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4.3 Historische Quellen und Daten

4.3.2 Meldescheine bei Todesfällen

Für Hunderte Personen sind im Archiv des Bistums Hildesheim Meldescheine hinterlegt, die nach deren Tod ausgestellt wurden. Die Meldezettel stammen aus dem Zeitraum 1855 - 1883.

Auf den Meldescheinen befinden sich neben den Angaben zu Namen, Alter und Geschlecht auch Informationen über den Berufsstand, die Todesursache und deren Beerdigung beziehungsweise Ablieferung an die Anatomie Göttingen. Es konnten die Meldezettel zu 20 Individuen, welche nach ihrem Tod in die Anatomie Göttingen abgeliefert wurden, eingesehen werden. Bis auf eine Person sind alle im Ernst August Hospital Göttingen verstorben und kamen größtenteils aus dem Umfeld mit katholischer Glaubensrichtung (siehe Tabelle 6). Es gab eine direkte Zusammenarbeit zwischen der St. Michael Gemeinde in Göttingen und den Universitätseinrichtungen, die dazu führte, dass Prof. Henle während seiner Anstellung im Anatomischen Institut (1852 - 1885) stets mit neuen Leichen zu Sektionszwecken versorgt wurde (Droste 2015). Der Bau des Ernst August Hospitals wurde vom hannoverschen König angeordnet und es wurde 1851 offiziell eröffnet. Dieses neue Hospital sollte den Unterricht am Patienten vermitteln. Die Patienten kamen aus Göttingen und der unmittelbaren Umgebung. Es wurden arme Bürger unentgeltlich und bemittelte Bürger gegen Bezahlung aufgenommen (Schröder und Wojtkowiak 2015, nach „Bekanntmachung, […]“ 1850). In unmittelbarer Umgebung befand sich das Pathologische Institut.

Abbildung 89 und 90 sind Beispiele für Meldezettel über Todesfälle von Menschen, die nach ihrem Tod an die Anatomie der Universität Göttingen geliefert wurden.

118 Befunde und Ergebnisse - Historische Quellen und Daten

Abb. 89: Meldezettel: Franz Neise, starb im Alter von 58 Jahren an einer Fractura proc. odont. epistrophroph. (Genickbruch), Tagelöhner von Beruf (BAH, Pfarrarchiv [PfA] Göttingen, Sign. 56. 2018).

Abb. 90: Meldezettel: Andreas Kaiser, starb im Alter von 30 Jahren an Schwindsucht (Tuberkulose), Ackerknecht von Beruf (BAH, Pfarrarchiv [PfA] Göttingen, Sign. 56.

2018).

Befunde und Ergebnisse - Historische Quellen und Daten Insgesamt sieht die Auswertung der Meldezettel wie folgt aus:

Tab. 6: Auswertung der Meldezettel bei Todesfällen. Kathol. = katholisch, n.l. = nicht lesbar; k.A. = keine Angabe.

Geschl. Alter Religion Stand Gewerbe Todesart Wohnort

m 63 Kathol. - Wollkämmer Fleckenfieber Fetterode m 58 Kathol. Unverheiratet Tagelöhner Fractura proc. odont.

epistroph.

(Genickbruch)

Mingerode

m 27 k.A. Unverheiratet Feldarbeiter Schwindsucht (Tuberkulose)

Tyrol

m 43 Kathol. k.A. Arbeiter Lungenentzündung Costine Kreis Posen

m 29 Kathol. k.A. Maurer Lungenschwindsucht m 73 Kathol. Verheiratet Tagelöhner Marasmus senilis

(Altersschwäche)

Kella

m 50 Kathol. Unverheiratet Stallknecht Emphysema Dellbrück Westphalen Kreis Paderborn m 25 Kathol. Verheiratet Arbeitsmann Unterleibstyphus Burgwalde Kreis

Heiligenstadt m 34 Kathol. Verheiratet Tagelöhner Zuckerruhr

(Diabetes)

Gerblingerode Kreis Duderstadt

m 26 Kathol. - Dienstknecht Nierenentzündung Dieterode Kreis Heiligenstadt m 53 Kathol. Verheiratet Ackerknecht Bruch des

Oberschenkels

Hebenshausen w 30 Kathol. Unverheiratet - Beckenabbruch Wollbrandshausen m 28 Kathol. Unverheiratet

Zigarren-macher

Kopfgeschwüre Bilshausen

w 21 Kathol. Unverheiratet -

Unterleibs-entzündung

Espligerode m 64 k.A. Unverheiratet n.l.-arbeiter Gemütskrankheit unbekannt m 30 Kathol. Unverheiratet Ackerknecht Schwindsucht

(Tuberkulose)

Kirchgandern

m 58 Kathol. Verheiratet Stellmacher n.l. Käferhausen bei

Dingelstedt

Es konnte kein Skelett direkt mit einem der Meldezettel in Verbindung gebracht werden. Eine Übereinstimmung ist allerdings nicht gänzlich ausgeschlossen. Da es sich lediglich um eine Teilgrabung handelt, sind womöglich weitere Anatomieleichen im angrenzenden Bodenareal

Befunde und Ergebnisse - Historische Quellen und Daten

Sowohl der ausgeübte Beruf als auch die im Feld „Todesart“ aufgeführten Krankheiten, wie zum Beispiel Tuberkulose, sind häufig in den sozialen Unterschichten zu finden. Anhand der Tabelle 6 lässt sich erkennen, dass der Anteil an männlichen Individuen, welche an die Anatomie geliefert wurden, deutlich überwiegt. Damit entspricht die Geschlechterverteilung in den archivalischen Unterlagen den Ergebnissen der morphologischen Geschlechtsbestimmungen. Allerdings liegt laut den Dokumenten der Sterbegipfel eher im adulten Bereich, während er laut der morphologischen Altersbestimmung eher im maturen Altersbereich angesiedelt ist (siehe Abbildung 91). Diese Diskrepanz könnte an den unterschiedlichen Stichproben liegen. Keines der geborgenen Skelette konnte einem Individuum der Meldezettel sicher zugeordnet werden. Darüber hinaus handelt es sich bei der Grabung lediglich um eine Teilgrabung. Allerdings zeigen die Individuen, welche zusätzlich durch die Methode der Dentochronologie untersucht wurden, fast durchgehend eine Überschätzung des Sterbealters bei der morphologischen Methode. Die Stichprobe aus der Gruppe der Individuen, deren Zahnringe gezählt wurden, zeigt ebenfalls einen leichten Gipfel im adulten Altersbereich (siehe Kapitel 4.1.1). Es wurden keine Meldezettel gefunden für Individuen, die unter 18 Jahre alt waren und an die Anatomie geliefert wurden.

Abb. 91: Absolute Häufigkeit der Altersverteilung der Anatomieleichen (n = 20) in Abhängigkeit vom Geschlecht. Inf1 = Infans 1, Inf2 = Infans 2, juv = Juvenis, ad = Adultas, mat = Maturitas, sen = Senium.

Aufzeichnungen aus der Anatomie über Sektionen, Leicheneingangsbücher und Verbleib der katholischen Anatomieleichen konnten nicht gefunden werden. Das Gebäude der Anatomie wurde, aufgrund der unmittelbaren Nähe zum Bahnhof Göttingen, im Zweiten Weltkrieg 1945 durch Fliegerbomben zerstört. Damit sind die Unterlagen mehrerer Dekaden unwiederbringlich verloren gegangen.

Diskussion - Biologische Daten

Diskussion

In dieser Arbeit wurde der Einfluss der sozialen Stellung in Form von Morbiditätsfrequenzen am Skelett untersucht. Die untersuchten Individuen mit Sägespuren am Skelett sind vermutlich in der Anatomie seziert worden und stammten, laut archivalischer Unterlagen, aus den niedrigsten sozialen Schichten. Problematisch für den Vergleich mit der Referenzserie ist, dass es sich bei den Regelbestattungen des ersten katholischen Friedhofs Göttingens vermutlich ebenfalls um Individuen handelt, die keiner hohen sozialen Schicht angehörten. Wehking (1992) beschreibt die katholische Gemeinde in deren Anfangszeiten als ärmliche Gemeinde, die in der protestantischen Region in und um Göttingen mit Anfeindungen zu kämpfen hatte.

Es muss in Betracht gezogen werden, dass der Unterschied zwischen der sozialen Stellung der Regelbestatteten und der Anatomieleichen in Einzelfällen sehr gering ist.

5.1 Biologische Daten Demografie

Geschlechterverteilung

Der hohe Männeranteil in beiden Gruppen ist sehr ungewöhnlich, zumal es keine Hinweise darauf gibt, dass zu dieser Zeit deutlich mehr Männer gestorben sind. Bei den Individuen vom ersten katholischen Friedhof handelt es sich um einen Teil der städtischen Bevölkerung Göttingens.

Der Männerüberhang ist vor allem in der Gruppe der Anatomieleichen sehr hoch. Häufig wurden die Leichen von Bettlern, hingerichteten Straftätern, Reisenden und Bedürftigen zu anatomischen Lehr- und Forschungszwecken genutzt. Vermutlich setzte sich diese Gruppe in erster Linie aus Männern zusammen. Für die geringe Anzahl an weiblichen und subadulten Individuen in dieser Gruppe gibt es zwei mögliche Erklärungen. Ein Grund ist, dass die im Accouchierhaus unter der Geburt verstorbenen Frauen nicht an die Anatomie übergeben, sondern bestattet wurden. Das Accouchierhaus galt vor allem als Geburtsklinik für mittellose und unverheiratete Frauen, die dort Unterkunft, Verpflegung und hygienisch-medizinische Versorgung erhielten. Allerdings stand bei der Einrichtung dieser Institution nicht das Wohl der Frauen im Vordergrund. Vielmehr galten die Schwangeren in erster Linie als Demonstrationsobjekte für die medizinische Forschung und Lehre (Kratz-Ritter 2016). Ein

Diskussion - Biologische Daten

weiterer denkbarer Grund ist, dass aus moralischen oder Pietätsgründen weitestgehend männliche Leichen von den männlichen Studenten seziert werden sollten.

Auch in der Gruppe der regelbestatteten Individuen der katholischen Gemeinde ist ein erhöhter Männeranteil erkennbar. Obwohl der Bergungsplan dafür keinerlei Hinweise zeigt (siehe Abbildung 25 Kapitel 4.1.1), könnte das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern der Teilbergung des Friedhofs geschuldet sein. Eine weitere mögliche Erklärung für den hohen Männeranteil könnten die zugezogenen Professoren und Studenten sein, allerdings wird die Anzahl den Maskulinitätsindex nicht in dem Ausmaß beeinflusst haben. Durch die Gründung einer katholischen Gemeinde Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Universität attraktiver für Akademiker mit katholischem Glauben. Zu bedenken ist auf jeden Fall die kurze Belegdauer des Friedhofs. Möglicherweise sind in den knapp 30 Jahren tatsächlich viele Männer gestorben und die dazu gehörigen Ehefrauen starben erst, als der Friedhof bereits geschlossen war.

Allerdings ist dieses Szenario eher unwahrscheinlich. Offenbar wurden tatsächlich weniger Frauen auf diesem Areal des Friedhofs bestattet. Ein hoher Anteil der subadulten Individuen konnte nicht geschlechtsbestimmt werden. Die starke Zersetzung von grazilen subadulten Knochen und die daraus resultierende Nichtbestimmbarkeit des Geschlechtes dürfte hierfür der Grund sein.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, in der Gruppe der Anatomieleichen ist vermutlich die Auswahl des Lehrmaterials der Grund für den erhöhten Männeranteil, in der Gruppe der Regelbestattungen eventuell die Selektion aufgrund des unvollständig ergrabenen Areals.

Altersverteilung

Der geringe Anteil der subadulten Individuen in der Gruppe der Anatomieleichen könnte in der Auswahl des Lehrmediums begründet liegen. Möglicherweise sind aus ethischen Gründen seltener Kinderleichen für den Sektionsunterricht genutzt worden. Eventuell war aber auch das Interesse am ausgewachsenen Körper größer, zumal viele Strukturen mit dem Übergang ins Erwachsenenleben weiter und größer entwickelt sind. Aus dem Schriftwechsel von 1796 (siehe Abbildung 85) geht hervor, dass die abzuliefernden Leichen ein Mindestindividualalter von zehn Jahren haben sollen. Eine andere Begründung könnte sein, dass es tatsächlich weniger Kinder- als Erwachsenenleichen gab. Die Akquirierung von Anatomieleichen fand im großen Maße bei hingerichteten Verbrechern statt. Dabei handelt es sich ausschließlich um Erwachsene. Möglich ist, dass verstorbene Kinder, aus Ablehnung der Gesellschaft gegenüber Sektionen, lediglich dem Ordnungsamt gemeldet, nicht aber der Anatomie überliefert wurden.

Diskussion - Biologische Daten

Aber auch in der Gruppe der Regelbestattungen ist der Anteil an subadulten Individuen, insbesondere derer im Altersbereich Infans 1, relativ gering. Dieser Lebensabschnitt unterliegt in der Regel einer erhöhten Mortalitätsrate, da das Immunsystem noch nicht vollständig ausgebildet ist und Kleinkinder den sogenannten Kinderkrankheiten schutzlos ausgesetzt sind.

Des Weiteren findet in dieser Zeit eine Umstellung von der Muttermilch auf feste Nahrung statt, dies gestaltet sich gelegentlich problematisch. Da die medizinische Versorgung im 19.

Jahrhundert bei Weitem nicht an die heutigen Standards heranreicht, konnten Infektionen und andere Krankheiten weniger erfolgreich behandelt werden. Dies führte vor allem im Kleinkindalter zu einer erhöhten Sterblichkeitsrate. Auf diesem Friedhof scheinen vor allem neonatale Individuen zu fehlen. Dies könnte unter anderem darin begründet liegen, dass Totgeburten, die im 1791 gegründeten Accouchierhaus geboren wurden, oft weder regulär begraben noch an die Anatomie verbracht wurden. „Verstorbene Embryos wurden als Anschauungsmaterial für die gynäkologische Ausbildung obduziert oder präpariert.“ (Kratz-Ritter 2016).

Obwohl es aufgrund des Grabungsplanes keine Hinweise darauf gibt, besteht weiterhin die Möglichkeit, dass das Säuglings- und Kinderdefizit eine Art Artefakt sein könnte, zustande gekommen durch die Teilgrabung. Möglich ist auch, dass sich die Kinderknochen mit ihrer geringen Robustizität trotz Sargbestattung schneller im Erdboden zersetzt haben. Allerdings sind im Grabungsplan (siehe Abbildung 3) keine größeren Lücken zwischen den Reihengräbern zu erkennen, die darauf schließen lassen würden, dass sich dort weitere Kindergräber befunden haben.

In historischen Populationen zeigt sich für Frauen meist ein erster Sterbegipfel im adulten Altersbereich, da Frauen oft unter der Geburt oder deren Folgen verstarben. Der Sterbegipfel der in dieser Population untersuchten Frauen liegt im maturen Altersbereich. Möglicherweise führte die umfassende medizinische Ausbildung in der Frauenheilkunde der Universität Göttingen und im Accouchierhaus zu einer niedrigen Todesrate bei Frauen im gebärfähigen Alter während ihrer Schwangerschaft und der Niederkunft.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass es aufgrund der selektiven Ergrabung des Friedhofareals ein Kleinkinder- und Kinderdefizit gibt. In beiden Gruppen liegt der Sterbegipfel unabhängig vom Geschlecht im maturen Altersbereich.

Diskussion - Biologische Daten

Körperhöhenverteilung

Die mittlere Körperhöhe einer Population ist als Indikator für die Lebensumstände und daher indirekt für die Zugehörigkeit zu einem sozialen Stand zu verstehen. Die Grundannahme ist, dass Menschen, die nach ihrem Tod als Anatomieleichen genutzt wurden, einer sozial niederen Schicht angehörten und dies oft mit einer schlechten Nahrungsmittelversorgung einherging.

Daher müssten folglich die Skelette dieser Personen geringere Körperhöhen aufweisen. Es ist bekannt, dass Wachstumsstillstand durch schwere Krankheiten in der Kindheit, aber auch durch massiven Nährstoffmangel hervorgerufen wird.

Da die durchschnittliche Körperhöhe beider Gruppen gleich ist, war offensichtlich die Nahrungsmittelversorgung während des Wachstums in der Kindheit und in der Jugend ähnlich gut. Der Schritt in die Armut oder das Abrutschen in eine niedrigere soziale Schicht fand möglicherweise erst im Erwachsenenalter statt. Eine weitere Möglichkeit ist, dass die von der Kirche und Stadt stark ausgeprägte Armenversorgung eine dramatische Unter- bzw.

Fehlernährung in der armen Bevölkerung durch die Ausgabe von Nahrungsmitteln verhinderte.

Es ist allerdings auch bekannt, dass eine ausreichende Erholungsphase reicht, um ein Wachstumsdefizit wieder aufzuholen. Erst lang anhaltende Perioden schwerer Unterversorgung resultieren in einer durchschnittlich geringeren Körperhöhe einer Population (Frisancho 1980, Haidle 1997). Frisancho et al. (1970) konnten an einer mittelamerikanischen Population zeigen, dass ein vermindertes Körperhöhenwachstum im Kindesalter später nicht mehr vollständig ausgeglichen werden kann.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass es zwischen den beiden untersuchten Gruppen keinen Körperhöhenunterschied gibt.

Diskrete Merkmale

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es in der katholischen Population diskrete Merkmale in Form anatomischer Varianten gibt. Allerdings sind keine auffälligen Häufungen bestimmter Merkmale zu finden, welche Rückschlüsse auf die Verwandtschaft zweier oder mehrerer Individuen zulassen. Hierbei ist zu bedenken, dass der Belegungszeitraum nur ca. 30 Jahre umfasst und daher eventuell nicht mehrere Individuen einer Familie auf diesem Friedhof begraben wurden. Keines der untersuchten Merkmale ist gehäuft bei einer der beiden untersuchten Gruppen anzutreffen.

Diskussion - Biologische Daten

Krankheiten

Unspezifische Stressmarker

Da es in beiden Gruppen sehr viele Individuen mit Cribra orbitalia, aber keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen gibt, müssen hier Möglichkeiten diskutiert werden, welche über ein bloßes Auftreten von Mangelernährung hinausgehen. Die Cribra orbitalia könnte hier das Resultat einer Anämie in Folge von weitverbreiteten und wiederkehrenden Malariaausbrüchen in ganz Europa sein, welche bis in das 19. Jahrhundert auftraten. Die Krankheit wurde primär durch Söldner nach Europa eingeschleppt, später über die Handelswege aus Afrika, Indien und Ostasien (Dalitz 2005). Erst mit der Trockenlegung der Feuchtgebiete und weiteren Schutzmaßnahmen, z. B. verbesserte Wohnhygiene, wurden die Brutplätze für die Malaria übertragenden Mücken deutlich reduziert. In den gemäßigten Breiten handelt es sich hauptsächlich um die durch Plasmodium vivax verursachte Malaria tertiana (Dalitz 2005), auch bekannt als „Anderntagsfieber“. Eine Malariainfektion führt zu einer Blutarmut, da sich der Parasit für die Vermehrung in den roten Blutkörperchen einnistet und diese schlussendlich zerstört. Da der Körper bestrebt ist, wieder ein Gleichgewicht herzustellen, nimmt er eine flächenmäßige Vergrößerung der Blutbildungszentren vor. Um die Masse blutbildenden Knochens zu vergrößern, verdicken sich der Knochen und die Oberfläche am Orbitadach. In seltenen Fällen wird die Oberfläche im Bereich der Lamina externa des Os frontale porös in Form einer Cribra orbitalia beziehungsweise Cribra cranii externa (Schultz 2001). Weitere denkbare Endoparasiten wären Darmparasiten. Allerdings können außer der Anämie auch andere Krankheiten zu porösen Orbitadächern führen. Beispiele sind Skorbut, Rachitis, Entzündungen und Blutungsgeschehen die knöchern umgebaut werden (Schultz 2001, Wapler et al. 2004).

Schmelzhypoplasien konnten bei 19,2 % (n = 14/73) der untersuchten Regelbestattungen und 30,6 % (n = 11/36) bei untersuchten Anatomieleichen beobachtet werden. Das gemeinsame Auftreten von Harris-Linien und transversalen Schmelzhypoplasien konnte lediglich bei 62 der 159 Individuen untersucht werden. Davon zeigten wiederum nur 12 Individuen (7 Regelbestattungen, 5 Anatomieleichen) beide unspezifische Stressfaktoren. Die transversalen linearen Schmelzhypoplasien entstehen während der Zahnontogenese im Kindesalter, weshalb ein Vorkommen im Erwachsenenalter darauf hindeutet, dass die Mangelphasen überlebt wurden. Die Mineralisationsstörungen aufgrund von Mangelernährung, (Stoffwechsel-) Erkrankungen oder lang anhaltenden schwerwiegenden Infektionen (Ogden et al. 2007) sind

Diskussion - Biologische Daten

Dies spricht sowohl für eine ausreichende Grundversorgung, als auch für eine ausreichende Nährstoffzufuhr im Kindesalter in beiden Gruppen, mit einer etwas besseren Versorgung zugunsten der Gruppe der Regelbestatteten.

Parallel zueinander verlaufende, im Röntgenbild strahlendichte Harris-Linien, können durch unterschiedliche Prozesse, wie physischen Stress, Mangelernährung oder schwere Erkrankungen entstehen. Wie schon Templin (1993) bei den Kindern der Population von Bettingen (Schweiz) feststellte, treten Harris-Linien nicht immer mit transversalen Schmelzhypoplasien gemeinsam auf. Wells (1967) meint, dass es für eine Wechselbeziehung nur geringe Anhaltspunkte gibt, sodass Harris-Linien und transversale lineare Schmelzhypoplasien unterschiedliche Antworten des Körpers auf Infektionen und Mangelernährung sein könnten.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sowohl die Nährstoffversorgung als auch die medizinische Grundsicherung während der Kindheit der untersuchten Individuen gewährleistet war. Es gibt keinen signifikanten Unterschied zwischen den Regelbestatteten und den Anatomieleichen hinsichtlich der Häufigkeit von Cribra orbitalia und transversaler linearer Schmelzhypoplasien. Auffallend ist allerdings, dass das Vorkommen von unspezifischen Stressfaktoren in der Gruppe der Anatomieleichen immer etwas höher als in der Gruppe der Regelbestattungen ist. Zu bedenken ist allerdings, dass die Stichproben der sezierten Frauen und Kinder sehr gering waren.

Mangelerkrankungen

Eine Anämie kann durch Mangelerkrankungen verursacht werden. Ein Mangel an Eisen oder notwendigen Aminosäuren, z. B. Lysin und Tryptophan entsteht nutritiv durch eine einseitige Ernährung (Schultz 1982). Die Anämien durch Blutverlust infolge von großen Wunden, Menstruation oder Parasitenbefall verursacht zwar einen Mangel an roten Blutkörperchen und damit auch Eisen, muss aber gegen den nutritiven Eisenmangel abgegrenzt werden. In den untersuchten Gruppen gab es etliche Individuen mit einer für Anämie typischen Cribra orbitalia, allerdings konnten weitere Merkmale wie eine poröse Hyperostose, Knochenschwellungen oder ein sogenannter Bürstenschädel nicht gefunden werden.

Nur wenige Individuen (n = 5) weisen deutliche Anzeichen für chronische Mangel-erkrankungen auf. Die fehlenden signifikanten Unterschiede zwischen der Gruppe der Regelbestatteten und der Gruppe der Anatomieleichen weisen darauf hin, dass die Versorgung mit Nährstoffen im Bereich der sozialen Randgruppen kaum schlechter ausgesehen hat als für

Diskussion - Biologische Daten

die durchschnittliche katholische Bevölkerung. Allerdings handelt es sich bei den Anzeichen für Mangelerkrankungen wie Skorbut, Osteomalazie und Anämie um Merkmale langwieriger und chronischer Prozesse. Individuen können kurz vor ihrem Tod durchaus an einem Nährstoffmangel gelitten haben, ohne dass dies morphologisch erkennbar ist.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es in der katholischen Bevölkerung in und um Göttingen offenbar wenige Fälle chronischer Mangelernährung (Vitamin C-, Vitamin D- oder Eisenmangel) gegeben hat.

Infektionskrankheiten

Meningeale Reaktionen, welche sich in Form entzündlicher und/oder hämorrhagischer Prozesse manifestieren, konnten in beiden Gruppen (n = 15) gefunden werden. Allerdings zeichnet sich hier keine Tendenz für Gruppenunterschiede oder Geschlechterunterschiede ab.

Da meningeale Reaktionen unterschiedlichste Ursachen haben können, ist es nicht möglich das Vorkommen ausschließlich mit dem sozialen Stand eines Individuums in Verbindung zu bringen. Vorstellbar ist allerdings, dass ein geschwächtes Immunsystem als Resultat einer Mangelernährung zu Infektionskrankheiten, z.B. Meningitis und Sinusitis, führt. Für alle untersuchten Kieferhöhlen wurden tendenziell mehr Fälle von Sinusitis in der Gruppe der Anatomieleichen (n = 14/18) als in der Gruppe der Regelbestattungen (n = 9/25) gefunden.

Ebenfalls zeigten signifikant (x² (1; 75) = 0,18; p = 0,019) mehr Anatomieleichen (n = 24/29) Spuren einer chronischen Ostitis media als regelbestattete Individuen (n = 26/46). Die Ursache für das gehäufte Vorkommen beider Krankheiten in der Gruppe der Anatomieleichen könnte unter anderem in ungünstigen Lebensbedingungen in den vermutlich niedrigen Sozialklassen (Schultz 1979), dem regionalen Klima und/oder in einem geschwächten Immunsystem aufgrund von Mangelernährung liegen.

Mehr Regelbestattete zeigen Anzeichen einer chronisch entzündlichen Mundschleimhaut im Bereich des harten Gaumens. Der Grund hierfür könnte in einer unterschiedlichen Ernährung zwischen den Gruppen, Parodontopathien oder eine Mangelernährung wie Skorbut liegen. Eine Krankheit wie Skorbut verringert die Abwehrkräfte, was wiederum gehäuft zu Infektionskrankheiten, vor allem bei Kindern und alten Menschen, führt. Ebenso ist das Kariesvorkommen in der Gruppe der Regelbestattungen höher als bei den Anatomieleichen. Es wurden nur wenige Fälle (n = 4) von Knochenentzündungen in Form von Ostitis, Osteomyelitis und Periostitis in beiden Gruppen gefunden. Meist entstanden die Knochenentzündungen als

Diskussion - Biologische Daten

festgestellt werden. Eine Erkrankung, die allgemein mit Armut in Verbindung gebracht wird, ist die Tuberkulose. Allerdings konnte sie trotz Anfangsverdacht (Individuum 138) an keinem Skelett nachgewiesen werden. Dies steht im Kontrast zu den archivalischen Aufzeichnungen, welche in mehreren Fällen Tuberkulose als Todesursache in der Gruppe der Anatomieleichen auflistet. Typischerweise wäre eine Tuberkulose bei einfachen Arbeitern, die einem Beruf in einer Umgebung mit verdreckter Luft nachgehen, zu erwarten gewesen.

Die molekulargenetische Untersuchung der Knochen auf Erreger-DNA war lediglich teilweise

Die molekulargenetische Untersuchung der Knochen auf Erreger-DNA war lediglich teilweise