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Ist das menschliche Gehirn ein absolut zuverlässiger und objek- tiver Schiedsrichter?

Kein geringerer als Immanuel Kant hat ihm gerade im Hinblick auf die naturwissenschaftliche Forschung diese Rolle zuerkannt. Kant war schließlich zu Beginn seiner Laufbahn selbst naturforschend tätig und hat dabei eine Kosmologie entwickelt, die unter dem Doppelnamen Kant-Laplace‘sche Theorie auch heute noch prinzipiell anerkannte Züge hat. In seinem späteren Hauptwerk „Kritik der reinen Vernunft“ hat er dann den von mir schon erwähnten Vergleich des Naturwissenschaftlers mit einem verhörenden Richter gebracht: Dieser stellt der Natur wie einem Angeklagten oder Zeugen die schon erwähnten harten Fragen, die von ihr mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten wären. Auf Basis dieser Informationen bildet sich der Forscher dann sein „Urteil“ - man beachte den Doppelsinn! -, formuliert daraus ein Naturgesetz und verkündet es, damit sich die Natur nun bitte danach richte! ( Anm.: Eine solche

„Wissenschaftstheorie“ ist, mit Verlaub gegenüber dem großen Königsberger, eigentlich schon recht unverschämt! ).

Tatsache ist aber, dass Kant hiermit die Grundprinzipien der Newton‘schen Physik im Rahmen seiner idealistischen Philosophie deutlich bestätigt und für die nachfolgenden anderthalb Jahrhunderte auch für alle Welt verbindlich festgelegt hat. In allen diesen Gedanken bis hin zur sicher erscheinenden Urteilsfähigkeit unserer zeitgenössischen Forscher ist dieser Grundsatz bis gut zur Mitte des 20. Jahrhunderts unangefochten geblieben, obwohl inzwischen Psychologie und Hirnforschung schon sehr beachtliche und für die Zuverlässigkeit dieses Organs sehr relevante und nicht immer nur bestärkende Befunde erarbeitet hatte.

Eine umfassende Darstellung dieses großen und für die Philosophie der Erkenntnis so wichtigen Wissenschaftsbereichs kann hier nicht gegeben werden. Vorgängig für all dieses Erwachen der Empfindungsfähigkeit war natürlich die Entstehung des Lebens, deren Ablauf ebenfalls in mehreren gegenläufigen und somit paradox erscheinenden Hypothesen abgeleitet wird.

Hier half die seit Darwin weiter verfeinerte und durch Analyse von Fossilien faktenmäßig ausgebaute Evolutionstheorie: Alle Organe und Fähigkeiten der Lebewesen entwickelten sich aus zunächst abnormen Veränderungen der Vorgänger-Organismen; dabei entschied das Überleben dieser veränderten Pflanze oder des mutierten Tieres darüber, ob die aufgetretene Variation als nutzlos oder schädlich zum Ab-sterben verurteilt war - und dies war wohl meistenteils der Fall -, oder ob sie einen unerwarteten Nutzen erbrachte, der einer in diesem Sinne weiter entwickelten Pflanzen- oder Tierart einen Vorteil zu verbesserten Lebenschancen gegenüber den bereits vorhandenen Lebewesen gab. Bei günstigen Umweltbedingungen konnte so mit der

Zeit eine neue, physisch und psychisch weiter entwickelte Spezies entstehen, die in der Lage war, die vorhandenen Lebensformen zu dominieren oder zu verdrängen.

Bei der Entwicklung des Homo erectus zum Homo sapiens trat hier sicherlich auch eine Ausweitung der perzeptiven Möglichkeiten dieser Frühmenschen auf, und der Lernprozess des Erkennens und Beurteilens wurde durch zunehmende Erfolgserlebnisse beschleunigt. Für die ersten Schritte hin zu einer überlegenen Intelligenz mit Sprache, Sozialverhalten und gemeinsamen Planungen waren sicherlich sehr lange Zeiträume erforderlich, aber der hierdurch entstandene geistige Gewinn ließ die nachfolgenden Fähigkeiten des Zählens und Rechnens etwas schneller entstehen. Blickt man einmal auf die gewaltigen Bauten der Früh-Antike, beispielsweise die ägyptischen Pyramiden, dann ist man über die Macht des Metaphysischen erstaunt, durch die sich damalige Staatswesen gezwungen sahen, zur Ehren ihres Pharao oder zur Verehrung mächtiger Götter derartige Bauten zu errichten. Es ist sicher kein Zufall, dass, nachdem die Menschen sesshaft geworden waren, nun gerade das Bauwesen Leistungen aufwies, wie sie selbst von heutigen modernen Unternehmen nicht gerade als Normalfall eingestuft werden würden. Man denke auch an die weit verbreiteten Megalith-Kulturen in Nordwesteuropa, von denen die großen Steinsetzungen wie etwa Stonehenge in England eindeutig als astronomische bzw. astrologische Beobachtungsstationen gedient hatten. Zur Auswertung der hier ermittelten Daten war die Entwicklung des Rechnens und einer leistungsfähigen Geometrie und Vermessungslehre unerlässlich; in Ägypten hatte man schon sehr früh einen erstaunlich guten Wert für die Zahl π Er errechnete sich aus dem recht komplizierten Ausdruck 4 . (8/9)2 und betrug somit 3,16049. So zeichnen sich, getrieben letztendlich von frühreligiösen und kultischen Vorstellungen, ein bis zwei Jahrtausende vor Beginn etwa der griechi-schen Kultur, erstaunliche Entwicklungen in Naturwissenschaft und Ingenieurwesen ab, zu deren großtechnischer Anwendung für Pyramiden und Tempel freilich auch ein gut funktionierendes logistisches System entwickelt werden musste. Aushebung, Verpflegung und organisatorischer Einsatz der hier notwendigen immensen Massen von Arbeitern bildeten dann einen dritten Großkomplex innovativen und planerischen Wirkens, das an ganz unterschiedlichen Stellen der Erde fast gleichzeitig aufbrach.

Diese Entwicklung zeigt deutlich, wie sich der menschliche Intellekt durch Trial and Error, durch Enttäuschungen und Erfolgserlebnisse je nach den als notwendig erachteten Intentionen in erstaunlichen Sprüngen entwickeln kann. Ein heutiger Bauingenieur hätte sich mit einem Aufseher über den Bau des Riesentempels zu Karnak in Ägypten über eine ganze Reihe von Fachproblemen einigermaßen verständigen können; aber selbst ein ganz einfacher Elektroingenieur des 19. Jahrhunderts hätte überhaupt keinen Gesprächspartner „von damals“

gehabt. Auf geisteswissenschaftlichem Gebiet bestand in Ägypten zur Zeit des Neuen Reiches zwar eine teilweise sehr tief empfundene Lyrik, aber Philosophie, Ethik und andere Fächer waren noch ganz metaphysisch in den berühmten Totenbüchern zusammengefasst.

Man kann aus der Entwicklung der frühen Technik ableiten, dass das Gehirn des Homo sapiens, das sich sicher auch anatomisch von dem viel einfacheren Organ

des Homo erectus unterschied, sich nach Maßgabe der an es gestellten Anforderungen in Kapazität und Funktionalität weiter entwickelte, und dass diese Vorgänge etwa vor 4000 bis 3000 Jahren auf einigen Teilgebieten mit hoher Intensität verliefen.

Mit dem Erwachen der griechisch-römischen Kultur und Zivilisation können wir uns bei allen wissenschaftlichen und technischen Unterschieden nicht nur in den Bauwerken, sondern auch auf den Gebieten der Lebenshaltung, Verwaltung, der Philosophie und Justiz mit den damaligen Menschen geistig auf einer Ebene fühlen. Caesars „bellum gallicum“ ist ein klar und präzise geschriebener, wenn auch politisch sicher nicht unparteiischer Kriegsbericht, Tacitus‘

und Suetons zeitgenössische Geschichtsbücher bringen strenge Historie und Hofklatsch in fast heutiger Geschichtsschreibung bzw. als Boulevardpresse, und die literarische Hinterlasenschaft Ciceros kann in vielem noch als aktuell angesehen werden.

All diesen verschiedenen Entwicklungsphasen des menschlichen Geistes ist eines gemeinsam: Selbst in den Abstracta arbeitet der menschliche Gedankenapparat stets in der täglichen Erlebniswelt all dessen, was dem Gehirn in Form von Informationen durch die Sinnesorgane zur Verarbeitung dargeboten wurde. Schließlich sind auch die subtilsten philosophischen Gedanken irgendwann einmal von konkreten Beobachtungen abgeleitet worden, und der eingangs zitierte Satz von John Locke

„Nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu“

zeigt seine unbedingte Gültigkeit. Ich halte es nicht für unmöglich, dass man einem römischen Ingenieur, könnte er heute aus seinem Grabe auferstehen, mit etwas Geduld Differentialrechnung oder die Grundbegriffe der Elektrizitätslehre nahe bringen könnte. Bei Pythagoras und den Baumeistern Babylons oder Ägyptens wäre ich trotz ihrer sehr beachtlichen mathematischen Leistungen skeptisch.

Für die hier erwähnten Entwicklunggschritte in einem auf einige Jahrtausende angelegten Zeitraum wäre wohl nicht einmal eine anatomisch nachweisbare Mutation erforderlich, wie sie für reale Erweiterungen der intellektuellen Kapazität des Hirns über wesentlich längere Epochen notwendig sind; es ist vielmehr das Einüben von Beobachtungs- und Denkprozessen, das diesem komplizierten Organ im Rahmen seiner aktuellen Konstruktion fortschreitend eine Erhöhung seiner Fähigkeiten und Stärkung seiner Arbeitskraft vermittelt.

Deshalb kann man folgern, dass die enormen geistigen Anforderungen, die sich durch die moderne naturwissenschaftliche Forschung des 20. Jahrhunderts an das menschliche Vorstellungs- und Begriffsvermögen gestellt haben, derzeit, das heißt seit hundert Jahren bis in die nächsten Dezennien hinein, eine analoge Weiterentwicklung provozieren könnten. Damit ist nicht eine evolutive Mutation gemeint, denn für diese wäre der genannte Zeitraum bei weitem zu kurz. Man kann diese Entwicklungen wohl ohne weiteres mit der Tatsache vergleichen, dass in den gut hundert Jahren, in denen es wieder Olympische Spiele gibt, die Leistungen der Sportler ohne spürbare Änderung des Menschlichen Genoms durch laufende Übung, besseres Training und vervollkommnete Taktik ganz erheblich ge-

stiegen sind. Diese Entwicklung schlägt sich nicht nur in der quantitativen Verkürzung von Zeiten oder Vergrößerung von Wurfweiten u.dgl. nieder, sondern beruht auch gleichzeitig auf einem qualitativ verbesserten intellektuellen Erfassen der betreffenden Wettkampftechnik. - Die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Naturwissenschaft vorliegende analoge Situation legt nahe, den zur Gegenwart gehörenden Zeitraum bis heute unter dem Gesichtspunkt einer gleichzeitig erfolgenden Fachforschung und den neurologischen, psychologischen und philosophischen Arbeiten über menschliche Einsichtsfähigkeit und Intelligenz zu diskutieren.