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2. Kultur – Zeit – Führung

2.3 Führung: Der unsichtbare Vertrag

2.3.3 Fokus Mensch – Das Vermögen der Menschen

2.3.3.1 Das entmenschlichte Kapital. Ein Exkurs

Das Kapital scheint ein zweischneidiges Schwert, der Umgang mit Kapital eine heikle Sache:

Wird es auch einhellig als Wert verstanden und verwendet, scheint es doch auf der anderen Seite nicht zwangsläufig nur positiv besetzt zu sein. Selbst im Alltagsgebrauch erweckt der Kapitalbegriff widersprüchliche Assoziationen, und spätestens seit Marx wohnt dem Kapital ein bitterer Beigeschmack inne.

Diese Krux des Kapitals wird sinnfällig und erfährt in neuerer Zeit einen Höhepunkt in der Diskussion um den Begriff „Humankapital“, dem 2004 die zweifelhafte Ehre zuteil wur-de, zum Unwort des Jahres gewählt zu sein.

Der Vorwurf, der diesem Begriff gemacht wurde: Der Mensch sei in ihm lediglich auf eine wirtschaftliche Größe reduziert, erfahre also durch „Kapital“ eine entschiedene Einengung bis hin zu einer Abwertung. Die Verteidigung – meistens Ökonomen – sah das ganz anders:

Kapital war in ihren Augen äußerst positiv gefärbt, so dass der Mensch durch diese Wortver-mählung fast eine Bereicherung erfahre, zumindest aber von seiner besten Seite angegangen und beschrieben werde.

Die Kontroverse um diesen Begriff lässt deutlich werden, wo ein Knackpunkt des allgemei-nen Kapitalverständnisses liegt: Kapital wird – ob nun positiv oder negativ verstanden – gern unabhängig vom Menschen gedacht, ja sogar häufig als ein Gegenpart verstanden. Dement-sprechend trifft die in dem Wort „Humankapital“ konstruierte Verbindung von Mensch und Kapital auf derart viel Widerstand, scheinen sich die beiden Wortpartien doch gegenseitig auszustechen, zu beißen, ganz sicher aber nicht gut zu vertragen. Fast könnte man meinen:

entweder Kapital oder Mensch.

Diese angenommene Polarität wirkt, betrachtet man sie etwas genauer, recht unnatürlich bis widersinnig: Schließlich ist Kapital als abstrakte Größe menschlich definiert und daher zwangsläufig nicht unabhängig oder gar losgelöst vom Menschen zu denken.

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Selbst die Wortherkunft trägt noch diese direkte Verbundenheit: Kapital aus dem lateini-schen caput, capitis – „Kopf“, und weiter: capitalis – „den Kopf betreffend“ oder „das Leben betreffend“.130 Die Anzahl der Köpfe (nicht zwangsläufig die Köpfe von Menschen, sondern wohl eher die einer Viehherde) prägte den Ursprung des Begriffs und seiner Bedeutung.

Angesichts dieser ursprünglichen direkten Verbundenheit von Kapital – Kopf – Mensch stellt sich die Frage: Woher stammt nun diese allseits wirkende Entkoppelung des Kapitals vom Menschen? Eine hypothetische Antwort könnte sein: Sie liegt in der Gleichsetzung von Kapital und Geld begründet. Denn im Allgemeinen, im Alltag und vermutlich auch im kol-lektiven Unterbewusstsein scheint folgende Gleichung zu funktionieren: Kapital = Geld.

Der Mensch kommt in dieser Formel augenscheinlich nicht vor, wird weder formuliert noch mitgedacht. Und hier eröffnet sich auch der Grund (oder vielmehr: der Trugschluss!), dass sich die Wertigkeit eines Menschen durch sein geldliches, materielles, also äußeres Kapital steigern, vielleicht sogar gänzlich erschließen lässt.

Eine vordergründig zwar funktionierende, hintergründig betrachtet jedoch äußerst be-fremdliche Vorstellung ist die, dass der Mensch seine Wertigkeit aus dem äußeren Kapital he-raus definieren oder ableiten kann. Diese Sichtweise gründet offenbar in einem Verständnis, welches das Kapital nicht länger als eine menschliche, da vom Menschen geschaffene Größe fasst, sondern berücksichtigt, dass sich die Verhältnisse vielmehr genau umkehrt haben: Der Mensch ist in Abhängigkeit zum Kapital geraten.

Dies erscheint umso erstaunlicher, wenn man sich etwa mit Sedláček vor Augen führt,131 dass alle großen, alten wie neuen Mythen – von Gilgamesch bis zum Herrn der Ringe – in keinster Weise das Geld im Sinn haben, mehr noch: Geld scheint überhaupt nicht

vorzu-130 Zur Wortherkunft vgl. Duden: Das Herkunftswörterbuch, S. 327 f. Interessant ist des Weiteren der Zusammenhang von Kapital – caput: „Haupt, Spitze – und Führung“.

131 Zum fehlenden Geld im Mythos vgl. Sedláček, Gut und Böse, S. 34.

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kommen, kein Thema zu sein. Man könnte also berechtigterweise fragen, woher die allum-fassende Herrschaft des Geldes und die Identifikation von Kapital und Geld rührt, welchen Mechanismen sie genügt, welcher „unsichtbaren Hand“ sie folgt.132

Ob diese Entwicklung nun als Folge eines gesellschaftlichen Prozesses, einer konsensgetra-genen Tradition oder aus einer unbewusst übernommenen Einstellung resultiert, sei dahin-gestellt. Erstaunlich jedoch ist es allemal, wie gern man diesem Selbstverständnis zu folgen gewillt ist: Jeder kennt den erfolgreichen Menschen, der sich über seinen Erfolg, sein Geld, sein Kapital definiert, daraus sein Selbstbewusstsein generiert, ableitet, ja sich derart identi-fiziert – und letztlich auch so wahrgenommen und eingeschätzt wird. Nichts ist erfolgreicher als Erfolg, Geld macht schöner – man weiß um mannigfaltige, zwar spöttisch gemeinte, aber dennoch äußerst sinnfällige Phrasen.

Die Ablösung des Kapitals vom Menschen einerseits und die Identifikation des Menschen über das äußere Kapital auf der anderen Seite initiiert einen eigentümlichen und äußerst dy-namischen Prozess: Zum einen sieht sich der Mensch in einem Ranking, ja fast in Konkurrenz zum Kapital gesetzt. Kapital erscheint als Stier, den man an den Hörnern packen, als Tiger, den man reiten muss. In gleichem Maße, in dem das Kapital zum Gegenüber des Menschen wird, vermag es auch die Aufwertung bis hin zu einer Identifikation des Menschen über den Wert des Kapitals einzufordern. Und in dieser Weise zwar schleichend, doch fast unweiger-lich eine Umkehr der Verhältnisse bis hin zu einer neuen Abhängigkeit zu erschaffen. Denn eines erscheint in dieser Perspektive nur zu deutlich: Der Mensch hält gewissermaßen nicht länger die Zügel in der Hand oder agiert als autonome, unabhängige Größe. Nein, der

allge-132 An dieser Stelle ist leider nicht der Raum, derartigen Fragen genauer nachzugehen. Vgl. hierzu allgemein Sedláček, auch in Bezug auf die Adam Smith zugeschriebene „unsichtbare Hand des Marktes“, Sedláček, Gut und Böse, S. 27, S. 247–249, S. 312–338.

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meine Glaube lautet: Kapital will verdient und bezwungen werden.133 Das Kapital schreitet vorweg, gibt die Regeln vor – und der Mensch folgt.

Fast unabänderlich scheint also der Mensch dem Kapital anheimgefallen, sich willfährig unter seine Herrschaft begeben zu haben. Und sehr weit entfernt davon liegt die Vorstellung eines Humankapitals, das seine Werte genuin aus dem Menschen schöpft, ja sich ganz über den Menschen definiert.

Ist die oben dargestellte Zustandsskizze auch zugegebenermaßen polemisch gefasst, verdeut-licht sie doch die mentalen Implikationen, die sich an einem Begriff wie „Humankapital“ ent-fachen bzw. verdeutlichen können. Je nachdem, ob man Kapital positiv oder negativ versteht, ob man den Menschen oder aber das Kapital als tonangebend voraussetzt, bewegt sich der Begriff ins Pejorative oder Positive. Kurz könnte man sagen: Kapital pro oder contra Mensch?

Interessanterweise sind es bei der angerissenen Kontroverse um das Unwort des Jahres 2004 gerade die Sprachwissenschaftler, die eine Abwertung des Menschen durch das Kapi-tal befürchten – also unhinterfragt und selbstverständlich von einer Herrschaft des KapiKapi-tals ausgehen, ja diese voraussetzen. Und auf der anderen Seite wiederum sind es vornehmlich die Ökonomen, die den Kapitalbegriff verteidigen, da sie ihn als Beschreibung eines menschli-chen Vermögens deuten und somit den Fokus auf den Mensmenschli-chen legen.

133 Vgl. hierzu Sedláček, Gut und Böse, S. 26, der den alttestamentarischen Paradigmenwechsel untersucht: Arbeit gilt spätestens mit dem Sündenfall nicht mehr als Erfüllung und lebenswerte Aufgabe der Menschheit, sondern als Übel, dem der Mensch „im Schweiße seines Angesichts“ unterworfen ist. An dieser Stelle ist auch der wesentliche Unter-schied zwischen Beruf und Berufung anzunehmen: Der Beruf als äußere, extrinsisch motivierte Kategorie, scheint eher „im Schweiße“ angesiedelt zu sein, während die Berufung „Muße mit Würde“ und eine unausweichliche, nicht zu hinterfragende, persönliche, innere Bestimmung voraussetzt.

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Die Frage, die sich unwiderruflich stellt, ist die nach einer denkbaren Harmonisierung: Ist es möglich, die beiden scheinbar so unvereinbaren Gegenpole auszugleichen, einander anzunä-hern, bis hin zu einer wieder vom und für den Menschen geschaffenen Wertzuschreibung?

Gewissermaßen dem Menschen wieder die Verantwortung einer Wertschöpfung zurückzu-geben und in gleichem Maße den Kapitalbegriff ins Positive zu transformieren?

Die Fragestellung selbst birgt schon ihre Antwort: Erst wenn man dem Kapital seine menschlichen Werte zuerkennt und wenn man den Menschen als Ausgangspunkt und da-mit als Wertegeber des Kapitals wahrnimmt, wird eine Harmonisierung bis hin zu einer ge-genseitigen Aufwertung beider Seiten möglich. In diesem Moment wird die Auflösung der mentalen Abhängigkeit vom Kapital denkbar, und in gleichem Maße erfährt das Kapital eine Rückführung seiner einstigen Bedeutung: als ein vom Menschen und für den Menschen ge-schaffener Wert.