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3. MENTOR.I – Sinnbild einer lebendigen Philosophie

3.1 Und jetzt: Die Umsetzung!

3.1.1 MENTOR.I als Modell: Die Figur

3.1.1.3 Mut zur Identifikation: Typfragen

Abstraktion entfacht Inspiration – genau dies kommt in der abstrahierten Darstellung der Fi-gur MENTOR.I zur Wirkung: Sie eröffnet unwillkürlich verschiedene Lesarten; Inspiration, Interpretation und Identifikation fallen hier in eins.

Auch in Bezug auf Typfragen: Welchen Charakter man etwa in der Figur zu erkennen meint oder sehen mag, ist ganz dem Auge des Betrachters überlassen, denn MENTOR.I wird auf keiner definitiven Deutung bestehen.

Umso inspirierender kann es sein, verschiedene Typologien anhand der Figur durchzu-spielen oder einander gegenüberzustellen. MENTOR.I liefert hierzu die Inspiration und be-wegt die Phantasie, die unterschiedlichsten Typen wahrzunehmen oder sich vorzustellen.

Und sich damit letztlich auch zu fragen: Welchem Charakter fühle ich mich verwandt, wel-cher Typ ist mir nahe? Wo liegen seine, meine Eigenschaften?

Zwei Charaktere, deren Wesenszüge vor allem in ihrer Gegenüberstellung die in diesem Buch grundlegenden Fragen von intrinsischer und extrinsischer Motivation, von Führung und Selbstführung evozieren, sind die von Kaufmann und Künstler. Jeder kennt sie, sei es aus der Literatur, der Kunstgeschichte oder vielleicht auch aus eigenen Vorurteilen oder Vorstellun-gen. Typologisch betrachtet bilden sie zwei Charaktere, die unterschiedlicher nicht sein könn-ten. Und dementsprechend häufig werden sie auch als Antipoden einander gegenübergestellt.

Zu unvereinbar wirken ihre Ausrichtungen: auf der einen Seite der Kaufmann, der seinen Erfolg im äußeren Wertesystem sucht, der sich nicht zwingend mit dem identifizieren muss, was er vertritt oder verkauft, der eben, wie der Name besagt, primär verkaufen möchte – was

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über den Ladentisch geht, erscheint zweitrangig. „Etwas vertickern, verbimmeln“ – derartige Verben schreibt man, meistens spöttisch oder pejorativ verwendet, gern dem Handelsregister eines Kaufmanns zu.

Und auf der anderen Seite der Künstler, der hauptberuflich nach Selbstverwirklichung strebt, sich selbst die Regeln gibt und der darüber hinaus etwaige gesellschaftliche Kontexte oder Richtlinien gerne einmal außer Acht lässt. Das Bild vom „Armen Poeten“151 steht bei-spielhaft für einen derartig selbstvergessenen bis versponnenen Menschen, der materialisti-sche Bezüge, Regeln oder Erfolge nicht unbedingt als Ausgangspunkt seines Handelns setzt.

Der, um beim „Armen Poeten“ zu bleiben, im Bett liegend seinen Gedanken, Ideen, inneren Bildern nachhängt und lediglich einen Regenschirm zum Schutz vor äußeren Einflüssen auf-gespannt hat.

Diese beiden Typologien scheinen in verschiedenen Welten zu leben, die unterschiedlicher nicht sein und aus denen sie sich höchstens argwöhnisch beäugen können: Sieht der Künstler den Kaufmann gern als „Koofmich“, bewohnt der Künstler für den Kaufmann ein Wolken-kuckucksheim.

Spinnt man dieses – hier sehr plakativ und holzschnittartig entworfene Bild – weiter und bezieht es auf Maslows Bedürfnispyramide, wird offensichtlich, dass die beiden Typen ihren inneren Magneten, also ihre Ausrichtung und damit auch ihre Motivation, auf unterschiedli-chen Ebenen verorten: Steht der Kaufmann beispielhaft für den Bereich der sozialen und ma-terialistischen Absicherungen, wird die Stufe der Selbstverwirklichung exemplarisch durch den Künstler verkörpert. Wesentlich ist hier, dass man diese Typologien als Stellvertreter liest und ihnen nicht etwa eine wertende, vermeintlich bessere oder wertlosere Rolle zuschreibt.

Im Gegenteil: Die Anwendung der unterschiedlichen Typologien auf Maslows Pyramide ver-deutlicht, wie variabel und individuell die Ausrichtung auf der einen oder anderen Ebene

151 Carl Spitzweg, „Der arme Poet“, 1839, Öl auf Leinwand, München, Neue Pinakothek.

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verankert sein kann. Das Modell so „auf den Menschen“ im Allgemeinen anzuwenden würde zwangsläufig eine Schematisierung und theoretische Einengung bis hin zur Überblendung des Individuums bedeuten.152

Gerade die Bedeutung der Individualität hebt MENTOR.I vor Augen: Die Figur bezeichnet in all ihrer Abstraktion eindeutig einen Menschen – nicht mehr und nicht weniger. Denn gerade durch die abstrakte Darstellung wird der Figur keine charakteristische Typologie zu-geschrieben. Sie besitzt keinerlei Attribute oder Merkmale, die eine Festlegung ihres Charak-ters zulassen würden. Im Gegenteil: Sie meint und zeigt den Menschen im Allgemeinen. Und eröffnet damit eine Projektionsfläche, die zur Selbsterkenntnis einlädt: Welchen Charakter sehe ich in der Figur? Wo erkenne ich mich? Welche Typologie ist mir verwandt? Oder anders:

Welchen Eigenschaften fühle ich mich nahe, welche sind bei mir vorherrschend?

MENTOR.I wird keine Definition geben, nicht vorschreiben, nicht festlegen, nicht fixie-ren. In jedem Augenblick ist man sich bewusst, dass man das, was man in der Figur erkennt, seinen eigenen Augen verdankt: Das, was ich in sie hineinsehe, schenkt mir die Figur als eigene Perspektive zurück.

Dabei ist man keinesfalls alleingelassen: Die bewegte Figur gibt vielmehr eine Initialzün-dung für die eigene Phantasie – und eine Aufforderung, die eigenen Blickwinkel und Pers-pektiven zu erkennen.

In dieser Weise hält MENTOR.I einen Spiegel vor: Welchen Typ sehe ich in der Figur? Und warum sehe ich ihn? Offensichtlich nicht, weil er mir nahegelegt, auferlegt, vorgeschrieben wird – die abstrahierte Darstellung versperrt sich einer Festlegung. MENTOR.I gibt keine Sichtweise vor, sondern verdeutlicht: Es sind eindeutig die eigenen Augen, das eigene Ver-ständnis, die diese Interpretation haben entstehen lassen. Damit setzt MENTOR.I auf ganz

152 Die Kritik an Maslow diesbezüglich ist vielfältig, vgl. Sprenger, S. 47–53.

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unwillkürliche, automatische Weise einen Prozess der Selbstreflexion in Gang: Warum sehe ich das so? Angesichts der Offenheit der Figur kann man sich unmittelbar und direkt der eigenen Perspektive bewusst werden – und damit auch des eigenen Standpunktes.

Gerade hierauf nimmt MENTOR.I in eindrücklicher Weise Bezug: Die Figur verkörpert in ihrer Bewegtheit und ganzen Haltung die Fragen des eigenen Standpunktes. Sie wirkt nicht starr, sondern variabel, beweglich: ein Standbein und ein Spielbein. Darin verdeutlicht sich zweierlei: Das Standbein zeigt die Basis, eben den Standpunkt, während das Spielbein Flexibi-lität suggeriert. Beides gemeinsam verbildlicht die Wege der Kreativität und Weiterentwick-lung. In seiner Haltung zeigt MENTOR.I ganz deutlich: Bewegung, Weiterentwicklung, Kre-ativität sind erst von einem eigenen Standpunkt aus möglich. Und ein Standpunkt bedeutet nicht Starrheit, sondern ist Ausgangspunkt für Fortschritt.

Das Bewusstsein dieses eigenen Standorts ist es, das die Grundlage für jegliche Form des wei-teren Selbstbewusstseins bildet: Erst dies liefert die Voraussetzung für Selbstbestimmung wie für Eigenverantwortung, erst wenn man sich des eigenen Standpunktes bewusst ist, lassen sich Weiterentwicklung und Kreativität überhaupt denken. Und lässt sich hieraus die weitere Frage entwickeln: Wo komme ich her, wo will ich hin?

In diesem Sinn stellt MENTOR.I jeden immer wieder vor die Frage: Auf welcher Ebene meiner Bedürfnisse bewege ich mich jetzt, und wie weit bin ich von meiner Selbstverwirkli-chung entfernt?

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