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1. Die Notwendigkeit eines verbindlichen Leitbildes

1.1 Das natürliche Streben des Menschen nach Bereicherung

„Ich weiß es, der Mensch soll Immer streben zum Bessern; und, wie wir sehen, er strebt auch Immer dem Höheren nach, zum wenigsten sucht er das Neue.“

Goethe (1749–1832), Hermann und Dorothea

Die großen Geister scheinen sich einig: Der Mensch ist bestimmt durch ein ewiges Streben nach Höherem, durch ein – wie Kant es formuliert – „unaufhörliches Fortschreiten“18. Doch was treibt ihn dazu an? Ist es die Suche nach einem lebenswerten Leben, nach Wohlstand, Zufriedenheit, Erfolg, Macht oder sogar Glück?

Fast seziererisch hat der amerikanische Psychologe Abraham H. Maslow die Antriebskräfte des Menschen zu schematisieren versucht und zur Klärung der Frage „Was treibt den Men-schen an?“ ein linear strukturiertes Modell vorgeschlagen. In seinem berühmt gewordenen Pyramidenmodell bringt er verschiedene Bedürfnisse in einen hierarchisch geordneten Zu-sammenhang, indem er sie in fünf Klassen einteilt.19 Die erste Stufe, die das breite Fundament

17 Natürlich dürfen an Überschriften keine Fußnoten hängen – aber hier geht es nicht ohne: Zu nahe liegen die Asso-ziationen an mögliche Gefahren von Bereicherungsstreben; erinnert sei etwa an die Aufforderung des französischen Wirtschaftsministers Guizot, die zum Untergang der französischen Julimonarchie in der Revolution von 1848 führte:

„Enrichissez-vous!“ – „Bereichert Euch!“

18 Kant, Ideen, S. 805. Zur Geschichte des Fortschrittsdenkens vgl. auch Sedláček, Gut und Böse, S. 289  ff.

19 Maslow selbst bezeichnete sein Modell nicht als Pyramidenmodell, sondern spricht beispielsweise von einer „Hierarchie der Vormacht“ und von „Bedürfnisensembles“, vgl. Maslow, Motivation, S. 52, S. 88. Seine Theorie ist jedoch mit dem Bild und der Bezeichnung „Bedürfnispyramide“ bekannt geworden. Vgl. des Weiteren Maslow, Psychologie, ders.:

Motivation, S. 62 ff.

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der Pyramide ausmacht, fasst die körperlichen Bedürfnisse, d. h. Essen, Trinken, Schlafen, Sexualität und Atmen.20 Sind diese Anforderungen unserer Natur befriedigt, treten die wei-teren Bedürfnisse in folgender, aufsteigender Reihenfolge in den Vordergrund: An zweiter Stelle steht für Maslow das Sicherheitsbedürfnis, der Wunsch nach Schutz, Stabilität, Gesetz und Ordnung, auf der nächsten Ebene folgt das Bindungsbedürfnis, es umfasst beispielsweise die partnerschaftliche und familiäre Liebe, danach, als viertes, das Selbstachtungsbedürfnis.21 Die Spitze seines Modells bildet das Wachstumsbedürfnis.22

Die ersten vier Stufen, die sogenannten Mangelbedürfnisse, haben den Reiz, dass sie zumin-dest kurzfristig befriedigt werden können. Dennoch muss sich der Mensch immer wieder aufmachen, um sich sein täglich Brot, die Zuneigung der anderen und die eigene, zu ver-dienen. Seit das Geld zum ultimativen Tauschwert aufgestiegen ist, lassen sich die unteren Ebenen, die physischen Bedürfnisse und in Teilen wohl auch die sozialen, mit barer Münze begleichen. Außerdem sind sie allem Anschein nach messbar. Auskunft über den Grad ihrer Befriedigung gibt scheinbar der Kontostand, das Facebook-Profil oder der Überstundenzet-tel. Und ließe sich in eine Armbanduhr eine Technik einbauen, die den jeweiligen Stand der Glückshormone im Blut verraten würde, wäre das ein Verkaufshit.

Im Grunde hat jedoch die heutige Wohlstandsgesellschaft die erste Ebene längst hinter sich gelassen. Garantierten noch vor dreißig Jahren materielles Wohlergehen und existenzielle Absicherung Glück, und schienen „Geld und Wohlstand [...] die zentralen Verrechnungsein-heiten für Glück zu sein“23, hat sich heute der Wind gedreht. Geld hat an Wert für die

Berech-20 Vgl. Galliker, Gefühle und Bedürfnisse, S. 193.

21 Vgl. Galliker, Gefühle und Bedürfnisse, S. 192–195.

22 Vgl. Galliker, Gefühle und Bedürfnisse, S. 195. 1968 ergänzt Maslow die oberen Stufen noch um das Bedürfnis nach Transzendenz, vgl. Schönpflug, Psychologie, S. 397.

23 Hentschel / Staupe: Glücklichsein, S. 24.

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nung von Wohlstand und Glück verloren. Eine ähnliche Position vertrat schon Leibniz: Nicht in einem „vollkommenen Besitz“ sei Glückseligkeit zu finden, da dieser „unempfindlich und gleichsam stumpf“ machen würde, sondern „in einem dauernden und ununterbrochenen Fortschritt“24. Zwar strebt der Mensch weiterhin danach, seinen erreichten (Wohl-)Stand zu überschreiten, doch hat er grundsätzlich einen anderen Kurs eingeschlagen. Die westeuropä-ische Wohlstandsgesellschaft, die in der Geschichte keine vergleichbare Vorläuferin findet,25 musste feststellen, dass der ständige Konsum nicht zur Sättigung führt und die Bedürfnisse zum Schweigen bringt, sondern im Gegenteil immer neue Bedürfnisse weckt: „Vergleichen Sie doch mal all das, was wir vor 20 Jahren nicht brauchten (Computer, Handys), mit dem, was wir heute objektiv betrachtet brauchen (ultraleichter Laptop, alle zwei Jahre ein neues Handy, ständige und schnelle Verbindung zum mobilen Internet).“26 Diese Gesellschaft sucht jetzt nach einer Neudefinition: Ist sie auf der fünften Stufe von Maslow angelangt?

Maslows Modell ist eines von vielen, das die Antriebskräfte des Menschen, in seiner Körper-lichkeit und seinem ganz menschlichen „Mehrwert“, seinen psychischen und seelischen Beweg-gründen, zu erklären versucht.27 Das Aufwärtsstreben, das die Bedürfnishierarchie so plastisch vor Augen stellt, entspricht hervorragend heutigen Denkmodellen, die sich an Wachstumsprog-nosen und der steigenden Kurve eines Aktienindex laben. Und es kommt dem menschlichen Streben, dem andauernden „Fortschritt vom Schlechteren zum Besseren“28 entgegen.

Bemerkenswert ist, dass Maslows oberste Stufe, die ja das Ziel und die Ausrichtung allen menschlichen Strebens darstellt, durch einen immateriellen Wert gebildet wird: Im Drang

24 Leibniz zitiert nach Ritter, Fortschritt, in: HWdP, Bd. 2, Sp. 1042.

25 Vgl. Hentschel / Staupe, Glücklichsein, S. 24.

26 Sedláček, Gut und Böse, S. 285–286.

27 Galliker, Gefühle und Bedürfnisse, S. 199.

28 Ritter, Fortschritt, in: HWdP, Bd. 2, Sp. 1048.

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nach Selbstverwirklichung sieht Maslow die höchste Motivation der Menschen. Was als steter Drang zum Besseren oder als Streben nach Bereicherung vielleicht im ersten Moment mate-rialistisch klingen mag, wird bei Maslow zu einem immateriellen Wert erhoben, der gewis-sermaßen als stärkster Magnet über allen anderen Kategorien liegt.

Für die heutige Gesellschaft stellt der Soziologe Gerhard Schulze fest: Es „[ist] ein gesellschaft-liches Phänomen: Der Mensch ist bei der Verwirklichung seiner selbst, beim individuellen Glück angekommen“29. Er hat gewissermaßen erkannt, dass es „absurd [ist], immer weiter an einem Haus zu bauen, ohne richtig darin zu wohnen“30. Unabhängig davon, auf welchem Weg er bei dieser Erkenntnis angelangt ist, ob er alle Stufen nach Maslow erklommen oder ihm ein Schnippchen geschlagen und aus den Handlungen der Vorgängergenerationen gelernt hat, im Grunde folgt er dem Muster: einem Streben nach Höherem. Aber – und darin besteht im wortwörtlichen Sinne der Fortschritt – auf seinem Weg zu einem lebenswerten, zufriedenen, erfüllten, glücklichen Leben hat er sich emanzipiert von äußeren, mehr oder minder materi-alistischen Währungen.

Im Unterschied zu den Mangelbedürfnissen, die grundsätzlich zu stillen sind, ist das Bedürf-nis nach Selbstverwirklichung seinem Wesen nach unstillbar. Im Gegenteil: Es entfacht sogar einen immer größeren Hunger. Das Spannungsgefühl, das ein knurrender Magen hervorruft, kann durch ein Stück Brot positiv beendet werden, das Spannungsgefühl, das man erfährt, wenn man bei einer Tätigkeit ganz bei sich ist, reduziert sich nicht, sondern steigert sich noch und treibt an zur Wiederholung.31

29 Hentschel / Staupe, Glücklichsein, S. 24.

30 Schulze, Fortuna und Felicitas, S. 36.

31 Siehe Galliker, Gefühle und Bedürfnisse, S. 196.

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Die Glücksforschung hat einen Begriff für diesen Zustand hervorgebracht: Flow. Der Glücks-forscher und Psychologe M. Csikszentmihalyi beschreibt dieses Gefühl als den Zustand,

„über sich selbst zu verfügen, im Einklang mit sich und der Welt zu sein und sein Schicksal in die eigene Hand nehmen zu können. Bei diesen seltenen Gelegenheiten spürt man ein Gefühl von Hochstimmung, von tiefer Freude, das lange anhält und zu einem Maßstab dafür wird, wie das Leben aussehen sollte.“32 Die Erfahrung des Flow stellt eine immaterielle Währung bereit, ein Streben nach Höherem – ein neues Modell des Glücks?33

Historisch betrachtet, ist das Streben nach persönlichem Glück eine junge Erscheinung.

The pursuit of happiness wurde als Recht erstmals in einem historisch höchst bedeutsamen Dokument formuliert: in der amerikanischen Unabhängigkeits erklärung von 1776.34 Es be-zeichnete „ursprünglich de[n] Traum individueller Freiheit und vom schönen Leben aller [...]

und nicht primär das individuelle Streben nach dem eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf die Interessen anderer“35.

Wenn man vielleicht auch nicht ausschließlich und unbedingt das große Wort „Glück“ im Mund führen will, so kann ein Leitbild doch zumindest den Weg weisen zu einem wirksa-men, lebenswerten, zufriedenen oder ausgeglichenen Leben. Ein Leitbild verbindet die Frage

„Wo liegt das eigene Ziel?“ mit der Herausforderung, dieses auch anzugehen – und gerade darin kann derjenige, der ein Leitbild formuliert, ein Vorbild für andere sein.

32 Csikszentmihalyi, Flow, S. 15.

33 Vgl. Priddat, Glück, Arbeit, Wissen, S. 164.

34 Vgl. Hentschel / Staupe, Glücklichsein, S. 23.

35 Hentschel / Staupe, Glücklichsein, S. 25.

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