• Keine Ergebnisse gefunden

Die Entwicklung von 1930 bis zum Kriegsende

2 Die Studenten – der Familiennachwuchs

2.2 Die Entwicklung von 1930 bis zum Kriegsende

2.2.1 Der Rückgang in den 30er Jahren

Die erste naheliegende Erklärung für den Rückgang der Studentenzahlen in den 30er Jahren bietet der allgemeine und wissenschaftspolitische Umschwung, den die nationalsozialistische Diktatur bewirkte. Die Studentenschaft wurde einer politischen „Auslese“ unterzogen, die vor allem linke und „nichtarische“ Studenten traf. Die Zahl der aus politischen Gründen relegierten Studenten war relativ klein. Etwa ein halbes Prozent der Studenten aller Hochschulen (ein Viertel davon Frauen) wurde deshalb auf eine Schwarze Liste gesetzt und nicht mehr zugelassen. In Göttingen waren es genau neun Studenten (0,3 %).716 Die geringe Auswirkung der politischen Relegierungen korreliert damit, dass linke oder liberale Ansichten unter den Studenten nur schwach vertreten waren. In den letzten Jahren der Weimarer Republik konnten bei AStA-Wahlen nur 10-15 % der Studenten für republikanische oder sozialistische Ideen gewonnen werden. Nur ein Zehntel der Studenten war dem demokratischen Lager zuzurechnen.717 Der NSDStB hatte an den deutschen

Studenten zu den Fakultäten, nicht aber über ihre gewählten Fächer: WS 1935/36, SS 1936, erstes Trimester 1941, WS 1944/45 (für dieses Semester existiert kein Verzeichnis), WS 1945/46, WS 1946/47, SS 1947, WS 1947/48, WS 1949/50, SS 1950, WS 1950/51, SS 1951 und WS 1952/53.

716 Grüttner [1995] S. 210, 504, Tab. 31.

717 Siehe Grüttner [1995] S. 41. Die weite Verbreitung deutschnationaler Ansichten unter den Studenten betont Weyrather [1981] S. 131f. Zu antisemitischen und frauenfeindlichen Strömungen unter den Studenten siehe Grüttner [1995] S. 481 und Clephas-Möcker & Krallmann [1992] S. 171. Zur Genese dieser Einstellungen nach 1918 siehe Jarausch [1984] Kap. 4.

Universitäten im SS 1933 einen Mitgliederanteil von etwa 30 %. In Göttingen waren 47 % in ihm organisiert.718

Die antisemitische Politik wirkte sich demgegenüber stärker aus. Während im WS 1932/33 noch 3336 deutsche Studenten jüdischen Glaubens an einer Universität studierten, waren es in den folgenden beiden Jahren nur noch 812 und 538. Das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom 25. April 1933, das den Hochschulzugang insgesamt drosselte, hieß bis kurz vor seiner Verabschiedung „Gesetz gegen die Überfremdung deutscher Schulen und Hochschulen“ und war in erster Linie als Instrument zur Vertreibung der Juden eingerichtet worden.719 Auf Grund des neuen Gesetzes durfte der Anteil „nichtarischer“ Studenten 5 % nicht überschreiten. Erstimmatrikulationen jüdischer Studenten waren nur möglich, wenn ihr Anteil unter 1,5 % lag und blieb. Nur insgesamt 49 jüdische Studenten mussten wegen des Überfüllungsgesetzes ihr Studium aufgeben, in Göttingen kein einziger. Auch für die Zahl der Erstimmatrikulationen spielte das Gesetz kaum eine Rolle, denn in Göttingen gab es schon im Jahr 1930 insgesamt nur 48 jüdischen Studenten (1,1 %).720 Auch wenn das Überfüllungsgesetzt nicht das ausschlaggebende Instrument war, wurden die als jüdisch Eingestuften in den ersten fünf Jahren der NS-Diktatur so wirksam aus den Hochschulen vertrieben, dass ihre endgültige Vertreibung nach dem Novemberpogrom 1938 nur noch wenige verbliebene „jüdische“ Studenten im „Altreich“ traf.

Diese Effektivität wurde durch verschiedene Maßnahmen erreicht: Jüdischen Abiturienten wurde die Hochschulreife verweigert, die antisemitischen Politik verschlechterte die materielle Situation für Juden und erschwerte damit ein Studium. Besonders ausgrenzend wirkte die Regelung der Arbeitsdienstpflicht. Die bis dahin freiwillige Ableistung dieses Dienstes wurde ab 1934 für die Erstimmatrikulation verpflichtend. Da für den Dienst ab Juni 1935 der „Arier-Nachweis“ erforderlich war, wurde den „Nichtariern“ dadurch das offizielle Studium unmöglich.721 In den Kriegsjahren wurden die Maßnahmen gegen die sogenannten

„Mischlinge“ verschärft, sodass diese 1944 nur noch 0,5 % aller Studenten ausmachten. Die meisten „Mischlinge“ studierten in Wien und München.722 Das durch diese Vertreibungen und die sich anschließenden Verfolgungen zugefügte menschliche Leid war beklemmend groß, die Auswirkung auf die Größe der Studentenschaft unauffällig klein. In Summe

718 Grüttner [1995] S. 246.

719 Huerkamp [1996]a S. 80.

720 Grüttner [1995] S. 213f, 495, Tab. 24.

721 Huerkamp [1996]a S. 88. Grüttner [1995] S. 215ff.

722 Grüttner [1995] S. 220ff.

bewirkte die Vertreibung der Juden und „Nichtarier“ einen Rückgang der Studentenzahlen um etwa 3-4 %.723

Unter dem Eindruck der Überfüllungskrise hatten die Kultusminister der Länder noch vor der nationalsozialistischen Gleichschaltung im Februar 1933 eine Beschränkung des Hochschulzugangs vereinbart. Für das Jahr 1934 wurde dieser Politik folgend vom Reichsinnenministerium die Zahl der Abiturenten mit Hochschulreife (Studienerlaubnis) auf maximal 15000 begrenzt. Diese Maßnahme war aber schon früh umstritten, und als die hochschulpolitische Entscheidungskompetenz 1934 an das neu gegründete Reichserziehungsministerium überging, nahm man von solchen Beschränkungen Abstand.

Die Hochschulkommission der NSDAP wies Ende 1934 auf die Gefahr eines künftigen Nachwuchsmangels in den akademischen Berufen hin und warnte vor einer zahlenmäßigen Beschränkung der Studenten. Ab Februar 1935 gab es keinen Hochschulreifevermerk mehr und damit weitgehend freien Zugang zur Hochschule.724

Für den trotzdem anhaltenden Rückgang der Studentenzahlen war die in der bisherigen Forschung oft betonte wissenschaftsfeindliche Politik des Nationalsozialismus nur ein Moment unter vielen. Grüttner versucht das Bild zurechtzurücken und meint, dass die Hochschulpolitik des NS-Staates für die Entwicklung der Studentenzahlen weniger wichtig war, als lange Zeit angenommen.725 Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Zahlen in Göttingen schon seit 1930 (der gesamten Hochschulen seit 1931) abfallen und nicht erst nach der Regierungsübernahme der Nationalsozialisten. Pauwels machte deutlich, dass sich hier die geburtenschwachen Jahre des Ersten Weltkriegs auswirkten. Die Geburtenzahl sank zwischen 1913 und 1918 auf die Hälfte (von 1,8 Millionen auf 926000), sodass sich damit zum Teil erklärt, warum die Studentenzahlen an den deutschen Universitäten von 1932 (98852) bis 1937 (44467) um etwas mehr als die Hälfte zurück gingen.726 Dieser starke Rückgang wurde schon Anfang März 1933 und damit noch vor der eigentlichen Gleichschaltung von der „Volkswirtschaftlichen Zentralstelle für Hochschulstudium und akademisches Berufswesen“ prognostiziert.727 Inwieweit war diese Entwicklung durch die demografische Ausgangslage vorherzusehen, und welche Rolle spielten andere Faktoren?

723 Grüttner [1995] S. 106.

724 Grüttner [1995] S. 102f. Der Hochschulreifevermerk wurde im Dezember 1933 eingeführt und im Februar 1935 wieder abgeschaff.

725 Grüttner [1995] S. 103.

726 Siehe Pauwels [1984] S. 37 und die tabellarische Auflistung der Geburtenzahlen auf S. 144, Tab. 1;

Studentenzahlen nach Titze [1987] S. 30, Tab. 1.

727 Grüttner [1995] S. 103.

Die bisherige Forschung gibt in der Gewichtung des demografischen Faktors nur vorsichtige Einschätzungen an, die darauf basieren, die Größe der Studentenschaft mit dem Anteil der 18- bis 25-jährigen Bevölkerung zu vergleichen.728 Hier soll ein anderer Weg beschritten werden.

Zur vereinfachten Abschätzung des Rückgangs nur auf Grund der rückläufigen Geburtenzahlen müssen zuerst einige vereinfachende Annahmen getroffen werden. Die Abiturientenquote und die Studienanfängerquote des Jahres 1932 werden zur Grundlage der Berechnung herangezogen und für die folgenden Jahre als konstant angenommen; außerdem wird das Studienanfängeralter mit 19 Jahren angesetzt. Es werden deshalb die Daten von 1932 als Ausgangsbasis der Berechnung gewählt, da die geburtenschwachen Jahrgänge der Jahre 1914f. sich erst ab 1933 auswirkten.729 Mit diesen Annahmen lassen sich die zu erwartenden jährlichen Zugänge zu den Universitäten nur unter Hinzuziehung der Geburtenzahlen von jeweils 19 Jahre zuvor errechnen.730

Kurz gesagt berechne ich: Stud-Anft = Gebt-19 * Abi-Qu1932 * St-Qu1932 Stud-Anft ... Anzahl der Studienanfänger im Jahr t

Gebt-19 ... Geburtenzahl im Jahr t-19

Abi-Qu1932 ... Abiturientenquote des Jahres 1932 St-Qu1932 ... Studienanfängerquote des Jahres 1932 t = 1933, 1934, ..., 1937

Um die Entwicklung der Gesamtzahl prognostizieren zu können, müssen aber auch die voraussichtlichen jährlichen Abgangszahlen abgeschätzt werden. Erst die Differenz aus errechnetem Zugang und Abgang führt zu Aussagen über die Gesamtentwicklung. In den Jahren 1926 bis 1930 gab es ein großes Wachstum der Studentenschaft; die Gesamtzahl stieg in relativ gleichmäßigen Schritten um jährlich 8300. Der mittlere jährliche Zugang an neuen Studenten betrug 21100.731 Folglich gab es nur 12800 Studienabgänge (d. h. Absolventen plus Abbrecher) pro Jahr. Die Universitäten waren auf einem Höhepunkt einer zyklischen Wellenbewegung; sie wirkten wie künstlich aufgeblasen.732 Es ist sofort einsichtig, dass diese

728 Mertens [1991] S. 106 gibt vorsichtige Schätzungen an, nach denen der tatsächliche Rüchgang der Studentenzahlen bis 1938 zu einem Viertel bis zur Hälfte durch die Geburtenrückgänge zu erwarten gewesen sei. Jarausch [1984] S. 179 berechnete, dass der Studentenrückgang von 1932 bis 1939 zu zwei Fünftel auf den demografischen Faktor zurückzuführen sei. Er bezog den Rückgang auf den Anteil der 18- bis 25-jährigen Bevölkerung. Wie die Berechnung im Einzelnen durchgeführt wurde, bleibt offen. Eine grafische Darstellung des demografischen Einflusses auf die Studentenfrequenz, die ebenfalls auf den Anteil der 18- bis 25-jährigen Bevölkerung bezogen ist, gibt Titze [1987] S. 75. Zur Konstruktion der Grafik siehe dort auch S. 68f.

729 Die schwächsten Jahrgänge 1915 bis 1918 legten zwischen 1934 und 1937 ihr Abitur ab. Huerkamp [1996]a S. 60.

730 Die für die folgenden Berechnungen herangezogenen Daten stammen sämtlich aus Titze [1987].

731 Dabei zeigen die Anfängerzahlen eine leicht steigende Tendenz: 1926 waren es 19013 und 1929 22952, das Maximum war 1928 mit 23359. Die Zahlen sind entnommen aus Titze [1987] S. 189, Tab. 89.

732 Zu den zyklischen Schwankungen der Studentenzahlen siehe Nath [1988]; Titze [1990]. Titze zeigt, dass der Studentenboom 1930 zu einem großen Anteil demografisch bedingt war; siehe S. 468.

Entwicklung nicht unverändert fortbestehen konnte. Die hohen Anfängerzahlen mussten später zu entsprechend hohen Abgängen führen. Die Abgängerzahlen der Jahre 1932 bis 1937 hingen ursächlich mit den Anfängerzahlen der vorhergehenden vier bis fünf Jahre zusammen.

Zur Vereinfachung wird als jährliche Abgangszahl die Anfängerzahl von vier Jahren zuvor angenommen.733

Zur Berechnung der Gesamtzahlen benutze ich: G-Studt = G-Studt-1 + Stud-Anft - Stud-Anft-4 G-Studt ... Gesamtstudentenzahl im Jahr t.

G-Studt-1 ... Gesamtstudentenzahl im Jahr t-1.

Stud-Anft ... Anzahl der Studienanfänger im Jahr t.

Stud-Anft-4 ... Anzahl der Studienanfänger im Jahr t-4.734 t = 1933, 1934, ..., 1937

Damit ergibt sich für das Jahr 1937 eine zu erwartende Gesamtstudentenzahl von 56400. Die tatsächliche Zahl war 44467.735 Diese Ergebnis bedeutet zweierlei: Erstens gibt es einen unabhängig von politischen Steuerungsversuchen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu erwartenden Rückgang der Studentenzahlen in der Größe von etwa 43 % bezogen auf das SS 1932. Tatsächlich nahmen die Zahlen aber um 55 % ab. Daher ist zweitens zu schließen, dass der demografische Faktor 78 % des tatsächlichen Rückgangs erwarten ließ.

Zur Interpretation des Ergebnisses muss darauf hingewiesen werden, dass in die Berechnung die rückläufige Tendenz der ersten 30er Jahre insofern mit einfloss, als die Prognose des Absinkens der Erstimmatrikulationen ausgehend von der Abiturienten- und Studienanfängerquote des Jahres 1932 berechnet wurde. Die Anfängerzahl war aber 1932 durch die Wirtschaftkrise und die schlechten Berufsaussichten schon auf einem niedrigeren Wert als zum Beispiel ein und zwei Jahre zuvor.

Die Berechnung zeigt aber, wie erheblich der ab 1931/32 zu verzeichnende Abfall der Studenten- und vor allem Anfängerzahlen durch die Geburtenausfälle im Ersten Weltkrieg verstärkt wurde. Gelegentlich wurde das schon früh einsetzende Sinken als Argument gegen einen bedeutenden demografischen Einfluss und für einen stärkeren Einfluss der NS-Politik angeführt.736 Deshalb soll hier betont werden, dass der demografische Faktor zwar einerseits

’nur‘ als Verstärker wirkte, aber in dieser Weise eben für etwa drei Viertel des Rückgangs verantwortlich war.

733 Zur durchschnittlichen Studiendauer siehe Quetsch [1960] S. 32. Lorenz [1943]b S. 252ff. Ein Durchschnitt von 8 bis 9 Semestern Studiendauer scheint demnach angemessen zu sein.

734 Für die Jahre bis 1932 wurden die tatsächlichen Anfängerzahlen eingesetzt, für das Jahr 1933 hingegen die durch den Geburtenverlauf erwarteten 19019 statt der tatsächlichen 15972.

735 Titze [1987] S. 30, Tab. 1.

736 Huerkamp [1996]a S. 307f. Huerkamp [1996]b S. 326.

Eine Stütze dieser These liefert die Studentenentwicklung der TH Wien. Dort sank die Gesamtzahl der Studenten von 1932 bis 1937 um 45 %. In Wien ist von einer ähnlichen wirtschaftlichen und demografischen Ausgangslage auszugehen, aber von der nationalsozialistischen Politik war Österreich damals noch nicht betroffen.737

Da für die Berechnung nur Daten aus den Jahren vor 1933 verwendet wurden, kann aus der Differenz zur tatsächlichen Zahl die Wirkung der politischen Maßnahmen des Nationalsozialismus abgeschätzt werden. Es wurde oben schon gezeigt, mit welchen Mitteln die Vertreibung der „Nichtarier“ durchgesetzt wurde. Auf Grund des jüdischen Studentenanteils kurz vor 1933 wäre zu erwarten gewesen, dass von 1932 bis 1937 insgesamt etwa 3000 jüdische Studienanfänger an die Universitäten gekommen wären.738 Ihr Ausbleiben in die für 1937 prognostizierte Zahl mit eingerechnet ergibt 53400. Die zur wirklichen Studentenzahl verbleibende Differenz von 8900 lässt sich mit einer Vielzahl von Gründen, die in der einschlägigen Literatur angeführt werden, verständlich machen. Die Überfüllungskrise der ausgehenden Weimarer Republik wirkte sich negativ auf die Studierwilligkeit aus. Dies erkennt man anhand der Daten aus Tabelle 1. Während die Abiturientenzahl von 1931 auf 1932 zunahm, nahm die Studierwilligkeit von 66,5 % der Abiturienten auf 51,9 %, und die Zahl der Studienanfänger von 54,3 % auf 44,4 % ab. Dieser Trend sinkender Anfängerzahlen setzte sich bis 1937 fort und zwar in viel stärkerem Maß als die Geburtenausfälle des Ersten Weltkriegs erwarten ließen. Im Gegensatz zu den Studienanfängern blieben die Abiturientenzahlen über den Werten, die die demografische Lage erwarten ließen. Zu erkennen ist ein deutlicher Trend zur vermehrten höheren Schulbildung. Die Abiturientenrate stieg bis 1937 an und war dann doppelt so hoch wie 1928.739 Zusammengefasst gesagt gab es zwar immer mehr Abiturienten (bezogen auf den gleichaltrigen Bevölkerungsanteil), aber immer weniger von ihnen wollten studieren.

737 Studentenzahlen der TH Wien aus Mikoletzky [1997]a S. 116, Tab. 4.1. Allerdings gab es auch in Österreich ab 1933 ein Gesetz gegen die „Überfüllung der österreichischen Hochschulen“, das sich vor allem gegen ausländische Studenten richtete. (S. 115ff.). Trotzdem kamen in Österreich im Jahr 1937 auf 10000 Einwohner 26 Studenten. Damit lag Österreich im europäischen Vergleich an der Spitze. Das deutschen Reich lag mit nur 9 Studenten je 10000 Einwohner am Schluss der Liste. Siehe Quetsch [1960] S. 13.

738 Da ich keine Angaben über den jüdischen Anteil an den Erstsemestern bis 1933 gefunden habe, ist dieser Berechnung der Anteil jüdischer Studenten von 1932/33 (4,695 %) zugrunde gelegt. Von den prognostizierten 64000 Neuzugängen der Jahre 1932 bis 1937 wären erwartungsgemäß 3000 Juden gewesen.

739 Siehe Titze [1987] S. 173, Tab. 78. In Spalte 4 kam es allerdings zu einem Druckfehler bei der Angabe der männlichen Bevölkerung von 1937. Als Folgefehler ist in Spalte 5 eine falsche Quote angeführt. Vermutlich sollte 299510 statt 599510 in Spalte 4 stehen, was zu einer Quote von 7,67 führt statt der angegebenen 3,82.

Jahr

Tabelle 1 Abiturienten deutscher, öffentlicher und privater Schulen744 in Gegenüberstellung mit den Geburtenzahlen jeweils 19 Jahre zuvor.

Jahr745 gesamt männlich weiblich Physik gesamt Physik männlich

Tabelle 2 Die Studienanfänger an deutschen Universitäten.746

Welche Faktoren waren ausschlaggebend, dass immer weniger Abiturienten ein Studium anfingen – 1937 beispielsweise nur noch 21 %? Grüttner nennt zwei wesentliche Gründe:

1. Die hoffnungslose Lage auf dem akademischen Arbeitsmarkt. Sie führte dazu, dass ein Studium ohne Perspektive erschien; folglich kam es ab 1932 auch häufiger zu Studienabbrüchen, besonders bei den Frauen. Die allgemeine Wirtschaftskrise und die

740 Sommersemester plus nachfolgendes Wintersemester sind hier zusammengefasst.

741 Powels [1984] S. 144, Tab. 1.

742 Auf Grund der Verkürzung der Schulzeit an den höheren Schulen verließen 1937 zwei Abiturientenjahrgänge gleichzeitig die Schulen. Grüttner [1995] S. 105.

743 Auf Grund der Verkürzung der Schulzeit an den Mädchenschulen verließen 1940 zwei Abiturientenjahrgänge gleichzeitig die Schulen. Huerkamp [1996]a S. 63.

744 Abiturientenzahlen nach Titze [1987] S. 181, Tab. 83. Laut Huerkamp handelt es sich bei dieser Tab. 83 entgegen der Überschrift um die Abiturienten des deutschen öffentlichen und privaten Schulwesens. Huerkamp [1996]a Anmerkung 56 zu S. 59.

745 Sommersemester plus nachfolgendes Wintersemester sind hier zusammengefasst.

746 Errechnet nach Titze [1987] S. 189, 193, Tab. 89.

Schwierigkeiten der Studienfinanzierung ließen ein Studium mehr denn je als Luxus erscheinen, den sich entsprechend weniger Menschen leisten konnten.

2. Die gewachsene Attraktivität anderer Berufe. Die expandierende Wirtschaft und vor allem die Wehrmacht lockte zahlreiche Abiturienten an. Die forcierte Aufrüstungspolitik ließ eine Offizierslaufbahn wieder lukrativ erscheinen.747

Von geringerer Bedeutung war das Ressentiment gegen den „Intellektualismus“, das zu einer anfänglichen, wissenschaftsfeindlichen Einstellung der NS-Regierung führte, die vor allem das Prestige der Universitäten schwächte. Die Einführung der halbjährigen Arbeitsdienstpflicht 1934748 und der allgemeinen Wehrpflicht 1935 hatten zur Folge, dass der Einstieg ins Berufsleben wie der Studienbeginn um bis zu zweieinhalb Jahre verzögert wurde,749 und daher manche Abiturienten auf ein Studium gänzlich verzichteten. Folglich sanken die Anfängerzahlen der Jahre ab 1935, und es kam nach 1937 nicht sofort zu dem auf Grund der geburtenstärkeren Nachkriegsjahrgänge zu erwartenden Anwachsen der Studienanfängerzahlen.750 Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man nur die Frauen betrachtet, bei denen der bis zu zweieinhalb Jahre dauernde Wehrdienst keine Rolle spielte. Dort ist der Tiefstand tatsächlich 1937 erreicht. Danach ist ein Wachstum sowohl bei den Abiturientinnen als auch den Erstsemestern festzustellen. Was das Frauenstudium betrifft, sind allerdings die nicht-demografischen Einflüsse von größerer Wirkung als bei den Männern gewesen (siehe dazu Abschnitt 2.4).

In den Naturwissenschaften vollzog sich eine Schwerpunktverlagerung, die durch die unterschiedlichen Karrierechancen ausgelöst wurde. Das Chemiestudium gewann an Zustrom, während die stärker theoretisch ausgerichteten Fächer Mathematik und Physik an Bedeutung verloren. Eine monokausale Erklärung durch Theoriefeindlichkeit wäre jedoch zu vereinfachend, denn bis Kriegsbeginn verzeichneten Biologie, Geographie, Geologie und Mineralogie einen noch stärkeren Rückgang als die Physik.751 Die Physik verlor von 1932 bis zum Kriegsbeginn zwei Drittel ihrer Studenten. Dieser Verlust war auch in Göttingen zu verbuchen. Wie Diagramm 7 und Diagramm 8 zeigen, verläuft die Göttinger Entwicklung parallel zur gesamtdeutschen – bei den Frauen wie bei den Männern. Eine Untersuchung an

747 Grüttner [1995] S. 104f. Huerkamp [1996]a S. 308 nennt die schlechten Berufsaussichten infolge der

’Überfüllungskrise‘ als den entscheidenden Faktor für den Rückgang der Studentenzahlen in den 30er Jahren.

748 Huerkamp [1996]a S. 83.

749 Ab 1935 mussten die tauglichen Männer zusätzlich zum Arbeitsdienst bei der Reichswehr ein Jahr dienen, ab 1937 zwei Jahre. Huerkamp [1996]a S. 86.

750 Jarausch [1984] S. 179 gibt für 1938/39 an, dass 80,5 % der männlichen Studienanfänger zum Arbeitsdienst und 60 % zum Militärdienst mussten.

22 der damals 23 existierenden Hochschulen ergab, dass das Maximum der Besucherzahlen der Physik-Anfängervorlesung im Jahr 1930 lag und bis zum WS 1937/38 auf etwa 40 % zurückging.752

Der spürbare Nachwuchsmangel in der Physik wurde von Physikprofessoren 1936 als ein Argument in der Auseinandersetzung um die „Deutsche Physik“ genutzt. Die große Gruppe der Gegner der „Deutschen Physik“ versuchte, sich mit dem Studentenargument in der ideologischen Streitigkeit durchzusetzen. 75 Physiker unterzeichneten eine Eingabe an Reichserziehungsminister Rust, in der sie die Anerkennung der modernen theoretischen Physik als notwendig bezeichneten, da sie sonst ein noch stärkeres Fernbleiben der Studenten befürchteten.753

Das Erziehungsministerium bemühte sich ebenfalls um eine Erhöhung der Physikstudentenzahlen. Im August 1937 wies es die Studentenwerke an, die mittleren Semester sowie die neu zur Hochschule kommenden Studenten auf den starken Nachwuchsbedarf in Physik und Chemie hinzuweisen und eine Umstellung auf diese Fachgebiete zu empfehlen.754

Lorenz schlüsselt die akademischen Abschlussprüfungen in Physik nach Prüfungsorten für die Jahre 1933 und 1939 auf. Göttingen liegt in dieser Statistik an zweiter und dritter Stelle:

1933: 1) Berlin 14,7 % 1939 1) Wien 27,6 %

2) Wien 12,6 % 2) Hamburg 10,2 %

Göttingen 12,6 % 3) Göttingen 9,8 %

4) Jena 8,1 % 4) Berlin 8,7 %

5) München 5,1 % 5) Jena 7,1 %

Tabelle 3 Anteile der Universitäten an den Abschlussprüfungen in Physik.755

751 Titze [1987] S. 142ff., Tab. 52-55.

752 Wien [1938/44]a S. 55.

753 Siehe die von Werner Heisenberg, Hans Geiger und Max Wien verfasste Denkschrift an Reichsminister Bernhard Rust, abgedruckt in Hoffmann [1989] S. 206-208; in englischer Übersetzung in Hentschel &

Hentschel (Hrsg.) [1996] S. 137-140.

754 Erlass des REM betreffend Bedarf an Physikern und Chemikern vom 17. August 1937. UAG, Rek. 4106° u.

b.

755 Lorenz [1943]b S. 26.

Jahr Physik-Doktorprüfungen

Tabelle 4 Anzahl der Physik-Doktorprüfungen in „Großdeutschland“ 1932–1941.757

Durch die hohen Studentenzugangszahlen vor 1933 nahm die Zahl der Physik-Doktorprüfungen bis 1939 zu (siehe Tabelle 4). Der hohe Frauenanteil der Physikdoktoranden liegt vor allem an der Universität Wien, die fast zwei Drittel aller Physikstudentinnen

„Großdeutschlands“ promovierte (von 1932 bis 1941 137 der gesamt 213). In Wien lag der Frauenanteil unter den Physik-Promovenden bei 35 %. An den österreichischen Universitäten Wien, Innsbruck und Graz hielt der hohe Frauenanteil an den Promotionen bis zum Kriegsende an und sank dann jäh ab.758 An den restlichen Hochschulen des „Großdeutschen Reichs“ zusammen lag er bei 4,4 %, an den bei Lorenz einzeln aufgelisteten 26 Universitäten ohne Wien bei 4,1 %,759 im „Altreich“760 wie auch in Göttingen bei 3,4 %.761

Jahr Physik-Diplomprüfungen Physik-Vorprüfungen

zusammen männl. weibl. zusammen männl. weibl.

1932 65 64 1 104 100 4

Tabelle 5 Anzahl der Physik-Vor- und Diplomprüfungen an Technischen Hochschulen im

„Altreich“ 1932–1941.763

756 Nur erstes Halbjahr.

757 Lorenz [1943]b S. 128f., 142f. Hier sind auch die nichtbestandenen Prüfungen mitgezählt, die etwa 3-4 % ausmachen; siehe S. 70f., 88f. Eine Gliederung der Nichbestandenen nach Geschlecht erlauben S. 84f, 86f.

758 Waldl [1968] S. 98f.

759 Lorenz [1943]b S. 172f.

760 Lorenz [1943]b S. 104f.

761 Lorenz [1943]b S. 172f.

762 Nur erstes Halbjahr.

Entgegen den allgemein sinkenden Studentenzahlen ist an den Vordiplom- und Diplomprüfungszahlen in Physik an den Technischen Hochschulen kein deutliches Absinken bemerkbar (siehe Tabelle 5). Der Frauenanteil bei den Vorprüfungen war in diesen zehn Jahren im Mittel 4,6 %, bei den Diplomprüfungen 4,1 %.

Diagramm 7 Vergleich der männlichen Physikstudenten der Universität Göttingen mit der gesamtdeutschen Entwicklung 1930–1944.764

2.2.2 Studenten im Krieg

2.2.2 Studenten im Krieg