• Keine Ergebnisse gefunden

6. Diskussion

6.1 Überblick über die Ergebnisse

6.1.4 Modulation der EPN durch den ELS

Hinsichtlich der Modulation der EPN durch den ELS wurde erwartet, dass das Ausmaß des präpubertären Stresses die Verarbeitung affektiver Bilder Diagnose-übergreifend moduliert. Die Ergebnisse bezüglich des modulierenden Einflusses der unterschiedlichen Stressbelastung auf die Verarbeitung affektiver Bilder müssen jedoch aufgrund der ungleichen Verteilung der Probanden (16 Probanden in der hoch-belasteten Gruppe: 15 Patienten und eine Vergleichsperson; 36 Probanden in der gering-belasteten Gruppe: 17 Patienten und 19 Vergleichspersonen) mit besonderer Vorsicht interpretiert werden. Zwar wurden aufgrund dieser Asymmetrie die EPN-Muster zwischen den Patienten-Substichproben (hoch- und gering-belastet) und der

7 Der Begriff top-down meint in diesem Zusammenhang eine Lenkung von Aufmerksamkeitsressourcen auf der Basis höherer kortikaler Leistungen, beispielsweise durch Pläne, Ziele und Erwartungen eines Organismus.

Vergleichsgruppe als eine separate Stichprobe verglichen, aber dennoch sind starke Verzerrungen der Ergebnisse nicht auszuschließen und Generalisierungen nicht möglich.

Patienten mit hoher Stressbelastung tendierten im Gegensatz zu Patienten mit geringer Stressbelastung zu geringeren EPN-Amplituden und geringerer Unterscheidung zwischen unangenehmen und neutralen Stimuli. Dieser Effekt blieb auch erhalten, wenn 19 gering-belastete Vergleichsprobanden als dritte Gruppe einbezogen wurden und er war vor allem in der rechts-hemisphärischen ROI deutlich.

Obwohl Overmier und Seligman bereits 1967 bei Tierexperimenten zeigen konnten, dass Hunde, die wiederholt einen elektrischen Schlag nicht kontrollieren konnten, ein generalisiertes Gefühl von Hilflosigkeit entwickeln, scheint die vorliegende Studie die erste zu sein, die eine derartige Einschränkung in der affektiven Verarbeitung bei Patienten mit hoher Stressbelastung in der Kindheit demonstriert. Die Reaktion auf unangenehme Stimuli war bei den hoch-belasteten Patienten reduziert. Als Konsequenz können sie mit den affektiven Verarbeitungsherausforderungen, die in der menschlichen Umgebung auf sie einströmen, nicht adäquat umgehen. Dies wäre aber zum Beispiel vor allem bei der Vermeidung von unangenehmen und schädlichen Stimuli wichtig. Auch Papp, Willner und Muscat (1991) zeigten bei Tierexperimenten, dass Ratten, die wiederholt unvermeidbarem Stress ausgesetzt waren, eine Hyporeaktivität sowohl auf aversive als auch appetitive Stimuli entwickeln. Die große Anzahl von Patienten mit MDD in der Gruppe mit der hohen Stressbelastung (16 Probanden: 8 Patienten mit MDD, 4 Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung, 2 mit einer psychischen und Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen, 1 schizophrener Patient und 1 Vergleichsperson) und die reduzierte Reaktion auf unangenehme Stimuli der hoch-belasteten Patienten lässt einen Zusammenhang zwischen der Stressbelastung, der Psychopathologie und der affektiven Verarbeitung annehmen. Eine mögliche Erklärung dieser Beziehung ist die Theorie der gelernten Hilflosigkeit (Seligman & Beagley, 1975). Sie wurde oft als ein mögliches ätiologisches Modell der Depression beschrieben. Danach entsteht aufgrund von unangenehmen Erfahrungen ein erlerntes Gefühl der Passivität, welches sich schließlich zur Depression entwickelt. Ursprünglich war dies eine Lerntheorie, die aufgestellt wurde, um das Verhalten von Hunden zu erklären, denen schmerzhafte elektrische Schläge verabreicht wurden (Overmier &

Seligman, 1967). Nach den ersten elektrischen Schlägen, denen sie nicht ausweichen konnten, rannten sie nicht mehr aufgeregt umher, sondern schienen aufzugeben und den

Schmerz passiv über sich ergehen zu lassen. In der darauf folgenden Versuchsanordnung konnte der Schock vermieden werden, aber die passiven Hunde lernten die Vermeidungsreaktion nicht so gut und effektiv wie die Kontrolltiere.

Seligman und Beagley (1975) gingen davon aus, dass Tiere, die unkontrollierbaren aversiven Reizen ausgesetzt worden waren, sowohl die Fähigkeit als auch die Motivation verlieren, auf schmerzhafte Reizung effektiv reagieren zu lernen. Diese Auswirkungen von unkontrollierbarem Stress ließen vermuten, dass gelernte Hilflosigkeit ein Modell für zumindest einige Formen der Depression beim Menschen sein könnte. Die vorliegende Studie liefert den Hinweis, dass sich diese Auswirkungen in einer veränderten Verarbeitung affektiver Stimuli niederschlagen.

Eine andere Erklärungsmöglichkeit der geringeren EPN-Amplituden und geringeren Unterscheidung zwischen unangenehmen und neutralen Stimuli bei Patienten mit hoher Stressbelastung basiert auf der Theorie der motivierten Aufmerksamkeit (Lang, Bradley & Cuthbert, 1997). Nach dieser Theorie werden selektive Aufmerksamkeitsprozesse in natürlichen Situationen besonders durch motivational bedeutsame Reize gesteuert. Die motivationale Bedeutsamkeit der Reize leitet sich aus motivationalen Zuständen der Individuen (z. B. Bedrohung) ab. Bezogen auf den ELS ließe sich vermuten, dass bei hoch-belasteten Personen die motivationale Relevanz bedrohlicher Reize reduziert ist. Eine Möglichkeit diese natürlich-selektive Aufmerksamkeit für emotionale Reize zu überprüfen wäre das dot-probe-Paradigma.8

Cabib und Puglisi-Allegra (1996) zeigten in ihrem Review-Artikel auf, dass stressvolle Erfahrungen abhängig von der Dauer zu unterschiedlichen Verhaltenseffekten führen können. So könnte bereits die einmalige unkontrollierbare aversive Erfahrung sowohl zu einer Hemmung der Dopaminausschüttung, als auch zu einer verminderten Reaktion auf belohnende und aversive Stimuli führen. Wiederholte und chronisch stressvolle Erfahrungen könnten die Fähigkeit von Stressoren, das Verhalten zu unterbrechen, reduzieren, eine Verhaltenssensitivierung gegenüber Psychostimulantien induzieren und adaptive Veränderungen der Funktion des mesolimbischen Dopaminsystems fördern.

8 In einem Dot-Probe-Experiment werden links und rechts von einem Fixationskreuz zwei Bilder für kurze Zeit dargeboten. Nachdem die Bilder verschwunden sind, erscheint an der Stelle, wo kurz zuvor eines der Bilder zu sehen war, ein Punkt (dot). Die Aufgabe der Versuchsperson besteht darin, in einer spontanen Wahlreaktion anzugeben, ob der Punkt links oder rechts vom Fixationskreuz zu sehen war.

Punkte nach zuvor beachteten Bildern werden schneller detektiert.