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4. Besondere Merkmale und Deutungsaspekte

4.2. Theorie der Leerstelle und Bedeutung der Leere

4.2.3. Metaphorische Leerstellen

4.2.3. Metaphorische Leerstellen

Neben den malerisch offensichtlich im Bild ausgeführten, visuellen Leerstellen fällt in Tuymans’ Werken zum Thema NS-Zeit und Holocaust eine zweite Art von Leerstellen auf. In den Arbeiten, die sich verstärkt mit den Orten befassen, an denen die Schrecken des Holocaust verübt wurden, sind weniger offensichtliche Leerstellen vorhanden, die im Folgenden als metaphorische Leerstellen bezeichnet werden sollen. Diese werden teilweise überhaupt erst durch Paratexte aufgezeigt, die gleichzeitig ein Angebot zur Interpretation liefern. Bei Gaskamer ist der Werktitel nicht nur der Schlüsselreiz, der auf die in dem kellerartigen Raum verübten

Gräueltaten rekurriert, sondern er eröffnet erst die Möglichkeit, den leeren Raum als Leerstelle zu erkennen. Der Titel des Gemäldes stößt eine Veränderung der Wahrnehmung des Motivs an, durch die die Leerstelle deutlich hervortritt und ein Umdenken beim Betrachter hervorgerufen werden kann. Anders als bei Iser, in dessen Theorie die Besetzung der Leerstellen weniger stark eingeschränkt ist und der Vorstellungskraft der Leser zumindest theoretisch viele Möglichkeiten lässt, wird bei Tuymans mit dem Titel die Interpretationsrichtung bereits stärker vorgegeben.

Der Theorie Kemps folgend ist es oft nicht eine einzige Leerstelle, sondern vielmehr eine Sammlung vieler, mit der das Bild den Betrachter konfrontiert. Auch bei Gaskamer lassen sich weitere Leerstellen ausmachen. So können die lasierenden Farbüberlagerungen, die Schatten im Raum, ebenfalls als Leerstellen angesehen werden. Werden sie ohne Kenntnis des Titels möglicherweise lediglich als gewöhnliche Schatten wahrgenommen, können sie in Anbetracht des Titels als gespenstisch und geisterhaft empfunden werden. Die motivisch reduzierte und dadurch semantisch offene Darstellung des Raumes in Verbindung mit dem Titel des Bildes kann die Wahrnehmung des Rezipienten beeinflussen. Es entsteht eine Leerstelle im Sinne der Theorien Isers und Kemps, die den Betrachter fordert und eine Kommunikation mit dem Werk anregt oder verändern kann. Aus der Betrachtung eines harmlos wirkenden Keller- oder Duschraums kann durch den Werktitel ein Ort des Todes werden.

Darüber hinaus kann in Gaskamer auch eine Leerstelle beschrieben werden, die auf eine zeitliche Verschiebung verweist. Am Beispiel von Der Tod des Marschall Ney von Léon Gérôme aus dem Jahr 1868 beschreibt Kemp die Auswahl und die Darstellung des festgehaltenen Moments als Leerstelle. Der Betrachter des Bildes sieht demnach nicht die eigentliche Tat, sondern den bereits erschossenen Marschall am Fuße der Mauer liegen, vor der er zuvor exekutiert wurde.352 Analog zur Auslegung Kemps kann auch bei Gaskamer eine zeitliche Leerstelle lokalisiert werden. Indem eben keine Menschen kurz vor, während oder nach der Tötung gezeigt werden, kann eine zeitliche Verschiebung angenommen werden. Dem Betrachter wird der Raum entweder vor oder nach solchen Tötungsaktionen präsentiert – eventuell auch aus heutiger Sicht, in der die Gaskammer ihre

KEMP 1992b, S. 316f.

352

liche Funktion nicht mehr erfüllt. Die Abwesenheit von Menschen in einem Raum, der doch einzig zum Zweck ihrer Vernichtung konzipiert wurde, lässt den Betrachter stutzen. Die Opfer fehlen hier und gerade dieses Fehlen macht sie in der Vorstellung des Betrachters äußerst präsent, lässt sie eine Leerstelle eröffnen.

Mit Kenntnis der Vorlage lässt sich auch bei Our New Quarters eine meta-phorische Leerstelle erkennen. Auf der Postkarte, die Tuymans als Vorlage diente, sind mehrere Menschen zu erkennen, die Tuymans in seinem Gemälde offensichtlich bewusst aussparte. Ein Vergleich des Gemäldes mit der Postkarte verweist folglich auch auf ein Fehlen von Menschen. Dieses wiederum kann wie bei Gaskamer durch den gewählten Ort, ein Konzentrationslager, und das irritierende Fehlen der Menschen die Aufmerksamkeit erst auf die Ermordung und das Leid der Opfer lenken. Der leere Platz auf der ersten Tafel von Die Zeit regt in Verbindung mit dem palimpsestartigen Satz „Niets in zicht“ und unter Kenntnis des Hintergrunds sowie der Vorlage beispielsweise Assoziationen zu möglichen Versammlungen von Tätern, einer Ansammlung von zu Deportierenden oder Exekutionen an. Durch das Fehlen von Personen in Zusammenhang mit der Aufschrift wird hier auf etwas verwiesen, was vom Zeitpunkt der Darstellung aus betrachtet entweder noch geschehen könnte oder bereits geschehen ist. Ähnliches könnte auch auf die Leere bei Our New Quarters zutreffen.  

Die metaphorischen Leerstellen wie in Gaskamer oder Our New Quarters sind weniger offensichtlich als die malerisch manifestierten visuellen Leerstellen in Der Architekt oder Wandeling. Da sie innerhalb der Bilder nicht sofort auffallen, sind sie zunächst eher als Rezeptionsangebote denn als -vorgaben zu verstehen. Die Paratexte wirken hier jedoch unterstützend und weisen mitunter so deutlich in eine Richtung der Interpretation, dass sie als Rezeptionsvorgabe fungieren. Im Gegensatz zu den visuellen Leerstellen, ergibt sich die zweite Form von Leerstellen primär aus den Kontexten der Werke, wie zum Beispiel Werktiteln oder Vorlagen. Mit dem Wissen, dass sich Tuymans in Arbeiten wie Die Zeit, Our New Quarters, Schwarzheide oder Gaskamer mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust auseinandersetzt, wird das Fehlen von Personen und Körpern auffällig. Auf keinem der angeführten Werke sind Häftlinge, Zwangsarbeiter, misshandelte Opfer oder Leichen zu sehen. Bedeutsam ist dies vor allem, da Tuymans häufig auf Orte verweist oder diese abbildet, an denen Menschen zu Opfern des Nationalsozialismus

wurden und sogar ihr Leben verloren. Zudem sind in den von ihm verwendeten Vorlagen durchaus Menschen zu sehen, die er bei der Umsetzung in seinen Arbeiten bewusst tilgt. Das Fehlen der Opfer an aussagekräftigen und ausschlaggebenden Orten kann als Aufzeigen der Leere verstanden werden, die jeder einzelne Mensch, der hier starb, hinterließ. Die visuelle Auslassung der Opfer des Nationalsozialismus kann daher als eine metaphorische Leere und Leerstelle verstanden werden, die subtiler ist als Tuymans’ visuelle Leerstellen. Die Leerstellen sind die Ansatzpunkte im Bild, die dem Betrachter die Möglichkeit zur Vollendung bieten. Diese Deutung entspricht Tuymans’ Vorstellung von einem guten Bild, das sich dadurch auszeichne,

„dass der Betrachter ihm noch etwas hinzufügt“.353

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4.3. Erinnerung, Erinnerungsvermittlung und die Frage nach der

Undarstellbarkeit