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Nachkriegszeit – die Rhetorik der Richtungsänderung

1 Der Lehrkörper – eine kollegiale Gemeinschaft

1.3 Nachkriegszeit – die Rhetorik der Richtungsänderung

Die militärische Niederlage Deutschlands führte zu einem radikalen Wandel der die Universität umgebenden und beeinflussenden Institutionen. Die vielfältige Umwelt der Physikinstitute wurde nicht nur durch hinzukommende Bereiche neu strukturiert, auch in den schon vorher existierenden Verwaltungsebenen kam es durch personelle Umbesetzungen zu einer veränderten Umgebung.316 Die Organsiation der Forschung musste neu geregelt werden, eine tragfähige Verbindung zu den nun entscheidenden Instanzen hergestellt werden. Mitchell

314 Auch Rosenow [1987/98] S. 568 argumentiert in dieser Richtung. Siehe dazu auch den Abschnitt 2.2.1. Dort wird auch eine Eingabe von 75 Physikprofessoren ans REM besprochen, in der sie eine Verbindung des

Studentenrückgangs mit einem befürchteten Ausbleiben des Professorennachwuchses konstruierten.

315 Siehe die entsprechende Liste des RFR, Sachbearbeiter Dipl.-Ing. Voos, Stichtag 11. August 1944 sowie Plischkes Schreiben an den Kurator vom 18. September 1944. UAG, Kur. 2018. Zur Aktion Osenberg siehe Federspiel [2002] und Abschnitt 2.2.2.

316 Zur Neuordnung der Verwaltung siehe Schnoor [1986].

Ash spricht in diesem Zusammenhang von einer Neuordnung der Ressourcenkonstellation.317 Eine solche Ressource bildete die Reputation der Universität. Um das Ansehen vor dem neuen Machthaber wiederherzustellen, mussten neue Strategien angewendet werden. Die Rhetorik, mit der das Produkt der Universität, nämlich Forschung und Ausbildung, gepriesen wurde, erfuhr eine deutliche Wandlung. In der Nachkriegsgeschichtsschreibung wurden die diesbezüglichen Äußerungen der Universitätsführungen oft zu wörtlich genommen, und daraus wurde ein Neubeginn für 1945 gefolgert. In welchem Maß die proklamierte Richtungsänderung tatsächlich umgesetzt wurde, wird hier am Beispiel der Physik gezeigt.

Die Literatur zu den deutschen Hochschulen unmittelbar nach 1945 hat gezeigt, dass in dieser politischen Umbruchsphase die lokalen Verhältnisse eine viel entscheidendere Rolle spielten, als es zuvor oder in der späteren Bundesrepublik der Fall war.318 Verschiedene Verläufe in der Hochschulentwicklung gab es aber nicht nur zwischen den vier Besatzungszonen und auf Grund der unterschiedlich starken Zerstörungen durch den Krieg. Es waren auch die einzelnen Kontrolloffiziere, die jeder Universität zugeordnet wurden, die durch ihren großen Entscheidungsspielraum der Entwicklung an jeder Hochschule ein eigenes charakteristisches Gepräge verliehen.319

In dieser Hinsicht waren in Göttingen die Voraussetzung für einen Weiterbetrieb der Universität günstig.320 Sowohl der erste Kontrolloffizier L. H. Sutton wie auch sein Nachfolger Geoffey Bird standen der Universität wohlwollend gegenüber.321 Zusätzlich begünstigend wirkte die geografische und geistige Lage Göttingens, die viele aus dem Osten flüchtende Menschen, darunter auch einige Hochschullehrer, auffing. Schon im Oktober 1945 verkündete der Anglistikprofessor Herbert Schöffler vor den Studenten den zukünftigen Aufstieg seiner Forschungsstätte: „Die Georgia-Augusta steht vor neuer Blüte inmitten eines Erdrutsches. Dadurch, dass alle ihre Fakultäten aus dem Elend aller Zeiten retten, was zu

317 Ash [1995]b.

318 Zur Wissenschaft nach 1945 siehe die Literaturbesprechung in der Einleitung.

319 Die Bedeutung der Kontrolloffiziere, die individuell unterschiedliche Ziele verfolgt und Methoden der Kontrolle angewendet haben, belegt die eindrucksvolle Studie über das Beispiel Heidelberg von Remy [2002].

Siehe auch die Zeitzeugenberichte in Heinemann (Hrsg.) [1990]a, (Hrsg.) [1990]b.

320 Schneider & Dumke [1985]; Thadden [1985]; Brinkmann [1985]b.

321 Zu Suttons Zeit als Universitätskontrolloffizier der Universität Göttingen von Oktober bis Dezember 1945 siehe seinen zeitgenössischen Bericht Sutton [1946/83]. Sein Nachfolger Bird (bis 1951) hat mehrfach über seine Tätigkeit in Göttingen und die britische Haltung zum Wiederaufbau der deutschen Hochschulen berichtet:

Bird [1978], [1981] und [1983]. Auch von Seiten der deutschen Professoren wurde ein wohlwollendes Verständnis der britischen Militärregierung festgestellt. Siehe Rein [1948] S. 230.

retten ist, findet sich eine Fülle der Geistigkeit im Städtchen zusammen, wie sie nur die hohen Zeiten ihrer Vergangenheit aufgewiesen haben.“322

Schöffler täuschte sich nicht mir seiner Prognose. Keine fünf Jahre später wurde rückblickend ein hoher personeller Zuwachs nach 1945 besonders in der Medizinischen und Math.-Nat. kultät festgestellt, der mit Hilfe der zahlreichen Assistentenstellen, über die diese beiden Fa-kultäten verfügten, einigermaßen versorgt werden konnte.323 Die Zeit der Entnazifizierung bescherte der Universität zwar einen zahlenmäßigen Zuwachs an Lehrpersonal, jedoch mussten auch manche ihre Stelle räumen. Insgesamt wurden etwa die Hälfte aller Lehrstühle zwischen 1945 und 1949 neu besetzt; in der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät waren es nur etwa ein Fünftel.324 Die Weichenstellung, die diesen personellen Aufschwung hervorbrachte, erfolgte auf der höchsten Ebene der Universität schon im April 1945. Die Naturwissenschaftler hatten in der Person ihres neu gewählten Dekans Arnold Eucken erheblichen Anteil an dieser Richtungsentscheidung. Im Senat wurde der Rahmen geschaffen, der die Personalentscheidungen in der bewegten Zeit der Entnazifizierung in ihrer Zielsetzung bestimmte. Am Anfang war jede Universität auf sich selbst gestellt; erst allmählich kam es auf den (zuerst nordwestdeutschen) Hochschulkonferenzen zum Abgleich der unterschiedlichen Vorgehensweisen.325

1.3.1 Der neue Senat und das Aufleben alter Ideale

Am Tag nachdem Göttingen von den amerikanischen Truppen eingenommen worden war, traf sich der Senat im Kuratorium zu einer Besprechung, in der die neue Situation in ihrer Bedeutung für die Hochschule diskutiert wurde. Dabei ergaben sich „beträchtliche grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten“. Der zuletzt und immer noch amtierende Rektor Drexler wurde von seinem Amtsvorgänger Plischke angegriffen und fühlte sich offenbar in die Enge gedrängt. Eine Besprechung des amerikanischen Sergant Brown mit Rektor Drexler am selben Tag war zu keinem Ergebnis gekommen. Am folgenden Tag, den 10. April tagte der Senat erneut. Drexler stellte am Vormittag die Vertrauensfrage, die zu einer grundsätzlichen Erörterung führte. Erst am Nachmittag war er bereit, das „nun Opportune“ zu tun, und zwar seine Stelle für einen Nachfolger frei zu machen. Wenn man bedenkt, dass

322 Aus der Rede Herbert Schöfflers an die Göttinger Studenten vom 28. Oktober 1945, abgedruckt in Krönig &

Müller [1990] S. 342-348, hier S. 346.

323 Bollnow [1950] S. 157.

324 Bollnow [1950] S. 157.

325 Heinemann (Hrsg.) [1991]c und [1991]d.

dieser Senat aus dem vom Ministerium eingesetzten Rektor und den von diesem bestimmten Dekanen bestand, so ist man doch überrascht, wie schnell die Zeichen der Zeit erkannt wurden.326

Am 11. April wurde Drexler von der amerikanischen Militärpolizei als Kriegsgefangener fest-genommen. Der Stadtkommandant, Leutnant Sailor, wünschte eine Liste für in Frage kom-mende neue Rektoren, damit nach Streichung ungeeigneter Kandidaten eine Wahl stattfinden konnte. Doch wechselte am 14. April die Leitung der Militärregierung von den Amerikanern zu den Briten, die ihrerseits den Rektor selbst bestimmen wollten. Statt einer vorher angefer-tigten Liste mit acht Namen327 wurde nun eine mit nur zweien eingereicht: Rudolf Smend und Hermann Rein. Smend hatte schon bis dahin die wichtigsten Gespräche mit den Besatzern und dem Oberbürgermeister geführt und wurde nun von der britischen Militärregierung zum Rektor ernannt. Seine Tätigkeit als letzter Kriegsdekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät gereichte ihm nicht zum Schaden. Am 19. April wurden die alten Dekane durch neu gewählte ersetzt. Eine bestätigende Wahl des provisorisch ernannten Rektors Smend durch alle ordentlichen und nach Anordnung der Militärregierung auch aller außerordentlichen Professoren fand erst am 27. Juli 1945 statt. Bei dieser Gelegenheit wurde Hermann Rein zum Prorektor gewählt.328

Im Senat wurde Ende April „die durch den Fortfall aller bisher die Universität tragenden Zu-sammenhänge“ geschaffene neue Lage eingehend besprochen. In der Wahrnehmung der neuen Universitätsführung schien die Universität „in einem bisher unerhörten Sinn auf sich gestellt“ zu sein. Die Hauptsorge der Senatsmitglieder galt der Frage, wie sie eine möglichst rasche Wiedereröffnung der Universität erreichen könnten. Ein fruchtbarer Weg wurde darin gesehen, mit einer grundsätzlichen Erklärung an die Öffentlichkeit zu treten. Dabei sollte eine geschlossene Haltung präsentiert werden, das heißt, zuerst musste eine interne Klärung über Ziele und Aufgaben der Hochschule stattgefunden haben. Einigkeit bestand darüber, dass es nicht mehr genüge, nur auf „ihre sachliche Facharbeit“ hinzuweisen, da sie damit Gefahr liefe, zur Fachschule degradiert zu werden „unter Preisgabe ihrer Geschichte seit mindestens vier Jahrhunderten“.329 Vier Professoren verfassten dazu Entwürfe; der neue Dekan der

326 Aus Aufzeichnungen von Otto Weber über die Verhandlungen im Senat vom 9. bis 21. April 1945. UAG, Senatsprotokolle 1945–1949.

327 Diese acht waren: Rein, Smend, Martius, Bauer, Brandi, Eucken, Prandtl und Windaus. Siehe Fesefeldt [1962]. Fesefeldt bezieht sich auf dieselben Senatsprotokolle, die auch mir vorlagen, jedoch scheinen diese vor vierzig Jahren noch vollständiger gewesen zu sein, denn die Namensliste fehlt heute.

328 Fesefeldt [1962] S. 140. Siehe auch das Schreiben des Kurators an den Oberpräsidenten in Hannover vom 28. Juli 1945, wo er um die Bestätigung der Wahl bittet. HStAH, Nds. 401 Acc. 92 / 85, Nr. 399.

329 Protokoll der Senatssitzung vom 28. April 1945. UAG, Senatsprotokolle 1945–1949.

mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät, Arnold Eucken, Herbert Schöffler als Dekan der philosophischen Fakultät, der Forstwissenschaftler Theodor Schmucker und der Theologe Otto Weber.330 Als erster formulierte Otto Weber „Programmatische Erwägungen zur Neugestaltung der Universität“, die leider nur bruchstückhaft in einer späteren Notiz überliefert sind.331 Eucken beginnt seinen Gegenentwurf mit einer klaren Rhetorik der Richtungsänderung: „Durch die umwälzenden Ereignisse der kürzlich vergangenen Zeit wird auch die Universität Göttingen gezwungen, eine wesentliche Änderung der ihr in den letzten zwölf Jahren gegebenen Ausrichtung vorzunehmen.“332 Dieser Wortlaut klingt seltsam defensiv, als würde Eucken einer Änderung nur äußerst ungern zustimmen. Dies war vermutlich nur unglücklich formuliert und gar nicht so gemeint. Ihm schwebte kein völlig neuer Weg vor, sondern ein Anknüpfen an eine jahrhunderte alte Tradition der deutschen Universität im Sinne des Idealismus und Universalismus. Ohne es auszusprechen, ist hier das Humboldtsche Ideal gemeint, das es zwar nie verwirklicht gab, an dem die deutschen Professoren aber um so stärker hingen, je weiter sich die Realität der Hochschulen davon entfernt hatte.333 Treffenderweise sprechen wir heute in diesem Zusammenhang vom Mythos Humboldt. Euckens Variante der Humboldt’schen Universität beinhaltete Objektivität als Grundlage jeder akademischen Lehr- und Forschungstätigkeit. Darauf aufbauend müsste aber dem Forscher und Lehrer völlige Freiheit seiner Betätigung und seines Urteils gewährleistet sein. Vom Wissenschaftler forderte er vollste Hingabe und Einsatz der ganzen Persönlichkeit in der wissenschaftlichen Tätigkeit. Die Auswahl der Dozenten sollte allein nach wissenschaftlicher Leistung geschehen, wobei ein „völlig einwandfreier Charakter“

vorausgesetzt wurde (eine Besprechung dieser Charakterforderung folgt im nächsten Kapitel, speziell im Abschnitt 2.3.6). Dies waren nach Eucken altbewährte Grundsätze, doch gingen sie über den Kern der Humboldt’schen Forderungen hinaus.334 Eucken rechtfertigte die

’Neuausrichtung‘ durch ein rhetorisches Anknüpfen an eine nicht kompromittierte Tradition.

Für ihn war eine der alten Aufgaben der Universität die Verteidigung der Kultur gegen bloße

330 Sowohl Schmucker wie Weber waren bis Kriegsende Dekane ihrer Fakultät.

331 Programmatische Erwägungen zur Neugestaltung der Universität von Otto Weber, 19. Juni 1945. Weber wollte die Universität an der Zeit vor 1933 wiederanknüpfen lassen. Sie sollte ihre wissenschaftlichen Kräfte in den Dienst des Geists der Zusammenarbeit und des Friedens stellen. UAG, Senatsprotokolle 1945–1949.

332 Dieses und auch die folgenden Eucken-Zitate stammen aus seinem Entwurf einer grundsätzlichen Stellungnahme vom 27. April 1945. UAG, Senatsprotokolle 1945–1949.

333 Der langsame Abschied von ’Humboldt‘ von 1810 bis 1945 ist beschrieben bei vom Bruch [1999].

334 Als Kern des Humboldt’schen Ideals sind zu nennen: Abgrenzung vom staatlichen Einfluss, Idee der Einheit der Wissenschaften, individuelle Persönlichkeitsentfaltung durch Wissenschaft und die Ausrichtung der Wissenschaft auf Forschung statt auf enzyklopädischer Wissenschaftstradition. Siehe dazu vom Bruch [1999]

S. 35f.

Zivilisation und Technik.335 Hier herrschte eine deutliche Widersprüchlichkeit zwischen der proklamierten Anknüpfung an Altbewährtes und den tatsächlichen Möglichkeiten der Um-setzung. Wie Konrad Jarausch treffend zeigte, kehrte die Universität mit solchen Forderungen und Sichtweisen zu den Problemen des Elitedenkens, der intellektuellen Arroganz und der apolitischen Grundhaltung zurück.336

Die apolitische Haltung steigerte sich bei Eucken zu der Forderung: „Die Universität muss entpolitisiert werden.“ Sie solle kein Tummelplatz verschiedener politischer Meinungen sein, sondern es solle als breite und solide Grundlage nur noch eine gemeinsame geben, und zwar die „volle Bejahung des Staatsgedankens an sich“. Diese Loyalitätsbekundung sollte staatliche Einflussnahme unnötig erscheinen lassen und sie damit abwehren. Als letzter Aspekt sei noch erwähnt, dass Eucken auch kulturelle Aufgaben der Universität behauptete, zum Beispiel die Verbreitung deutscher Kultur im Ausland.

Die Entwürfe von Schöffler und Schmucker bedienen sich in ähnlicher Weise der Humboldt’schen Rhetorik. Der Anglist Schöffler hob stärker die Bedeutung der Wissenschaft für das Zusammenleben der Völker hervor und betonte, dass die Universität ihre alten Selbstverwaltungsformen wiedergewinnen müsse.337 Schmucker fügte der Reinwaschung der Universität noch den Topos des Missbrauchs hinzu, der die Wissenschaft in der NS-Zeit getroffen hätte.338 Indem Schmucker behauptete, die Freiheit von Forschung und Lehre bedinge die Autonomie der Universität, bediente er sich klar dem Humboldt’schen Ideal.339 Zur Abwehr staatlichen Einflusses versuchten die Göttinger Professoren, den Kurator abzuschaffen, womit sie allerdings erfolglos blieben.340

335 Protokoll der Senatssitzung vom 25. April 1945. UAG, Senatsprotokolle 1945–1949.

336 Zu diesem Schluss kam Jarausch in der Analyse der Rückkehr zur Humboldt’schen Rhetorik in der Nachkriegszeit. Jarausch [1999] S. 61.

337 Entwurf Schöffler, April 1945. UAG, Senatsprotokolle 1945–1949. Zu Schöffler und sein kurzes Wirken in Göttinger nach Kriegsende siehe Scholl [1998] S. 416-418.

338 Diese Argumentation findet sich in der Nachkriegszeit vor allem in den Technik- und Naturwissenschaften.

Siehe Mehrtens [1995].

339 Entwurf Schmucker. UAG, Senatsprotokolle 1945–1949.

340 Von den in der NS-Zeit tätigen Kuratoren Büchsel, Stich und Bojunga, die alle 1945 entlassen wurden, kehrte nur Bojunga noch im Sommer 1945 auf seinen Posten zurück. Während die Hochschulleitung seiner Person in den politisch bedingten Schwierigkeiten Unterstützung zusicherte und ihm das Vertrauen aussprach, wurde das Vorhandensein eines Kurators an sich für die Universität in Frage gestellt. Siehe als frühesten Beleg:

Protokoll der Senatssitzung vom 12. Mai 1945. UAG, Senatsprotokolle 1945–1949. Die Universitätsführung hielt aber an dem Ziel der Abschaffung hartnäckig, wenn auch erfolglos, fest, was in den Protokollen der Hochschulkonferenzen deutlich ersichtlich wird. Siehe dazu Heinemann (Hrsg.) [1990]c. Erfolgreich war allerdings die Universität Bonn, die sich unter dem Rektorat des Physikers Heinrich Konen, der gleichzeitig Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen war, 1947 der Institution des Kurators entledigte. Haude [1998]

S. 57.

Die Selbstdefinitionen der Göttinger Universität in ihren verschiedenen Entwurfsformen fanden kaum praktische Verwendung. Zu groß und drängend waren die Alltagssorgen der Hochschule in den ersten Nachkriegsmonaten. Einen geeigneten Zeitpunkt, mit einer Grundsatzerklärung an die Öffentlichkeit zu treten, scheint es nicht gegeben zu haben. Neben der Rhetorik, die eine rasche Wiedereröffnung herbeiführen sollte, finden sich in ihnen auch die wesentlichen Eckpunkte einer von der Universität verfochtenen Hochschulpolitik. Der Rettungsversuch von geschätzten Kollegen, die auch zukünftig zur Elite zählen sollten, bei Ausklammerung der politischen Komponente, war das versteckte Programm. Zu diesem Zweck sammelte der Senat entsprechendes Material über den Göttinger Lehrkörper, um in den Verhandlungen mit den Besatzungsbehörden angemessen argumentieren zu können. Aus den Kuratorialakten wurden zwei Lebensläufe der Dozenten erstellt: ein amtlicher und ein politischer „(Zugehörigkeit zur Partei, Eintritt, Betätigung, Ämter)“. Außerdem gesammelt wurden Erklärungen der Universitätslehrer zu ihrer politischen Karriere und eigene Informationen und Stellungnahmen der Göttinger amtlichen Stellen.341 So war man im Stillen gerüstet. Bald kamen auch die ersten Fragebogen des Lehrkörpers, zu denen beschlossen wurde, „strikteste Verschwiegenheit bezüglich der Stellungnahme des Senats zu ihnen zu wahren.“342

Den Schritt in die Öffentlichkeit unternahm Karl Jaspers mit seinem 1946 erschienen Buch Die Idee der Universität. Er erwies seinen deutschen Kollegen einen großen Dienst, wenn er

„dieser abendländischen, übernationalen, hellenisch-deutschen Idee“, die zugleich Element einer Lebensanschauung sei, eine Rechtfertigung gab. Jaspers schuf kein neues Hochschulkonzept, sondern versuchte, die alte akademische Tradition an die neuen Verhältnisse anzupassen. Es ist aufschlussreich zu sehen, in welchen Punkten Eucken von Jaspers abweicht. Ihm schien ein Punkt zu kurz gekommen zu sein, und zwar die „Krise, in der sich die Wissenschaft durch ihre unermeßliche Verzweigung und Aufsplitterung in zahllose, beziehungslose Einzelfächer gegenwärtig befindet“. Für Eucken war dieser Zustand deswegen bedrohlich, weil er der „Grundforderung der Wissenschaft nach Universalität“

widersprach. Die gesehene Gefahr wurde als Spezialistentum bezeichnet, das nicht dazu geeignet sei, ganze Persönlichkeiten zu formen, und daher unbedingt abzulehnen sei (zum Spezialistentum siehe Abschnitt 4.2). Ein ähnliches Problem lag in dem Massenzudrang an die Universitäten, „welcher der geistesaristokratischen Grundhaltung der Universität […]

341 Protokoll der Senatssitzung vom 9. Mai 1945. UAG, Senatsprotokolle 1945–1949.

342 Protokoll der Senatssitzung vom 26. Mai 1945. UAG, Senatsprotokolle 1945–1949.

direkt zuwiderläuft und der unbedingt irgendwie gesteuert und abgelenkt werden muß“ (zur

’Vermassung‘ siehe Abschnitt 2.3).343

Es ist äußerst bezeichnend, welche Probleme hier als zeitgemäße angesehen wurden und wel-che nicht. Als im Senat von Rektor Smend eine Auseinandersetzung mit den Konzentrations-lagergreuel, dem „ethisch-politischen Problem der Zeitlage“, angeregt wurde, warnte Eucken

„vor Abgleiten in Kriegsschuldfragenerörterung“. Demgegenüber unterstrich Otto Weber die Notwendigkeit grundsätzlicher Besinnung. Die Besprechung wurde abgebrochen.344 Es scheint, dass die Mentalität der exakten Naturwissenschaftler einen Rückzug zu ’objektiver Forschung’ als Reaktion auf die politische und gesellschaftliche Entgleisung stärker nahe legte, als dies bei den geisteswissenschaftlichen Kollegen der Fall war. Von dort kamen unpassende Versuche, die Politik zu verniedlichen, wie zum Beispiel von Schöffler vom Oktober 1945: „In Zeiten wie diesen steht der Kleinkram der Politik zurück an Bedeutsamkeit; viele sind nach den Erfahrungen der Jahre, durch die wir gehen mussten, aller Politik müde.“345

Langsam besserten sich die Verbindungen zu den entscheidenden Personen in der Militärregierung. Im Juni 1945 war Smend zur Besprechung bei dem für die Hochschulen zuständigen Major Beattie in Hannover. Smend drückte dort sein Bedauern über bereits vollzogene Entlassungen aus, da es doch im Interesse der politischen Erziehung und Beruhigung sehr darauf ankomme, dass die personellen Entscheidungen der Militärregierung einleuchtend seien. Smend erreichte aber nicht ganz das Gewünschte: „Major Beattie läßt sich nur langsam vorwärts drängen“, teilte er seinen Göttinger Kollegen mit.346 Die Situation verbesserte sich im Laufe der Zeit, denn auf Seiten der Besatzer gab es unterschiedliche Auffassungen über Ziel und Umfang der politischen Überprüfung des Lehrkörpers. Zum Beispiel äußerte sich der britische Kontrolloffizier L. H. Sutton, der bis Ende 1945 für die Universität Göttingen zuständig war, schon damals kritisch zur Entnazifizierungspraxis. Ihm erschien die Anzahl der entlassenen Professoren zu hoch. Sie könnten Keimzellen von umstürzlerischen Gruppen werden, befürchtete er. Da sie ihre Stellen bereits verloren hatten, fehle ihnen jene Hemmung vor solch unerwünschten Handlungen, die sie in Amt und Würden

343 Alle Zitate stammen aus Euckens Besprechung von Jaspers Buch in Eucken [1946]c.

344 Protokoll der Senatssitzung vom 6. Juni 1945. UAG, Senatsprotokolle 1945–1949.

345 Herbert Schöffler in einer Rede an die Göttinger Studenten am 28. Oktober 1945. Zitiert nach Krönig &

Müller [1990] S. 342.

346 Aus Smends Protokoll seines Besuchs bei Major Beattie in Hannover, 19. Juni 1945. Bei dieser Gelegenheit traf er auch mit dem Oberpräsidenten Dr. Hagemann, der die Rolle des früheren Kultusministers übernahm, zusammen. UAG, Senatsprotokolle 1945–1949.

noch besäßen.347 Tatsächlich wurde zwischen Mai 1945 und Juli 1947 an der Universität Göttingen etwa ein Drittel des gesamten wissenschaftlichen Personals zumindest zeitweise entlassen.348 Angesichts dieses Ausmaßes erscheint die Sorge des Kontrolloffiziers durchaus berechtigt. In den Naturwissenschaften und speziell in der Physik sahen die Verhältnisse jedoch anders aus. Aus seiner Stelle entlassen wurde in der Physik nur ein einziger Dozent.

Bevor dieser Fall untersucht wird, ist aber der gesetzliche Rahmen und die Verfahrensweise der Entnazifizierung kurz zu beschreiben.

1.3.2 Die personelle Entnazifizierung der Physik

Die Schwierigkeiten, mit denen die personelle Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft verbunden war, sind viel diskutiert und oft historisch untersucht worden. Daher wird hier auf eine breitere, gesellschaftsbezogene Analyse verzichtet und nur das Verfahren der

Die Schwierigkeiten, mit denen die personelle Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft verbunden war, sind viel diskutiert und oft historisch untersucht worden. Daher wird hier auf eine breitere, gesellschaftsbezogene Analyse verzichtet und nur das Verfahren der