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Man gab ihm den Rat, sich in Moskau niederzulassen, Bekannte beschaff- beschaff-ten ihm einige gut bezahlte Stunden in zwei, drei Häusern jüdischer

Kauf-leute, die ihren Kindern eine jüdische Bildung ermöglichen wollten. Das

»Wohnrecht« rieten sie folgendermaßen anzuwenden: unsere Mutter solle eine Weißnäherei eröffnen und mein Vater, in der Hoffnung auf die Gnade der Polizei, bei seiner Frau als Angestellter unterkommen,

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dies würde

linskij Kraj) dem Russischen Reich angeschlossen, aber weiterhin Königreich Po-len (poln. Królestwo Polskie, russ.Carstvo Pol’skoe) genannt.

27 Russ.obˇsˇcestvennaja ˇskola– die Elementarschule, die von den lokalen jüdischen Gemeinden unterhalten wurde, um vor allem Kindern aus armen Familien eine Schulbildung zu ermöglichen.

28 Auch Dubnov hatte Zeit seines Lebens mit dem Problem der Legalisierung des Wohnrechts in Petersburg zu kämpfen. So riet man ihm z.B. 1890, sich pro forma als Setzer in einer Druckerei anstellen zu lassen, ihm war es aber »zuwider, mich auf ein derartiges Manöver einzulassen, deshalb bat ich Landau, ein Gesuch mit der Bitte um Wohnrecht in der Stadt als Schriftsteller über Baron Ginzburg ein-zureichen«; siehe Dubnow, Buch des Lebens (Anm. 3), Bd. 1, 259f., was jedoch abgelehnt wurde; siehe ebd., 266f. In seinen Erinnerungen schildert Dubnov im-mer wieder die zermürbenden und erniedrigenden diesbezüglichen Prozeduren, u.a. 1912, als er versuchte, die Verlängerung des Wohnrechts auf vier Jahre zu er-wirken. »Die alljährliche Bitte um das ›Hunde-Recht‹ beim Innenministerium war mir schon lange zuwider, und ich entschloß mich zu einer neuen ›Frechheit‹:

[…] um Verlängerung des Wohnrechts für eine längere Frist zu bitten.« Das Er-gebnis war negativ, ihm wurde das Wohnrecht lediglich für ein weiteres Jahr

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auch das Familienbudget vergrößern. So taten sie es und alles lief gut: Va-ter unVa-terrichtete und MutVa-ter nähte uns Kindern Wäsche in der eigenen

»Werkstatt«. Doch unser Glück währte nicht lange. Es kam das denkwür-dige Pessach 1891, die Zeit der grausamen »Austreibung aus Moskau«

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. Ich erinnere mich des Frühlingsmorgens im März in einer der Moskauer Synagogen, wo ich zusammen mit meinem Vater betete. Während des Fei-ertagsgottesdienstes lief ein aufgeregtes Flüstern durch die Reihen der Be-tenden. Die Männer standen in Gruppen beisammen und redeten erregt miteinander. Worte wie »Ukas des Zaren … die Juden aus Moskau austrei-ben …« waren zu hören. Bleiche Gesichter, hängende Köpfe. Besonders traurig klang später die Stimme des Kantors beim Schlussgebet, dem Mu-saf.

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Alle gingen nach Hause und konnten schon am folgenden Tag den verhängnisvollen Ukas in den Zeitungen lesen.

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Die Bestimmung betraf

gesprochen: »So war ich […] wieder zum alljährlichen Bittgang verurteilt«; siehe Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 2, 138.

Als er sich mit dem Gedanken an die Niederschrift der vorliegendeGeschichte eines jüdischen Soldaten trug, war wieder einmal ein Gesuch um Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis in Petersburg/Petrograd fällig geworden. Das nach einer Ablehnung des Antrags (siehe Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 2, 188; 191) und zusätzlicher Intervention schließlich am 20. Januar 1916 vom Innenministe-rium doch noch ausgestellte Dokument bescheinigt, dass »dem Juden Simon Meerov[iˇc] [d. i. Sohn des Meer (Me’ir)] Dubnov der Aufenthalt in Petrograd für das laufende Unterrichtsjahr« gestattet wird, also lediglich bis zum Sommer, d.h. für ein halbes Jahr. Siehe dazu Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 2, 192. Der vollständige Wortlaut dieser diskriminierenden Bescheinigung des russischen Innenministeriums vom Januar 1916 über die Erteilung der Aufenthaltserlaub-nis für den »Juden Simon Meerov Dubnov« findet sich unter III. Dokumente, S. 220. Das Original dieses Schreibens befindet sich im Nachlass Simon Dubnovs in den Jerusalemer Central Archives for the History of the Jewish People (P1).

29 Siehe dazu Dubnow, History, Bd. 2, 399–411 [Nachdruck 405–412]; Weltge-schichte, Bd. 10, 183–190, sowie Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, 282f.

30 Zusätzliches Gebet zum Schluss des Gottesdienstes am Schabbat und an Feier-tagen.

31 Am 28. März 1891, dem ersten Pessach-Tag, wurde ein Ukas des Zaren veröffent-licht, der für Moskau und das Gouvernement Moskau die bisherigen Privilegien des Wohnrechts für jüdische Handwerker und Angehörige sonstiger Gewerbe aufhob. Der Ukas hatte folgenden Inhalt: »Jüdischen Mechanikern, Branntwein-brennern, Bierbrauern und Handwerksmeistern wie Gewerbetreibenden über-haupt ist es zu untersagen, aus dem jüdischen Ansiedlungsrayon, aber auch aus 5

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sämtliche jüdische Handwerker und auch Facharbeiter, unabhängig da-von, wie lange sie in Moskau ansässig waren. Die Polizeiwillkür nahm ih-ren Anfang. Die ersten Opfer waih-ren die fiktiven Handwerker; den tatsäch-lichen Handwerkern wurden verschiedene Fristen für das Verlassen der Stadt gesetzt, von drei bis neun Monaten. Unsere Familie geriet natürlich in die Rubrik der zu bestrafenden, die die Stadt unverzüglich zu verlassen hatten.

Ich erinnere mich an die schreckliche Nacht, die auf die Veröffent-lichung dieses Ukas’ folgte. Mitfühlende Menschen hatten uns gewarnt, in der Nacht würde das jüdische Ghetto in Moskau gestürmt werden – eine

»Treibjagd« stünde im Viertel Glebovskoe podvor’e

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bevor, wo vor allem die Illegalen oder jene mit fiktivem Wohnrecht Unterschlupf gefunden hatten, darunter auch unsere Familie. In der Furcht vor einer Festnahme beschloss mein Vater wie viele andere, die Nacht mit uns außerhalb des Hauses im Freien zu verbringen, denn niemand hätte uns Illegale zur Nacht aufgenommen. So wanderten wir vier – Vater, Mutter, meine Schwester und ich – in der kalten Märznacht durch die Straßen der Stadt.

anderen Teilen des Kaiserreiches, nach der Stadt und dem Gouvernement Mos-kau überzusiedeln. […] Es ist dem Innenminister anheimzustellen, im Einver-nehmen mit dem Moskauer Generalgouverneur dafür Sorge zu tragen, dass die obenerwähnten Juden aus der Stadt und dem Gouvernement Moskau nach und nach in die Gegenden abwandern, die den Juden zum dauernden Aufenthalt an-gewiesen sind«; zitiert nach Dubnow, Weltgeschichte, Bd. 10, 185). Als Ziel der Maßnahmen wurde im Ukas genannt, »das Gouvernement Moskau von den dort berechtigterweise wohnhaften Juden nach Möglichkeit zu befreien«; ebd., 203.

Dementsprechend hatten nicht nur alle illegal in Moskau wohnenden Juden die Stadt bzw. das Gouvernement sofort zu verlassen, sondern auch den legal ansäs-sigen wurde ebenfalls eine Frist gesetzt, nach deren Ablauf sie nicht mehr gedul-det wurden. Am 23. Juni 1892 wurde die neue Moskauer Synagoge geschlossen.

An die zwanzigtausend Juden, von denen viele seit Jahrzehnten in Moskau gelebt hatten, wurden in den Ansiedlungsrayon ausgewiesen, wo sie keinerlei Lebens-grundlage besaßen. Viele entschlossen sich zur Auswanderung. Zu den Folgen dieses Ukas’ siehe Dubnow, History, Bd. 3, 12–15; Dubnow, Weltgeschichte, Bd. 10, 202–204.

32 Russ.Glebovskoe podvor’e– damals ein ärmliches Viertel in der Moskauer Altstadt unweit des Kreml an der Moskva, im StadtteilZarѕdцe/Zarjad’e. Benannt war es nach einem Gasthof (»Glebs Hof«), in dem Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausschließlich abzusteigen gestattet war, wenn sie sich in der Stadt aufhielten.

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Der verräterische Pessachmond

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hinderte uns daran, uns am Boulevard