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4. Besondere Merkmale und Deutungsaspekte

4.1. Aufarbeitung der Vergangenheit – Entwicklungen und Diskurse

Bisher wurde Tuymans’ Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust nur aus dessen privaten Gründen heraus erklärt. In manchen Beiträgen wird Tuymans’ familiärer Hintergrund, genauer sein Elternhaus, als Beweggrund genannt.294 Aufgewachsen sei er mit häufigen Gesprächen über den Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen,295 da seine Mutter aus einer belgischen Familie stamme, die im Widerstand gegen die deutschen Besatzer engagiert gewesen sei, während sein Vater in den Niederlanden in einer mit den Nationalsozialisten kollaborierenden – oder sich zumindest nicht auflehnenden – Familie aufgewachsen sei. Diese familiäre Situation habe für Spannungen gesorgt und zu etlichen Diskussionen innerhalb der Familie geführt, die den Künstler beeinflussten.296

Der Zeitpunkt für Tuymans’ Auseinandersetzung mit der Thematik fand bisher allerdings noch keine Erwähnung in Beiträgen zu seinen Werken. Genette bemerkt in seinen Ausführungen zum Begriff der Paratexte auch, es stehe fest, „daß das historische Bewußtsein der Epoche, in der ein Werk entstand, für dessen Lektüre selten ohne Belang ist.“297 Schwerer als die sogenannten „faktischen Paratexte“ lässt sich der historische Kontext eines Werkes bestimmen. Dennoch gilt es laut Genette festzuhalten, „daß jeder Kontext als Paratext“ und folglich mit dem Werk gemeinsam wirkt.298 Dieser Ansicht folgend sollten auch Tuymans’ Bilder im Zusammenhang mit ihrer Entstehungszeit betrachtet werden. Der Aspekt, warum Tuymans sich in den 1980er Jahren verstärkt mit der Thematik auseinandersetzt, fehlt bisher in der Forschung. Gerade in dieser Zeit kann jedoch ein Umdenken sowie ein Umbruch in der belgischen Wissenschaft und Gesellschaft bemerkt werden. Bis zum Ende der 1970er Jahre wurde die NS-Zeit und die damit verbundene eigene Geschichte, die eigene Verbindung zum Nationalsozialismus und zum Holocaust, in Belgien nur geringfügig untersucht oder aufgearbeitet.299 In der Öffentlichkeit war das Thema

Vgl. SCHENK-SORGE 2001, S. 334; vgl. SPEARS 2010, S. 26.

294

JOCKS 2001, S. 343.

295

SPEARS 2010, S. 26.

296

GENETTE 1989, S. 14f.

297

Ebd., S. 14f.

298

BEYEN 2004, S. 81; MEINEN 2009, S. 10f.

299

lange Zeit nicht präsent.300 So spielten auch die Opfer des Holocaust in den Diskussionen um Entschädigungen kaum eine Rolle. Selbst in dem zu Beginn der 1960er Jahre zwischen Belgien und Deutschland im Rahmen der „Wiedergut-machung“ geschlossenen Abkommen hatten die Opfer der Nationalsozialisten keine hervorgehobene Stellung inne.301 Im Gegensatz zu den Entwicklungen in Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden rief selbst der Eichmann-Prozess 1961 keine stärker einsetzende öffentliche Wahrnehmung des Holocaust in Belgien hervor.302 Das Ausbleiben einer Rezeption internationaler Entwicklungen in den 1970er Jahren, eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus und seiner Auswirkungen in Europa eingeschlossen, erklärt Christoph Brüll mit den sich immer stärker zuspitzenden innerbelgischen Konfrontationen zwischen Flamen und Wallonen.303 In der belgischen Öffentlichkeit änderte sich das Ausbleiben der Thematik, als die US-amerikanische TV-Serie Holocaust 1978/79 im belgischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Sie erreichte einen neuen Quotenrekord.304 Pionierarbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Aufarbeitung der eigenen nationalen Vergangenheit leistete zudem der belgische Historiker Maxime Steinberg. Sein zwischen 1983 und 1987 publiziertes Werk L'Étoile et le Fusil gilt als Standardwerk für eine Ausein-andersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen in Belgien.305 Steinberg liefert in dem drei Bände umfassenden Werk eine Analyse der antijüdischen Politik der Besatzer und geht überdies auf die Beteiligung der belgischen Behörden und Kollaborateure ein. Des Weiteren untersucht Steinberg die Reaktion der Juden, den organisierten Widerstand gegen die Nationalsozialisten und beleuchtet die den Juden mitunter geleistete Hilfe der belgischen Bevölkerung.306

In Deutschland sorgte die als Historikerstreit bekannt gewordene Debatte um den gesellschaftspolitischen und historiographischen Umgang mit der national-sozialistischen Vergangenheit 1986/87 für Aufsehen. Auslöser des Historikerstreits war ein Artikel des Historikers Ernst Nolte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

BRÜLL 2008, S. 43; DOORSLAER 2003, S. 239.

Vgl. hierzu STEINBERG, Maxime, L‘Etoile et le fusil, Bd. 1: La Question juive 1940-1942, Brüssel

306

1983; ders., L‘Etoile et le fusil, Bd. 2: Le Cent Jours de la déportation des Juifs de Belgique, Brüssel 1984; ders., L‘Etoile et le fusil, Bd. 3: La Traque des Juifs, 1942-1944, Brüssel 1987. Für eine zusammenfassende, den neuen Forschungsstand berücksichtigende Darstellung vgl. ders., La persécution des Juifs en Belgique (1940-1945), Brüssel 2004.

Nolte verglich darin den Holocaust mit den ihm vorausgegangenen Verbrechen in der Sowjetunion und sprach ihm seine Singularität ab.307 Andreas Hillgruber, ebenfalls Historiker, teilte Noltes Sichtweise. Gegen diese Ansichten wandte sich als prominentester Kritiker der Philosoph Jürgen Habermas. Er kritisierte in einem Beitrag für Die Zeit Noltes und Hillgrubers Negation der Tatsache, dass der Holocaust einzigartig gewesen sei.308 Unterstützung fand Habermas vor allem bei linksliberalen Sozialhistorikern wie Hans Mommsen, Heinrich August Winkler und Saul Friedländer.309 Die Befürchtung von Habermas und weiteren Kritikern war es, dass die nationalkonservative Revision des Geschichtsbildes das Potential habe, gefährliche rechtsgerichtete Traditionen wieder zu beleben.310 Im Nachhinein beschrieb Hans-Ulrich Wehler den Historikerstreit als „politischen Kampf um das Selbstverständnis der Bundesrepublik, um das politische Bewusstsein der Bürger“.311

Ungeachtet der Verbreitung eines solchen Geschichtsbildes durch Nolte und andere zeigen sich auch in den historischen Entwicklungen Indizien dafür, dass die Befürchtung einer nationalkonservativen Revision des Geschichtsbildes nicht gänzlich unbegründet war. Das lässt sich anhand von verstärkten Vorkommnissen mit rechtsradikalen Hintergründen in Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre nachvollziehen.312Als Auftakt zu einer Serie ausländerfeindlicher Ausschreitungen können die rassistisch motivierten Übergriffe in Hoyerswerda im September 1991 angesehen werden.313 In den folgenden zwei Jahren kamen bei Brandanschlägen mit rechtsextremistischem Hintergrund in Rostock Lichterfelde, Mölln und Solingen, die in den Medien öffentlichkeitswirksam thematisiert wurden, insgesamt acht Menschen ums Leben und über ein Dutzend weitere Personen erlitten teils lebensgefährliche Verletzungen.314  

Mit dem Hinweis auf die fremdenfeindlichen Übergriffe und Anschläge in Deutschland zu Beginn

312

der 1990er Jahre soll nicht darauf verwiesen werden, dass Tuymans sich mit seinen Arbeiten konkret auf diese Ereignisse beziehen würde. Die Intention der Nennung dieser Vorkommnisse ist es, die Entwicklungen der Zeit zu zeigen, die auch außerhalb Deutschlands Beachtung fanden und sich im Kontext der Beschäftigung Tuymans’ mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust sowie deren Folgen befinden.

KLEGER 2006, S. 15.

313

Zum Ablauf der Ereignisse in Rostock-Lichterfelde siehe PRENZEL 2012, S. 20-23; für eine

314

Darstellung der Vorkommnisse in Mölln siehe PREUß 2007; zum Brandanschlag in Solingen und dessen Nachwirkung siehe AKYÜN/SMOLTCZYK 2003, S. 72f.

Angesprochen auf die genannten Entwicklungen vor allem in Belgien seit den 1980er Jahren und auf die Frage, ob seine Werke als Reaktion auf einen gewissen Zeitgeist zu verstehen seien, äußert Tuymans die Ansicht, „dass sich gewisse Dinge anreichern“.315 Dabei bezieht er sich konkret auf eine Dokumentationsreihe von Maurice De Wilde aus den 1980er Jahren über Belgien im Zweiten Weltkrieg und die Kollaboration von Flamen mit den Nationalsozialisten. In dieser habe er den Ausschnitt aus dem Privatfilms Speers gesehen, den er in Der Architekt künstlerisch verarbeitete. Als weitere Einwirkung nennt Tuymans eine Filmreihe, die zwischen 1972 und 1980 entstand:

Was auch ein wichtiger Einfluss war damals, wenn Sie über Zeitgeist reden, ist die Trilogie von Hans Jürgen Syberberg: Zuerst Ludwig II., dann Karl May, der am Ende auch sagt: „Wehe, wenn der Falsche kommt“ – einer der bevorzugten Schriftsteller von Hitler – und dann letztendlich Hitler – ein Film aus Deutschland.316

Nicht nur in den 1980er Jahren, auch ab Anfang der 1990er Jahre kam es, hervorgerufen durch die Wahlerfolge der rechtskonservativen Partei Vlaams Blok, in Belgien zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der eigenen Ver-gangenheit.317 Zusätzlich zu den innerpolitischen Entwicklungen, den Spannungen zwischen Flandern und Wallonen, wurde der Völkermord in Ruanda zum „Auslöser und zum Kontext neuer Debatten um Genozide im 20. Jahrhundert“.318 Wie Brüll bezüglich des Umgangs mit dem Holocaust in Belgien am Ende des 20. Jahrhunderts feststellt, geriet die belgische Kolonialvergangenheit in einen engen Zusammenhang mit der Kriegsvergangenheit und somit auch mit dem Holocaust.319

Vor diesem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund sind auch Tuymans’

Beitrag zur 49. Biennale in Venedig Mwana Kitoko – Beautiful White Man und seine Heimat-Serie aus dem Jahr 1995 zu sehen.320 Befasste sich Tuymans bei Mwana Kitoko mit der Kolonialgeschichte seines Heimatlandes, setzte er sich im Fall von Heimat mit dem Nationalverständnis der Flamen auseinander. Da im Verlauf der aktuellen politischen Situation in Belgien der Holocaust spezifische Deutungen und

TUYMANS 2012, S. 108.

315

Ebd., S. 109.

316

BRÜLL 2008, S. 44f.; zum politischen Aufstieg der Partei Vlaams Blok, die aktuell den Namen

317

Vlaams Belang trägt, siehe REUTER, Gerd, Rechtspopulismus in Belgien und den Niederlanden.

Unterschiede im niederländischen Sprachraum, Wiesbaden 2009, S. 194f.

BRÜLL 2008, S. 44.

Funktionalisierungen erfuhr,321 können Tuymans’ Arbeiten, die 1998 in der Berliner Galerie Gebauer unter dem Ausstellungstitel Der Architekt präsentiert wurden, mit diesen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Verbindung gebracht werden. Neben dem titelgebenden Gemälde wurden hier unter anderem Himmler und Parachutisten gezeigt.

Tuymans’ Arbeiten, die sich mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust auseinandersetzen, entstehen, wie hier gezeigt werden sollte, vornehmlich zu Zeitpunkten, in denen die Zeit des Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust sowie die Vergangenheit in Belgien besonders beleuchtet werden und an Relevanz gewinnen – sowohl in den 1980er als auch in den 1990er Jahren. Sie sind nicht von ihrer jeweiligen Gegenwart losgelöst, sondern vielmehr in ihrem Kontext zu sehen. Durch seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust erweitert Tuymans die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurse um die Frage, was erinnert wird und wie dieser Erinnerungsprozess verläuft. Zudem regt Tuymans bei den Rezipienten eine Auseinandersetzung mit diesen wichtigen Themen an.  

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4.2. Theorie der Leerstelle und Bedeutung der Leere