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Dass es keine verbürgte Universalität der Menschenrechte, sondern nur einen Pro-zess ihrer Universalisierung gibt, hat […] Konsequenzen dafür, wie jede Konzep-tion der Menschenrechte sich selbst verstehen und zu sich selbst verhalten muss: Sie muss sich einer permanenten Selbstkritik unterziehen (Christoph Menke und Arnd Pollmann: Philosophie der Menschenrechte, 2007, S. 85).

White people think of themselves as white and without a race, just as men (and often women) consider gender to be an issue for women. The claim of unsituated-ness is made by and on behalf of those with power. To the extent the Convention [on the Rights of the Child] deals with children as unspecified, unsituated people, it tends in fact to deal with white, male, and relatively privileged children (Frances Olsen: ‘Children’s Rights: Some Feminist Approaches to the United Nations Con-vention on the Rights of the Child’, 1995, S. 195).

Einleitung

Wenn ich in diesem Beitrag1 von postkolonialen Dilemmata der Kinderrechte spreche, beziehe ich mich auf Versuche, die in der UN-Kinderrechtskonvention verankerten Rechte auf Kinder in Regionen des Globalen Südens anzuwenden.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Maier-Höfer (Hrsg.), Die Vielfalt der Kindheit(en) und die Rechte der Kinder in der Gegenwart, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21238-4_2

M. Liebel () Berlin, Deutschland E-Mail: mliebel@ina-fu.org

1Er basiert weitgehend auf Ausführungen in meinem Buch Postkoloniale Kindheiten.

Zwischen Ausgrenzung und Widerstand. Weinheim & Basel: Beltz-Juventa, 2017.

Dilemmata ergeben sich bei den Versuchen, zum einen die Kinderrechte zur Ver-besserung der Situation der Kinder zu nutzen, zum anderen die Kinder davon zu überzeugen, dass die Kinderrechte für sie einen Sinn ergeben und sie ihr Han-deln daran orientieren. Neben allgemeinen Dilemmata, die beim Gebrauch der Kinderrechte auftreten, handelt es sich bei den von mir postkolonial genannten Dilemmata um solche, die sich aus Diskrepanzen zwischen dem westlichen Ursprung und der westlichen Prägung der Kinderrechte und ihrer Anwendung auf Lebenssituationen ergeben, die von der Situation in den vergleichsweise wohl-habenden Ländern des Globalen Nordens verschieden sind. Diese Dilemmata tre-ten vor allem dann auf, wenn die erwachsenen Personen oder die Organisationen (in der Regel international agierende NGOs), die die Kinderrechte den Kindern nahebringen wollen, aus dem Globalen Norden stammen oder dort ihren Haupt-sitz haben.

Bei der Rede von „postkolonial“ orientiere ich mich an Grundgedanken der sog. postkolonialen Theorien (zum Überblick vgl. Kerner 2013; Cas-tro Varela und Dhawan 2015). Bei allen Unterschieden im Detail ist ihnen gemeinsam, dass sie die vermeintliche Überlegenheit und den Vorbildcharakter der europäischen Moderne und die aus ihr abgeleiteten Modernisierungs- und Entwicklungskonzepte und -strategien infrage stellen. Sie machen darauf auf-merksam, dass die vermeintlichen Errungenschaften der europäischen Moderne das Ergebnis von Eroberung, Unterdrückung und Ausbeutung sind, die mit der rassistischen Abwertung und Diskriminierung der Menschen anderer Erdteile (und Hautfarbe) einhergingen und sich in postkolonialen Konstellationen ungleicher Macht fortsetzen. Bei der Kritik dieser weltweit fortbestehenden asymmetrischen Machtverhältnisse beziehen sie sich zum einen auf materielle, zum anderen auf mentale Aspekte, ohne beide absolut voneinander zu trennen.

Die materiellen Aspekte werden in den ungleichen wirtschaftlichen und poli-tischen Beziehungen und ihren Auswirkungen auf das Leben der Menschen im Globalen Süden verortet. Die mentalen Aspekte zeigen sich in der Dominanz von Denkweisen und Wissensformen, die das im Globalen Süden vorhandene Wissen entwerten oder unsichtbar machen, eine Art epistemischer Gewalt. Mit anderen Worten, die postkolonialen Ansätze wenden sich gleichermaßen gegen die „Subalternisierung der Wissens- und Seinsformen der kolonisierten Sub-jekte“ (Quintero und Garbe 2013, S. 9) und beanspruchen, hinsichtlich des Wis-sens ebenso wie der Lebenspraxis eigenständige und eigensinnige Alternativen aufzuzeigen, die auf den Erinnerungen der kolonialen und den Erfahrungen der postkolonialen Subjekte beruhen. Diese vorgestellten Alternativen beschränken sich nicht auf die Wiederbelebung kultureller Traditionen oder gar auf die Beschwörung vermeintlicher Ursprünge, sondern gehen mit der Hoffnung einher,

„transmoderne“ und „interkulturelle“ Perspektiven aufzuzeigen, die über die tren-nenden und absolutistischen Denkmuster der westlichen Moderne hinausgehen, ohne sie zu negieren (vgl. Dussel 2013).

Ich spreche von Dilemmata in dem Sinne, dass es keine eindeutigen oder widerspruchsfreien Antworten und Lösungen für die Probleme gibt, die sich bei der Anwendung der Kinderrechte ergeben. Ich sehe darin keinen Grund zu resignieren, sondern eher eine Herausforderung zum Nachdenken über schein-bar Selbstverständliches – und zur Suche nach Alternativen. Bei den, im Folgen-den zur Sprache kommendem Dilemmata lassen sich allgemeine Dilemmata, die überall und in jeder Situation auftreten, von spezifischen, hier postkolonial genannten Dilemmata unterscheiden, die sich vor allem im Nord-Süd- Verhältnis bemerkbar machen. Sie zeigen sich vor allem in den Widersprüchen zwi-schen Universalitätsanspruch einerseits und kultureller Differenz sowie sozialer Ungleichheit (der Macht) andererseits. Um sie zu verstehen, ist es notwendig, sich über die Ambivalenzen klar zu werden, die in Menschenrechten allgemein und den Kinderrechten im Besonderen angelegt sind.

Wer sich heute mit Kindern und Kindheit(en) in der Welt befasst und sich über ihre universellen Rechte klar werden will, muss auf die UN-Kinderrechts-konvention Bezug nehmen. Dieses 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen einstimmig beschlossene und von fast allen Staaten (mit Ausnahme der USA) ratifizierte völkerrechtliche Übereinkommen ist nicht nur der Kulminationspunkt eines Prozesses, der auf die Postulierung der Menschen-rechte in der europäischen Aufklärung zurückgeht. Es hat auch die seitdem welt-weit geführten Debatten um das, was kindgemäß ist und Kindern zusteht, stark geprägt. In diesen Debatten wird die UN-Kinderrechtskonvention keineswegs ein-hellig begrüßt. Neben denen, die Kinderrechte überhaupt in Zweifel ziehen, weil Kinder keine zum rationalen Denken fähige Menschen seien, werden selbst von Kinderrechtsbefürwortern mindestens zwei gegensätzliche Positionen vertreten.

Während die einen die Kinderrechtskonvention als „Meilenstein“ (UNICEF) auf dem Weg zu einer besseren Kindheit betrachten und nur noch ihre mangelnde Umsetzung beklagen, sehen die anderen in ihr ein imperiales eurozentrisches Pro-jekt, mit dem die westlichen Vorstellungen von Kindheit ungeachtet kultureller Diversität globalisiert und dem „Rest der Welt“ aufgedrängt werden.

Ich will versuchen, über diese kontroversen Positionen hinauszugehen und zu einer differenzierteren Beurteilung zu gelangen. Die mit der Kinderrechts-konvention transportierte Kindheitskonstruktion ist ohne Zweifel westlichen Ursprungs und kann mit dazu beitragen, Kindheiten zu missachten und fehl zu deuten, die dieser Konstruktion nicht entsprechen. Aber es ist auch anzuerkennen, dass die Konvention für die Nöte und Interessen von Kindern, die bislang wenig

Beachtung fanden und auf die wenig Rücksicht genommen wurde, sensibilisiert hat. Vermutlich wären die an Kindern über Jahrhunderte verübten Gräuel und Ver-brechen allein durch das Vorhandensein eines völkerrechtlichen Übereinkommens zu Kinderrechten nicht verhindert worden, aber mit der Konvention ist ein recht-liches Instrument entstanden, das solche Gräuel und Verbrechen wirkungsvoller anzuklagen und zu bekämpfen erlaubt. Nicht zuletzt durch Kinder selbst, die sich nun auf international verbürgte eigene Rechte berufen können.

In den letzten Jahren sind Forschungsansätze entstanden, die für eine differen-zierte Beurteilung der Kinderrechte – auch in postkolonialen Zusammenhängen – hilfreich sein können. Diese Ansätze firmieren unter Bezeichnungen wie

„Kinderrechte von unten“ (Children’s Rights from Below: Liebel 2012, 2009),

„Kinderrechte als Lebende Rechte“ (Living Rights: Hanson und Nieuwenhuys 2013) oder „Kritische Kinderrechtsstudien“ (Critical Children’s Rights Studies:

Vandenhole et al. 2015). Ihnen ist gemeinsam, dass sie Kinderrechte nicht nur als legales Konstrukt betrachten, das für sich selbst spricht und nur noch umgesetzt werden muss, sondern als historisch gewachsenes spezifisches Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen, das prozesshaft und in kontextbezogener Weise zu ver-stehen, zu handhaben und weiterzuentwickeln ist. „Kinderrechte umfassen nicht nur Regeln, sondern beziehen sich auch auf Strukturen, Beziehungen und Pro-zesse“ (Reynaert et al. 2015, S. 5). Diese neuen Ansätze bezweifeln nicht, dass Kinderrechte und die UN-Kinderrechtskonvention als ihre gegenwärtig wich-tigste rechtliche Grundlage für alle Kinder der Welt gelten. Aber sie machen auch darauf aufmerksam, dass Kinderrechte für Kinder je nach Lebenssituation verschiedene Relevanz und Bedeutung erlangen können und immer wieder hin-sichtlich ihres Universalitätsanspruchs und ihrer Angemessenheit kritisch zu hinterfragen sind.

Um dem Dilemma eines eurozentrischen Verständnisses und entsprechenden Gebrauchs der Kinderrechte zu entgehen, hat Roy Huijsmans (2016) in einer Rezension zweier Studien zur Bedeutung und dem Umgang mit Kinderrechten in Indien (Balogapalan 2014) und Ägypten (Morrison 2015) vorgeschlagen, die Idee der Kinderrechte zu „de-zentrieren“. Dieser Vorschlag lehnt Kinderrechte nicht aufgrund ihrer europäischen Vorgeschichte ab, sondern läuft darauf hin-aus, diese aus der Perspektive der Kinder in den postkolonialen Weltregionen zu rekonzeptualisieren. Er ähnelt früheren, auf den Umgang mit Menschenrechten bezogenen Vorschlägen, diese „von unten zu gebrauchen“ (Spivak 2008) oder ihren Ursprung über eine „Provinzialisierung Europas“ (Chakrabarty 2010) zu

historisieren und in außereuropäischen Kontexten neu zu verorten.2 In diesem Beitrag will ich einige Fragen erörtern, die sich in diesem Zusammenhang stellen.

Da die Kinderrechte als Menschenrechte zu verstehen sind (Freeman 2009;

Invernizzi und Williams 2011), will ich zunächst auf die Frage eingehen, wie der Universalitätsanspruch der Menschenrechte zu verstehen und zu beurteilen ist.

Anschließend werde ich diese Frage mit Blick auf die Kinderrechte erörtern und unter Bezug auf konkrete Fälle ihre Relevanz für die Kinder des Globalen Südens und dabei auftretende Dilemmata beleuchten.