der (kommerzielle) Erfolg seiner Konversi-onserzählung weist auch darauf hin, dass hier ein Konvertit sehr nah am Puls einer Zeit zu schrei-ben verstand, in der Empfindsamkeit, Schwärme-rei und eine psychologisch sensible Selbstdarstel-lung hoch geschätzt wurden, wie sie ihren wir-kungsvollsten Ausdruck in den „Confessions“ des (Konvertiten) Jean-Jacques Rousseau fanden. Die-se Verbindungslinie wird von Gesine Carl nicht ge-zogen, doch thematisiert sie ähnlich gelagerte Ein-flüsse pietistischen Schreibens auf Duitschs Auto-biographie.

Allgemein mag der Leser eine stärkere Histo-risierung der Befunde vermissen. Welche inhalt-lichen, argumentativen und narrativen Elemente, die Carl gewissenhaft herausarbeitet, wurden nur zu der jeweiligen Entstehungszeit der

Konversi-onserzählungen angewandt, bei welchen handelt es sich um längerfristig gebräuchliche Bestandteile und warum? Um hier eine Orientierung zu erlan-gen, hätten vorhandene historische Vergleichsstu-dien herangezogen werden können.3Auch in der Auseinandersetzung mit den modernen Konversi-onstheorien – bei der Carl zu der nicht ganz über-raschenden Schlussfolgerung kommt, dass sich ei-nige Aspekte auf ihr Quellenkorpus anwenden las-sen, einige gar nicht und andere wiederum teilwei-se – wäre eine stärkere historische Kontextualisie-rung wünschenswert gewesen. Vielleicht ist dem-nächst die Zeit reif, sich an einer die spezifischen Rahmenbedingungen berücksichtigenden ‚vormo-dernen Konversionstheorie‘ zu versuchen?

Weiterhin lässt sich fragen, inwiefern Carls Er-gebnisse spezifisch für Übertritte vom Judentum zum Christentum gelten. Forschungen zu inner-christlichen Konversionen zeigen auf, dass viele Elemente, die Carl als charakteristisch für die Le-benssituation eines Konvertiten in seiner Stellung

„zwischen zwei Welten“ identifizieren kann, auch für Konfessionswechsler jener Zeit galten: die Dar-stellung der Konversionsmotive und des Konversi-onsprozesses, das von vielen Seiten entgegen ge-brachte Misstrauen, die Erfahrung von Fremdheit und sozialer Isolation, die Abhängigkeit von Gön-nern und finanzieller Unterstützung, die Integrati-onsschwierigkeiten u.a.4Ist es im übrigen ein Zu-fall, dass von Carls 42 untersuchten Konversions-fällen 35 zum Luthertum, drei zum Reformierten-tum und nur einer zum Katholizismus stattfanden (bei drei unklaren Fällen)? Lassen sich hier Zu-sammenhänge zwischen der angenommenen Kon-fession, der Zahl tatsächlich erfolgter Glaubens-übertritte und einer schriftlichen Auseinanderset-zung mit diesem Schritt konstatieren? Welche Ein-flüsse überwogen bei der Abfassung eines Konver-sionsberichts hinsichtlich Motivation, Adressaten

3Vgl. z.B.: Fredriksen, Paula, Paul and Augustine: Conversion Narratives, Orthodox Traditions, and the Retrospective Self, in: Journal of Theological Studies 37 (1986), S. 3-34; Riley, Patrick, Character and conversion in autobiography: Augus-tine, Montaigne, Descartes, Rousseau and Sartre, Charlottes-ville 2004; Hindmarsh, Bruce D., The evangelical conversion narrative: Spiritual autobiography in early modern England, Oxford 2005.

4Vgl. hierzu: Bock, Heike, Konversionen in der frühneuzeitli-chen Eidgenossenschaft. Ein Vergleich von Zürich und Lu-zern, Diss. Univ. Luzern 2007; dies., Konversion: Motive, Argumente und Normen. Zur Selbstdarstellung von Prosely-ten in Zürcher BittschrifProsely-ten des 17. und 18. Jahrhunderts, in:

Kaufmann, Thomas; Schubert, Anselm; von Greyerz; Kas-par (Hrsg.), Frühneuzeitliche Konfessionskulturen, Güters-loh 2008, S. 153-174 .

A. Cooper: Inventing the Indigenous 2008-2-037

und Narration: die des ursprünglichen Glaubens des Konvertiten oder dessen, zu dem er übertrat?

Die Autorin bedient sich durchgängig einer li-terarisch ambitionierten Sprache, von der man fin-den mag, dass sie sich gelegentlich zu sehr der me-taphernreichen Sprache des untersuchten Quellen-korpus annähert. Auch geraten ihre Ausführungen zuweilen etwas weitschweifig, so dass eine kür-zende Straffung dem Buch nicht geschadet hätte.

Schließlich sei eine formale Anmerkung gestat-tet: Vermutlich wegen Platzmangels sind die vie-len längeren und langen Quelvie-lenausschnitte in sehr kleiner Schriftgröße abgedruckt, wodurch die er-müdenden Augen zum Überspringen verführt wer-den – was schade ist, verbirgt sich doch gerade hier

‚im Kleingedruckten‘ so mancher Schatz.

Gesine Carl liefert mit ihrer profunden Ar-beit wichtige Erkenntnisse und Impulse nicht nur für die Konversions- und Selbstzeugnisforschung, sondern auch für die Geschichte der Emotionen im Zeitalter der Aufklärung. Mit ihrer Fülle an detail-lierten Ergebnissen regt sie weiterführende Fragen an, die die historische Konversionsforschung auf-greifen kann.

HistLit 2008-2-099 / Heike Bock über Carl, Gesi-ne:Zwischen zwei Welten? Übertritte von Juden zum Christentum im Spiegel von Konversionser-zählungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Hannover 2007. In: H-Soz-u-Kult 08.05.2008.

Cooper, Alix: Inventing the Indigenous. Local Knowledge and Natural History in Early Modern Europe. Cambridge: Cambridge University Press 2007. ISBN: 978-0-521-87087-0; 232 S.

Rezensiert von:Markus Friedrich, Historisches Seminar, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

In den letzten Jahren wurde die Wissensgeschich-te in einen globalen Bezugsrahmen gesWissensgeschich-tellt. Der Zusammenhang von Wissen und Globalisierung wird in beiden Richtungen thematisiert, sowohl hinsichtlich des Einflusses europäischen Wissens auf Prozesse der Expansion wie andersherum mit Bezug auf die Rückwirkungen globaler Vernetzun-gen auf den europäischen Wissenshaushalt. Die Geschichte der frühneuzeitlichen Wissenschaften im Besonderen – seien es Biologie oder Astrono-mie, Ethnographie oder Menschheitsgeschichte –

ist heute ohne diese globale Dimension kaum mehr vorstellbar. Das Wissen der Europäer, so ließe sich dies zusammenfassen, veränderte sich wesentlich durch das Interesse am – oder die Gier nach dem – Besitz und Verstehen des ‚Fremden‘. Konsumge-schichtlich, wissenschaftsgeschichtlich oder kul-turgeschichtlich ausgerichtete Arbeiten variieren dieses Thema jeweils entsprechend.

Nun also der Gegenschlag – oder zumindest die Ergänzung zu dieser so stark auf die globa-le Dimension abhebenden Forschung. Alix Cooper kennt die skizzierte Forschungstradition genau und benutzt sie doch in erster Linie als ein Gegen-über, vor der die eigene These erst richtig an-schaulich wird: Die Frühe Neuzeit kenne nicht nur die angedeutete gierige Öffnung hin zu Neu-em und ExotischNeu-em, sondern, nur wenig zeitver-setzt, auch eine neuartige und intensive Hinwen-dung zum ‚Nahen‘. Drei Wissensbereiche werden in diesem Buch besonders herangezogen, um dies zu demonstrieren. Die entstehenden Traditionen einer ‚lokalen Botanik‘, einer ‚lokalen Mineralo-gie‘ und einer ‚lokalen‘ bzw. ‚regionalen‘ Naturge-schichte mit breiterem Themenschwerpunkt (Ka-pitel 2-4). Dass diese (und verschiedene andere, en passant erwähnte) Sachgebiete eine systema-tische Schwerpunktverlagerung hin zum Lokalen als zentralem Gegenstand wissenschaftlicher Un-ternehmungen erfahren haben, glaubt man Cooper am Ende des gut lesbaren Buches ohne Widerre-de. Die angeführten Autoren und Texte sind zwar wenig bekannt, ihre schiere Zahl aber erhärtet die These. Prägnante Zitate belegen das Bemühen die-ser Autoren, eine neue, andersartige Tradition zu begründen. Cooper ist in den modernen Techni-ken der Wissensgeschichte geschult, rekonstruiert werden nicht nur die verhandelten Wissensbestän-de, sondern auch die verschiedenen zugehörigen Literaturgattungen, ihre Entstehungsprozesse, so-zialen Einbettungen und politischen Kontexte. Ge-rade durch letztere, so eine wesentliche These, unterschieden sich die ‚regionalen Naturgeschich-ten‘ des englischen, des schweizerischen und deut-schen des Zuschnitts untereinander (vor allem Ka-pitel 4).

Diese grundlegende Einsicht wird in den Ka-piteln des Buches freilich eher durchdekliniert als systematisch analysiert. Sicher, der Abschnitt über die Universität Altdorf (hier fehlt allerdings das wichtige universitätsgeschichtliche Werk von Wolfgang Mährle) illustriert anschaulich, wie die Professoren mit und ohne Studenten durch die

Landschaft streiften und nach ‚lokalen‘ Pflan-zen Ausschau hielten. Hier finden sich auch auf-schlussreiche Bemerkungen zum Zusammenhang lokaler universitärer Wissensproduktion und städ-tischer Identität. Sicher, die Relektüre der Würz-burger Fossilienfälschungen rückt diese in einen ganz neuen Kontext. Doch all dies ist letztlich nur das Ausschreiben der grundlegenden und sehr ver-dienstvollen Beobachtung, dass es eben diese loka-lisierende Tradition in der frühneuzeitlichen Wis-sensgeschichte gegeben und dass sich diese Tra-dition eines ‚lokalen‘, ‚indigenen‘ Bezugsrahmens von Wissensakquise zuerst in Europa selbst entwi-ckelt habe, ganz entgegen den heutigen Assozia-tionen zum Begriff des „Indigenen“.

Eine analytische Durchdringung dieser neuar-tigen Faszination am ‚Hier‘ statt am ‚Dort‘ fehlt jedoch. Entsprechend dürftig – man kann es lei-der kaum anlei-ders sagen – ist im ersten Kapitel lei-der Umgang mit den zeitgenössischen Begriffsdicho-tomien, die zuallererst ermöglichen, die vor der Haustür liegenden Pflanzen, Steine etc. als eigen-ständiges Betätigungsfeld, eben als das ‚Lokale‘

abzugrenzen. Eine genaue Semantik der verschie-denen Begrifflichkeiten und Gegensatzpaare sucht man vergebens – welchen originalsprachigen Be-griff übersetzt etwa Coopers TitelbeBe-griff ‚indige-nous‘ und wodurch unterschied sich dessen Ge-brauch von anderen Terminologien? Wenig hilf-reich ist es in diesem Zusammenhang, dass Zitate nur in modernem Englisch erscheinen (vor allem S. 32f.). Sollte dies den Vorgaben des Verlages ge-schuldet sein, wäre es umso bedauerlicher.

Das Material, das Cooper bringt, ist außeror-dentlich reichhaltig. Mit immer neuen Zitaten be-legt Cooper, welche Dichotomien zwischen dem

‚Hier‘ und dem ‚Dort‘ aufgemacht wurden, dass man sich im Namen des ‚Nahen‘ sozial ebenso wie medizinisch und auf viele andere Weisen positio-nieren konnte. „[The] polarities served as a tool for unraveling identity“ (S. 28): Das wird man ohne Weiteres glauben – doch man wüsste gerne genau-er, weshalb dies ein zentrales Anliegen wurde und vor allem würde man gerne erfahren, wieso dazu in der Frühen Neuzeit gerade die Kategorie des ‚Lo-kalen‘ plötzlich hilfreich geworden war. Zur analy-tischen Schwäche passt, dass – dies wäre wohl der erste Kandidat für eine erklärende Herangehens-weise – die so intensiv beschriebene Faszination für das Lokale nur in sehr oberflächlicher Weise zu den Globalisierungsphänomenen der Frühen Neu-zeit in Relation gesetzt wird. Wie und weshalb das

‚Ferne‘ das ‚Nahe‘ hervortreibt oder akzentuiert (bzw. umgekehrt), dass und wie beide Kategorien doch letztlich immer aufeinander verwiesen sind, wird hier kaum thematisiert (allenfalls S. 40). Das führt letztlich auch dazu, dass eine umfassendere Bewertung dieser ‚Erfindung des Lokalen‘ kaum stattfindet – handelte es sich um einen echten Ge-genschlag oder eher eine Ergänzung? Wie fand ein methodischer Austausch zwischen beiden Berei-chen der Wissensgeschichte statt? Cooper konsta-tiert immer wieder en passant, dass kaum ein Autor dezidiert ‚lokaler‘ Werke ganz ohne den Blick über den eigenen Tellerrand auskam – was aber bedeu-tete dies für das Konzept des ‚Lokalen‘?

Der Hinweis darauf, was in einem Buch noch hätte enthalten sein können, ist normalerweise das schwächste Argument des Rezensenten. Und ge-rade in seiner prägnanten Kürze dokumentiert das Buch kraftvoll, was es sich zu zeigen vorgenom-men hat: es gab in der Frühen Neuzeit eine inten-sive Faszination für das Lokale. Dennoch sollen hier zwei Lücken benannt werden, deren Schlie-ßung der analytischen Schwäche des Buches kon-zeptionell hätte abhelfen können. Beide Aspekte werden von Cooper nur nebenbei erwähnt: Wieso fehlt eine Auseinandersetzung mit der patria, wie-so ist der Antiquarianismus – gerade für die deut-schen Territorien – ausgeblendet? Wenngleich bei-des – im Unterschied zur lokalen Botanik und Mi-neralogie – vergleichsweise bekanntere Untersu-chungsgegenstände gewesen wären, so hätte gera-de gera-der Antiquarianismus eine wichtige Ergänzung etwa zur Naturgeschichte Niedersachsens bieten können. Ohne die Rolle der Botanik oder Minera-logie für die Identitätsbildung ‚vor Ort‘ schmälern zu wollen, wäre ihr spezifischer Beitrag – in Ab-grenzung zum Faible für exotische Pflanzen – wohl gerade im Abgleich mit antiquarischer Selbsterfin-dung deutlicher sichtbar geworden. Zumindest hät-ten Antiquarianismus und Lokalgeschichtsschrei-bung eine bereits stärker ausgearbeitete Heuristik zur Verfügung gestellt, um das Ansteigen des In-teresses für das Lokale zu analysieren und histo-risch besser zu verorten.

Alles in allem bleibt am Ende der Eindruck, dass dieses Buch eine außerordentlich wichtige und korrigierende Einsicht vehement vorträgt, ohne freilich dieser Erkenntnis analytisch und konzep-tionell schon angemessen auf den Grund zu gehen:

Die Frühe Neuzeit war nicht nur mit dem Exo-tischen und Fremden konfrontiert, sondern auch in neuartiger Weise mit dem Lokalen; das

Wis-J. Ellis: American Creation 2008-2-193

sen wurde nicht nur revolutioniert durch das, was man vor ‚1492‘ noch nicht kennen konnte, son-dern auch durch das, was man ‚übersehen‘ hatte.

Nicht nur die Gier nach Fremden, sondern auch die Faszination mit dem Bekannten begann den vor-modernen Wissenshaushalt zu prägen. Warum dies geschah, wie dieses ‚nahe Fremde‘ konzeptionali-siert wurde und vor allem welche Konsequenz dies hatte – dies sind Fragen, die sich am Ende dieser Studie stellen, aber noch der Antwort harren.

HistLit 2008-2-037 / Markus Friedrich über Cooper, Alix: Inventing the Indigenous. Local Knowledge and Natural History in Early Mo-dern Europe. Cambridge 2007. In: H-Soz-u-Kult 14.04.2008.

Ellis, Joseph J.: American Creation. Triumphs and Tragedies at the Founding of the Republic.

New York: Knopf Publishing 2007. ISBN: 978-0-307-26369-8; 283 S.

Rezensiert von:Thomas Wollschläger, Deutsche Nationalbibliothek

Joseph Ellis ist einer der produktivsten US-amerikanischen Historiker zum Bereich der Grün-derzeit der Vereinigten Staaten. Als Ford Founda-tion Professor für Geschichte am Mount Holyo-ke College in South Hadley, Massachusetts (USA) hat er sowohl eine Reihe von Einzelbiographien zu den ersten amerikanischen Präsidenten vorge-legt (namentlich Washington, Adams und Jeffer-son), als auch die Gründergeneration der jungen Nation als solche in prägnanten Vergleichsstudien untersucht1. Dabei gelingt es Ellis in jedem seiner Werke – und das neueste stellt darin keine Aus-nahme dar –, eine gleichzeitig präzise und wissen-schaftlich sehr umfassend referenzierende Darstel-lung mit einem sehr lesbaren Erzählstil zu verbin-den. „[A] narrative is the highest form of historical analysis“, beschreibt Ellis selbst seine Vorgehens-weise (Vorwort, S. X). Daraus ergibt sich fast fol-gerichtig eine erneut sehr lesenswerte Studie.

In „American Creation“ (Die Schöpfung Ame-rikas) beschreibt Ellis eine Auswahl von Ereignis-sen beziehungsweise Abläufen, die seiner Ansicht

1Siehe hierzu insbesondere seine preisgekrönte Studie: Foun-ding brothers. The Revolutionary Generation, New York (Knopf) 2000. Dt. Ausgabe u.d.T.: Sie schufen Amerika. Die Gründergeneration von John Adams bis George Washington, München (Beck) 2002.

nach die Gründungszeit der USA wesentlich ge-prägt und die Grundlage für alle weiteren Entwick-lungen gelegt haben. Die Auswahl dieser Ereignis-se ist dabei (fast) nicht überraschend. Es handelt sich um das Jahr 1775/76 („The Year“), das Win-terlager von Valley Forge 1777/78 („The Winter“), die Verfassungsdebatte von 1786-88 („The Argu-ment“), den Grundlagenvertrag mit den amerikani-schen Ureinwohnern von 1789/90 („The Treaty“), die Herausbildung des Systems politischer Partei-en zwischPartei-en 1790 und 1796 („The Conspiracy“) sowie den Erwerb des französischen Louisiana-Territoriums 1803 („The Purchase“). Das Lager von Valley Forge und die Verfassungsdebatte dürf-ten die bekanntesdürf-ten und meist-diskutierdürf-ten Er-eignisse sein, der Vertrag mit den Ureinwohnern2 dagegen die vielleicht unerwartetste Diskussion.

nach die Gründungszeit der USA wesentlich ge-prägt und die Grundlage für alle weiteren Entwick-lungen gelegt haben. Die Auswahl dieser Ereignis-se ist dabei (fast) nicht überraschend. Es handelt sich um das Jahr 1775/76 („The Year“), das Win-terlager von Valley Forge 1777/78 („The Winter“), die Verfassungsdebatte von 1786-88 („The Argu-ment“), den Grundlagenvertrag mit den amerikani-schen Ureinwohnern von 1789/90 („The Treaty“), die Herausbildung des Systems politischer Partei-en zwischPartei-en 1790 und 1796 („The Conspiracy“) sowie den Erwerb des französischen Louisiana-Territoriums 1803 („The Purchase“). Das Lager von Valley Forge und die Verfassungsdebatte dürf-ten die bekanntesdürf-ten und meist-diskutierdürf-ten Er-eignisse sein, der Vertrag mit den Ureinwohnern2 dagegen die vielleicht unerwartetste Diskussion.