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Argast, Regula: Staatsbürgerschaft und Nation.

Ausschliessungs- und Integrationsprozesse in der Schweiz 1848-1928. Göttingen: Vandenhoeck &

Ruprecht 2006. ISBN: 978-3-525-35155-0; 379 S.

Rezensiert von:Christian Geulen, Institut für Ge-schichte, Universität Koblenz-Landau

Unter Bürgerrecht versteht man üblicherweise die Summe der Rechte des Einzelnen in einem politi-schen Gemeinwesen. Erst wenn man vom Staats-bürgerrecht spricht, wird auch die Frage relevant, wer eigentlich Anrecht auf diese Rechte haben soll. In der Schweiz ist das ein bisschen anders.

Wenn hier – wie etwa seit den 1990er-Jahren in immer neuen Anläufen – das Bürgerrecht debat-tiert wird, dann stehen nicht so sehr individuel-le Freiheits- und Partizipationsrechte im Vorder-grund. Auf diese können die Schweizer vielmehr in einer sehr viel länger zurückreichenden Konti-nuität als etwa die Deutschen vertrauen – und seit 1971 auch die Schweizerinnen. Nein, wenn hier das Bürgerrecht thematisiert wird, dann geht es um das, was andernorts Staatsangehörigkeitsrecht heißt; es geht um die Frage, wer das Recht hat, die bürgerlichen Rechte, Pflichten und Freiheiten wahrzunehmen, wer also volles Mitglied des poli-tischen Gemeinwesens sein soll – und wer nicht.

Bei der Gründung des Bundesstaats 1848 wurde dieses Recht zum ersten Mal formuliert und eben hier entschied man sich bewusst dafür, von Bür-gerrecht und nicht von Staatsangehörigkeit zu re-den, ein Begriff, der damals zu sehr an das preu-ßische Untertanen-Modell erinnerte. Entsprechend verstand man unter Bürgerrecht tendenziell auch mehr als in Deutschland unter Staatsangehörigkeit, nämlich nicht nur formale Zugehörigkeit, sondern – wenn auch in verschiedenen Phasen der Ge-schichte unterschiedlich stark betont – ebenso die bürgerlichen Rechte und Pflichten, die mit der Par-tizipation am übergreifenden Gemeinwesen ein-hergehen. Zugleich aber wurde die formale – aber grundlegende – Frage, wer überhaupt das Recht haben soll, diese staatsbürgerlichen Rechte in An-spruch zu nehmen, 1848 vom gerade erst gegrün-deten Bundesstaat weg und in die Kantone und Ge-meinden verlagert. Mit anderen Worten: Die bür-gerlichen Rechte wurden nationalisiert, die Frage

der Zugehörigkeit föderalisiert.

In groben Zügen ist das die Ausgangsposi-tion der überzeugenden Studie von Regula Ar-gast über „Staatsbürgerschaft und Nation: Aus-schließung und Integration in der Schweiz 1848-1933.” Sie zeichnet sich vor allem dadurch aus, das Problem der Staatsbürgerschaft (dies der Bür-gerrechte und Staatsangehörigkeit übergreifende, an ’citizenship’ angelehnte Name des Gesamt-phänomens) nicht nur in seinen rechtlichen und politisch-theoretischen Dimensionen zu entfalten, sondern am Beispiel der Schweiz als „Faktor und Produkt“ konkreter Formen des herrschaftlichen Handelns und der bürgerlichen Partizipation selbst deutlich zu machen. Große Teile der Forschung zu diesem Problemfeld tendieren dazu, die ver-schiedenen Modelle und Regelungen der Staats-bürgerschaft, die die Geschichte hervorgebracht hat, komparativ zu analysieren, um dann nach dem richtigen oder angemessenen Modell zu fragen.

Argast dagegen konzentriert auf den Prozess der historischen Herausbildung und Veränderung von Staatsbürgerschaft und macht damit die geschicht-liche Tiefendimension eines Phänomens deutlich, das politisch fast immer auf der Ebene von Prinzi-pien diskutiert wird.

So sieht Argast im Schweizer Fall aus jener ambivalenten Regelung von 1848 eine „doppel-te Deutung“ des dreistufig geglieder„doppel-ten Bürger-rechts (Gemeinde, Kanton, Bundesstaat) erwach-sen: Auf der Gemeindeebene und eng verknüpft mit der sehr viel älteren Tradition des schweize-rischen Armenrechts hielt sich ein frühmodernes, deutlich republikanisches Verständnis politischer Herrschaft als patriarchale und souveräne Lenkung überschaubarer Gemeinschaften durch sich selbst, während auf Kantons- und Bundesstaatsebene ein von Argast mit Foucault „gouvernemental“ ge-nannter Liberalismus vorherrschte, der sich an der regierenden Steuerung der Bevölkerung durch die Gewährung von Freiheiten und Freiräumen der Selbstentfaltung orientierte. Dadurch wurde die Frage des Bürgerrechts langfristig zu einem Ob-jekt des ständigen Aushandelns nicht nur zwischen der kommunalen und der nationalen Ebene, son-dern ebenso zwischen zwei verschiedenen Auffas-sungen politischer Herrschaft – was zur langen Ge-schichte des kommunalen Widerstands gegen

bun-R. Argast: Staatsbürgerschaft und Nation 2008-2-176

desstaatliche Initiativen der Modernisierung des Bürgerrechts führte. So ist etwa die Einführung ei-ner modernen am Prinzip des ’ius soli’ orientierten Staatsbürgerschaftsregelung an eben diesem Kon-flikt immer wieder gescheitert oder wurde verwäs-sert.

Einer von vielen Schritten in dieser Entwick-lung, die Argast genau rekonstruiert, war die Ver-fassungsrevision von 1903, in welcher der Bundes-staat in klassisch gouvernementaler Manier ver-suchte, die Kohäsion des schweizerischen Staats-volks durch die verstärkte Einbürgerung im Land lebender Ausländer zu erhöhen, indem er den Kan-tonen und Gemeinden die Einführung des ’ius so-li’ freistellte. Diese aber machten so gut wie kei-nen Gebrach davon und der Bundessaat hatte ein wesentliches Instrument der zentralisierten Rege-lung von Zugehörigkeit gleichsam umsonst aus der Hand gegeben. Hinzu kam, dass die intendier-te Erleichintendier-terung der Inintendier-tegration zugleich mit ei-ner – ebenfalls typisch gouvernementalen – Prü-fung der individuellen Eignung einhergehen sollte, was in den folgenden, von Überfremdungsängsten geprägten Jahrzehnten auf Gemeinde- und Kan-tonsebene faktisch zu radikalisierten Ausschluss-praktiken führte. Noch wichtiger für diese Ent-wicklung aber war der Erste Weltkrieg, mit dem ein Abschied von der zumindest bundesstaatlich bis dahin liberal orientierten Integrationspolitik einherging und einen deutlichen Anstieg kultur-protektionistischer, fremdenfeindlicher und natio-nalistischer Positionen nach sich zog. Exklusion, Assimilationsdruck und das verbreitete Selbstver-ständnis, ein ganz besonderes Volk und vor al-lem: kein Einwanderungsland zu sein, herrschten jetzt vor. Zu einer breitenwirksamen Biologisie-rung und RassisieBiologisie-rung des nationalen Selbstver-ständnisses ist es aber – laut Argast aufgrund der ethnisch-kulturellen Heterogenität der Schweiz – nicht gekommen.

Auch wenn die hier implizierte These, dass bio-logistische Umdeutungen der Nation ein Mindest-maß an vorgängiger Homogenität voraussetzen, problematisch erscheint, leuchtet Argasts Befund ein, dass im Falle der Schweiz die Verwebung der nationalen Diskurse mit den gegebenen Struktu-ren und Traditionen der Multikulturalität und des Föderalismus zu stark war, als dass sich Ideolo-geme wie die eines ’homo helveticus’ langfris-tig hätten durchsetzen können. Zumindest auf die Bürgerrechtsdebatten hatten sie zwar einen radi-kalisierenden, aber keinen strukturell

transformie-renden Einfluss. Offener bleibt demgegenüber die Frage nach der Funktion der in allen Phasen wie selbstverständlich aufrecht erhaltenen Exklusion der Frauen von zentralen politischen Bürgerrech-ten. Argast setzt auch hier anfänglich auf Foucaults Konzept der Gouvernementalität als einer Form des Regierens nicht von Untertanen, sondern ei-ner lebendigen, arbeitenden und sich reproduzie-renden Bevölkerung. Dies scheint aber eine deut-liche Integration auch und sogar gerade der Frau-en nötig zu machFrau-en, derFrau-en prinzipieller Ausschluss aber in der Schweiz so wenig hinterfragt wurde, dass Argast hier eine deutliche Grenze der Erklä-rungskraft des Foucaultschen Konzepts sieht.

Eine alternative These wird hier leider nicht for-muliert. Zwar analysiert Argast die Motive und Ursachen der strukturellen Exklusion von Frau-en, fragt aber selten umgekehrt nach der funk-tionalen Rolle dieser Exklusion in der Entwick-lungsgeschichte des Bürgerrechts. Dabei sind die systematische Dezentralisierung der Bürgerrechts-politik einerseits und der außergewöhnlich lange Ausschluss der Frauen von der politischen Partizi-pation andererseits eben die Momente, durch die sich der Schweizer Fall von anderen abhebt. Hier drängt sich die Frage auf, ob die basale Binnenex-klusion entlang der Geschlechtergrenzen mögli-cherweise entscheidend dazu beitrug, das Pro-blem der Staatsangehörigkeit gouvernemental ei-nem multiplen und prinzipiell offenen Verhand-lungsraum überantworten zu können, ohne damit die Einheit des Staatsvolks wirklich aufs Spiel zu setzen.

Dies sind aber nur Spekulationen, zu denen Ar-gast durch die Vielschichtigkeit ihrer Argumenta-tion in fruchtbarer Weise einlädt. Überhaupt be-sticht das Buch durch die so riskante wie sorgfälti-ge Verschränkung einer erstaunlichen Vielzahl un-terschiedlichster Perspektiven. Nach einer fundier-ten theoretischen Einführung in die Staatsbürger-schaftproblematik, einer Darstellung der wesentli-chen Kontinuitätslinien in der Schweizer Entwick-lung und einem Kapitel, das die Frage nach der Na-tion und naNa-tionalen Vorstellungswelten als ergän-zende und zugleich quer zur Rechts- und Institutio-nengeschichte liegende Untersuchungsachse ein-führt, folgen die drei Hauptkapitel, in denen Argast chronologisch und zugleich systematisch die Ent-wicklung des Schweizer Bürgerrechts rekonstru-iert, von 1848 (im Falle des Kantons- und Gemein-debürgerrechts von 1833) bis 1933. Die grundle-gend erneuerte Bundesverfassung von 1874 und

der Erste Weltkrieg bilden dabei die entscheiden-den Zäsuren. Konkret entwickelt Argast ihre The-sen an einem dichten und kohärenten Quellenkor-pus, den sie unter anderem in den drei so unter-schiedlichen wie repräsentativen Kantonen bzw.

Gemeinden von Zürich, Basel und Einsiedeln ge-sammelt hat. Die Analyse einzelner Fälle von Ein-bürgerungsanträgen macht die verschiedenen Ebe-nen deutlich und zugleich plausibel, auf deEbe-nen Ar-gast ihre Argumente entwickelt. Dabei gelingt ihr insbesondere die analytische Abwägung zwischen Faktoren, die bis in die Entstehungsphase des Bür-gerrechts zurückreichen und solchen, die erst ab 1914/18 zu einer „nachträglichen Ethnisierung“

und anderen Formen der Verhärtung des im Prinzip liberalen Bürgerrechts beitrugen. Zugleich bleibt der Gegenwartsbezug fast immer präsent, was die historische Aufklärungsleistung der Studie unter-streicht.

Auch die Einbeziehung von Theoretikern wie Foucault, Habermas und vielen mehr, überzeugt gerade dadurch, dass sie nicht dogmatisch erfolgt.

Nur an manchen Stellen wird dem Leser das Ab-wägen und vorsichtige Ausloten eines „Mittel-wegs“ zwischen Forschungspositionen oder einer alle Aspekte berücksichtigenden Darstellung et-was zuviel, besonders wenn dabei – wie bei Quali-fikationsarbeiten nicht selten – die klare Thesenbil-dung sprachlich wie argumentativ hinter dem Be-mühen um Vorsicht und Umsicht zu verschwinden droht. Insgesamt aber hat Argast eine überzeugen-de analytische Gesamtuntersuchung überzeugen-des Schwei-zer Bürgerrechts bis 1933 vorgelegt, die ihr Thema nicht nur systematisch entfaltet, sondern weitge-hend historisiert. In eben diesem Blick auf die kon-krete geschichtliche Entwicklung wird am Ende verstehbar, warum man sich die Schweiz bis heute mit einer modernen Einbürgerungspolitik schwer tut, und zugleich werden implizit die vergangenen und aktuellen Alternativen deutlich. Weit über den Schweizer Fall hinaus zeigt die Studie aber auch und vor allem, dass Staatsbürgerschaft eben nicht nur eine Frage liberaler Freiheiten und Partizipati-onschancen ist, sondern bis heute – Globalisierung hin oder her – fundamental mit jenem Recht zu-sammenhängt, das schon Hannah Arendt als eine zentrale politische Herausforderung des 20. Jahr-hundert ansah: das Recht, Rechte zu haben.

HistLit 2008-2-176 / Christian Geulen über Ar-gast, Regula: Staatsbürgerschaft und Nation.

Ausschliessungs- und Integrationsprozesse in der

Schweiz 1848-1928. Göttingen 2006. In: H-Soz-u-Kult 16.06.2008.

Becker, Bert: Georg Michaelis. Preußischer Be-amter, Reichskanzler, Christlicher Reformer 1857-1936. Eine Biographie. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag 2007. ISBN: 978-3-506-76381-5; 892 S., 32 Abb.

Rezensiert von: Reinhold Zilch, Arbeits-stelle „Preußen als Kulturstaat“, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Die hier vorzustellende Biographie basiert auf ei-ner Rostocker Habilitationsschrift. Sie zeichnet das Leben eines Spitzenbeamten des spätwilhel-minischen Deutschland nach, der kurzzeitig in höchste Ämter gelangte, dessen Name aber heu-te meist nur noch Spezialisheu-ten zur Geschichheu-te des Ersten Weltkriegs oder zur Kriegsernährungswirt-schaft vertraut ist.

Der 1857 geborene Georg Michaelis begann seine Karriere im preußischen Justizdienst. Nach kurzer Tätigkeit in der Staatsanwaltschaft bekam er 1885 die Chance, als Dozent nach Japan zu gehen und konnte bei der Rückkehr in die Ver-waltungslaufbahn wechseln. Als fleißiger Arbei-ter und sehr fähiger Organisator stieg er über Pos-ten in Regierungs- und Oberpräsidien bis zum Un-terstaatssekretär im preußischen Finanzministeri-um auf. Hierhin war der bis dahin mit Finanz- und Steuerfragen nur wenig vertraute Beamte 1909 von seinem Jugendfreund, dem Finanzminister Georg Freiherr von Rheinbaben, berufen worden. Mi-chaelis arbeitete sich mit großem Elan in die neu-en Aufgabneu-en ein. Ohne Erfahrungneu-en in der Land-und Ernährungswirtschaft zu besitzen, kam er nun mit den deutschen Planungen zur wirtschaftlichen Kriegsvorbereitung in Berührung. Schon bald nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wirkte er beim Aufbau der Kriegsernährungswirtschaft mit und übernahm zentrale Aufgaben an der Spitze der Kriegsgetreidegesellschaft, der Reichsgetrei-destelle bzw. als Reichskommissar für Brotgetrei-de und Mehl sowie als Preußischer Staatskom-missar für Volksernährung. Trotz dieser exponier-ten Ämter war er kein bekannter Politiker, und es war für die breite Öffentlichkeit sehr verwunder-lich, dass er am 14. Juli 1917 zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ernannt wur-de. Politischen Erfolg hatte er nicht: Nach nur 14

B. Becker: Georg Michaelis 2008-2-004

Wochen nahm Michaelis am 1. November den Ab-schied – den Posten als Oberpräsident von Pom-mern gab er im Gefolge der Novemberrevolution zum 1. April 1919 auf und schied endgültig aus dem Staatsdienst aus.

In den verbleibenden knapp 20 Lebensjahren fasste er seine Memoiren1sowie einige Rechtfer-tigungsschriften ab. Außerdem engagierte er sich für die christliche Studentenbewegung, für die Ent-wicklung eines ökologischen Landbaus im Zusam-menhang mit lebensreformerischen Ideen sowie für pietistisch-missionarische Bestrebungen. Da-bei blieb Michaelis immer auch ein politisch han-delnder Zeitgenosse. Er engagierte sich für die Deutschnationale Volkspartei, trat 1930 in die nur kurze Zeit bestehende Konservative Volkspartei ein und schwenkte bereits 1933 zur NSDAP über.

Ein Jahr vor seinem Tod trat er als Vorsitzender des Kircherates der Kirchengemeinde Bad Saarow (bei Berlin) in die Partei ein – „ein unwürdiges Lebens-ende“.2

Diese bisher „vergessene“, widersprüchliche historische Persönlichkeit gleichsam entdeckt zu haben, ist das große Verdienst von Bert Becker. Er hat nicht nur mehr als 30 Archive besucht, sondern auch eine beeindruckende Menge von Quellen-schriften und Sekundärwerken ausgewertet (vgl.

das Literaturverzeichnis S. 827–851). Mit überrei-chem Material wird so der Lebensweg von Georg Michaelis bis in alle seine Verästelungen nachge-zeichnet. Der nicht verwunderliche Umstand, dass für bestimmte Lebensstationen die Quellenlage schlechter ist als für andere, verführt Bert Becker in einigen Fällen dazu, fehlendes biographisches Material durch allgemeine Schilderungen zu erset-zen. So treten an die Stelle von Ausführungen zur individuellen Mitgliedschaft im Studenten-Corps Plavia die typischen Stationen vom Fuxx zum Al-ten Herrn „ganz allgemein“ (S. 46). Hier und in einigen anderen Stellen des „Wälzers“ wäre eine Straffung des Textes durchaus möglich gewesen.

Doch auch solche Passagen, die sich vom Haupt-strang der Lebenserzählung weit entfernen, sind noch gut lesbar.

Insgesamt entwirft Becker ein beeindruckendes, in einzelnen Passagen spannendes Panorama von

1Michaelis, Georg, Für Staat und Volk. Eine Lebensgeschich-te, Berlin 1922.

2Rudolf Morsey in seiner Rezension zum vorliegenden Band

„Fromm und schneidig in der Wilhelmstraße. Der längst vergessene 14-Wochen-Reichskanzler Georg Michaelis war ein tatkräftiger Organisator und erfolgreicher Reformer“, in:

FAZ 257, 5.11.2007, S. 9.

der Lebens- und Arbeitswelt eines Vertreters der so oft beschworenen preußisch-deutschen Beam-tenschaft, über deren kollektives amtliches Wir-ken, also die preußisch-deutsche Politik, wir ziem-lich gut unterrichtet sind, deren individuelle Hand-lungen und Beweggründe jedoch meist im Dun-keln der Geschichte bleiben. Becker kann durch ei-ne erstmalige systematische Auswertung nicht nur der Veröffentlichungen von und über Michaelis, sondern auch der für lange Zeiträume überliefer-ten Notizbücher und vor allem sogenannter Fami-lienrundbriefe ganz wesentliche Einblicke in das Selbstverständnis und die Motive des Protagonis-ten geben. Dies ist umso wichtiger, als der tief-gläubige Michaelis sich bis zum Alter von An-fang/Mitte 40 von der Amtskirche entfernt hat-te. Zusammen mit seiner Frau war er der pie-tistisch geprägten Gemeinschaftsbewegung beige-treten. Der Beamte schied weitgehend aus dem gesellschaftlichen Leben, engagierte sich dafür in missionarisch-sozialen Projekten der „Reich-Gottes-Arbeit“ und suchte in persönlichen Noti-zen sowie in Äußerungen gegenüber engsten Ver-trauten aber auch in den Rundbriefen mit Glau-bensbekenntnissen und Bibelzitaten sein Handeln zu erklären. So sei der letzte Anstoß zur Annah-me der Reichskanzlerschaft durch den Bibelspruch des Tageskalenders der Brüdergemeinde gegeben worden (S. 363). Mag dies einem Atheisten auch befremdlich anmuten, so ist es das Verdienst von Becker, einen tiefen Einblick in die Mentalität ei-nes wichtigen Vertreters der preußisch-deutschen Verwaltungselite der spätwilhelminischen Zeit zu geben und dabei in keiner Weise die Quellenkritik außer Acht gelassen zu haben, indem für die ein-zelnen Lebensstationen „harte Fakten“ von subjek-tiven Wertungen getrennt und aneinander gemes-sen werden.

Ohne detailliert der ausufernden Darstellung Beckers folgen zu wollen, sei darauf verwiesen, dass die Monographie über das Biographische hin-aus auf mehreren Gebieten wichtiges neues, die weitere Forschung anregendes Material bietet. Das gilt erstens für die Ausführungen zur Kriegser-nährungswirtschaft, bei der die enge Verflechtung der Versorgungslage in Deutschland mit der in den okkupierten Territorien und bei den Verbün-deten nicht nur detailreich beschrieben wird, son-dern die aktive Einflussnahme der deutschen Büro-kratie auf die Besatzungsbehörden und die Regie-rungen der auf der Seite Deutschlands kämpfen-den Staaten herausgearbeitet wird (z.B. S. 303ff.,

313ff.). Zweitens beschränkt sich Becker nicht auf eine minutiöse Darstellung der Zeit von Michaelis als Reichskanzler und preußischem Ministerpräsi-denten, sondern schließt umfangreiche Ausführun-gen zur Historiographie über die Friedensresolu-tion des Reichstags und die Friedensbemühungen des Vatikans an. Das geht bis zu den in das Jahr 1979 reichenden Bemühungen des um das Bild seines Vaters in der Geschichtsschreibung kämp-fenden Sohns Wilhelm Michaelis (S. 478). Drit-tens verdienen die Ausführungen zur christlichen Studentenbewegung, die Michaelis als Vorsitzen-der Vorsitzen-der Deutschen Christlichen Studentenvereini-gung von 1913 bis 1917 und dann von 1918 bis 1928 wesentlich prägte, auch dahingehend starke Beachtung, dass sie die zeitweise katastrophale so-ziale Lage der Studierenden nach dem Weltkrieg und die zahlreichen Hilfsprojekte in das Blick-feld wissenschafts- und bildungshistorischer Ar-beiten rücken können. Viertens schließlich erwei-tern die Ausführungen zur sozial- und lebensre-formerischen Tätigkeit nach 1919 die Kenntnisse über die Vorgeschichte des in der Gegenwart so be-deutsamen ökologischen Gedankenguts. Sie bieten Anregungen, bereits in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts begonnene Projekte und Ide-en, die durch Nationalsozialismus, Zweiten Welt-krieg und den Wiederaufbau in beiden deutschen Staaten in Vergessenheit geraten waren, auf ihre heutige Relevanz zu prüfen.

Angesichts des hohen Lobes, das der Studie von Bert Becker zu zollen ist, soll aber nicht ver-schwiegen werden, dass die Benutzung des volu-minösen Bandes leider durch die drucktechnische Gestaltung und Gliederung in zweierlei Hinsicht behindert wird: Erstens zwingt die Trennung des Textes von den Anmerkungen und deren separa-ter Druck (S. 750–803) zum ständigen Umblätsepara-tern.

Zweitens verärgert die Unsitte, auch längere Pas-sagen zum Teil über mehrere Absätze mit nur ei-ner abschließenden Anmerkungsziffer zu versehen und dann in der Endnote in der Regel ohne nähe-re Charakteristik Autonähe-rennamen ohne Buch- oder Aufsatztitel und mit Seitenzahl bzw. oft nur „rei-ne“ Archivsignaturen aufzulisten. Das erschwert die Identifikation von Zitatbelegen und ihre Schei-dung von allgemeinen Quellenverweisen.

HistLit 2008-2-004 / Reinhold Zilch über Be-cker, Bert:Georg Michaelis. Preußischer Beamter, Reichskanzler, Christlicher Reformer 1857-1936.

Eine Biographie. Paderborn 2007. In:

H-Soz-u-Kult 02.04.2008.

Beyer, Burkhard:Vom Tiegelstahl zum Kruppstahl.

Technik- und Unternehmensgeschichte der Guss-stahlfabrik von Friedrich Krupp in der ersten Hälf-te des 19. Jahrhunderts. Essen: KlarHälf-text Verlag

Technik- und Unternehmensgeschichte der Guss-stahlfabrik von Friedrich Krupp in der ersten Hälf-te des 19. Jahrhunderts. Essen: KlarHälf-text Verlag