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Menschenrechte sind nicht frei von Ambivalenzen. Diese hängen zum einen mit ihrer europäischen bzw. liberalen Prägung zusammen, in der ein Menschenbild vorherrscht, das die Selbstverantwortlichkeit der Individuen betont. Zum ande-ren gehen sie auf den Umstand zurück, dass sie von bestimmten Bevölkerungs- oder Machtgruppen in ihrem Sinne instrumentalisierbar sind und immer wieder in diesem Sinne gebraucht wurden. Ihr universaler Anspruch ist deshalb auch auf den konkreten Interessenkontext zu beziehen, in dem sie ins Spiel gebracht und angewendet werden.

Vor diesem Hintergrund unterscheidet z. B. Immanuel Wallerstein (2007) mit Blick auf die Menschenrechte einen „europäischen Universalismus“ und einen

„universellen Universalismus“. Er versucht, zu zeigen, „dass der Universalismus der Mächtigen immer ein geteilter und verzerrter Universalismus gewesen ist“

(a. a. O., S. 8). Er bezeichnet diesen als europäischen Universalismus, „weil er von paneuropäischen Führern und Intellektuellen propagiert wurde, die bestrebt waren, die Interessen der herrschenden Schichten des Weltsystems zu verfolgen“

(ebd.). In dem Kampf zwischen dem europäischen und dem universellen Uni-versalismus sieht Wallerstein „die zentrale ideologische Auseinandersetzung der

2Dies bedeutet auch, einen Blick dafür zu gewinnen, dass die europäische Entstehungs-geschichte der Menschen- und Kinderrechte selbst von Einflüssen aus anderen Welt-regionen und früheren historischen Epochen mitgeprägt wurde (vgl. z. B. Frankopan 2016).

Die Erklärung des persischen Reichsgründers Kyros II. in Babylon aus dem Jahr 539 v. Chr. gilt als die erste Charta der Menschenrechte und wird von den Vereinten Nationen auch ausdrücklich als solche anerkannt. Hinzuzufügen wäre, dass auch in Europa selbst Traditionslinien der Menschen- und Kinderrechte auszumachen sind, die hinter ihrem heute dominierenden eurozentrischen Verständnis und Gebrauch bislang weitgehend verborgen geblieben sind (vgl. z. B. Liebel 2017).

zeitgenössischen Welt“ (ebd.). Den europäischen Universalismus bezeichnet er als „moralisch zweideutige Doktrin“ (a. a. O., S. 38), da er „gleichermaßen die Verteidigung der Menschenrechte sogenannter Unschuldiger wie die materielle Ausbeutung durch die Starken“ (ebd.) rechtfertige. Er greife die Verbrechen einiger an und übergehe die Verbrechen anderer. Wallerstein bestreitet nicht, dass es globale universelle Werte gibt und geben müsse, aber sie gewännen nur Bedeutung für alle, wenn sie nicht von den Stärkeren monopolisiert werden kön-nen. Dies erfordere eine weltweite „Struktur, die weit egalitärer ist als irgendeine, die wir bisher errichtet haben“ (ebd.).3

Auch Edward Said ([1978]2012) warnt in seinem Hauptwerk Orientalis-mus vor angeblichen Universalismen, die nicht nur Machtstrukturen und deren Ungleichheiten verdeckten, sondern auch die existierenden unmoralischen Pola-risierungen entscheidend beförderten und bewahrten. Er sieht in ihnen einen Ausdruck „europäischer Überlegenheitsphantasien“ (a. a. O., S. 17), die in eine

„perfide Struktur kultureller Herrschaft“ (a. a. O., S. 36) eingebettet seien. Es ist sicher nicht zufällig, dass Kritik an dem Menschenrechtsdiskurs, der von Staa-ten und NGOs aus dem Globalen Norden dominiert wird, von Vertretern post-kolonialer Theorie geäußert wird. Ihnen fällt auf, dass bei Menschenrechten immer wieder mit zweierlei Maß gemessen wird und der Globale Norden sich als Hüter der Menschenrechte stilisiert, während dem Globalen Süden menschen-rechtlicher Nachholbedarf unterstellt wird.

So kritisiert der aus Kenia stammende Rechtswissenschaftler Makau Mutua (2016) am Menschenrechtsdiskurs, dass er im Globalen Süden nur Defizite wahrnehme. Dies resultiere seinerseits aus den Defiziten einer internationalen

3Der französische Sinologe François Jullien (2017, S. 30 f.) schlägt vor „das Universelle dem Universalismus gegenüberzustellen, der anderen seine Hegemonie aufzwingt und glaubt, Universalität für sich beanspruchen zu können. Das Universelle, um das man kämpfen muss, ist ein rebellisches Universelles, das niemals vollständig ist; oder sagen wir ein negatives Universelles, das dem Komfort jeglicher zum Stillstand gekommener Positivität entgegenwirkt. Es ist nicht totalisierend (sättigend), im Gegenteil: Es schnürt die einmal erreichte Totalität wieder auf, indem es auf Fehlendes verweist.“ Jullien ver-ortet es im „Dazwischen“ und im „Dialog“ der Kulturen, die ihrerseits im ständigen Wan-del begriffen sind und deshalb auch keine feststehende „kulturelle Identität“ beanspruchen können, sondern offen und dazu herausgefordert sind, über ihre eigenen Voraussetzungen und Wandlungen nachzudenken. Das von ihm vorgestellte „Universelle“ bleibt immer für das „Gemeinsame“ mit anderen Kulturen offen (a. a. O., S. 35). Wenn der Begriff des

„Inter-Kulturellen“ einen Sinn haben solle, könne „er nur darin bestehen, dieses Zwischen, dieses Zwiegespräch als neue Dimension der Welt und der Kultur zur Entfaltung zu brin-gen“ (a. a. O., S. 96).

Ordnung, die durch multiple Asymmetrien gekennzeichnet sei und bei der Norm-setzung einen kulturellen Bias zugunsten des Nordens hervorbringe. Schon in einer früheren Arbeit hatte Mutua (2002) kritisiert, dass die Menschenrechts-bewegung darauf fixiert sei, zu beweisen, dass der Globale Süden barbarisch sei und keine funktionierenden staatlichen Strukturen zustande bringe. Demnach stünden die Retter aus den zivilisierten Nationen den Opfern gegen die Wilden zur Seite (a. a. O., S. 10):

Die Menschenrechtsbewegung zeichnet sich durch eine verdammte Metapher aus.

Die große Erzählung der Menschenrechte enthält einen Subtext, wonach in einem epochalen Wettstreit Wilde auf der einen Seite gegen Opfer und Retter auf der ande-ren Seite ihre Kräfte messen.

Bei der von Mutua kritisierten, als viktimisierend verstandenen Menschen-rechtspolitik wird die Handlungsmacht vor allem bei den Regierungen des Glo-balen Nordens und den Internationalen Nichtregierungsorganisationen (INGOs) gesehen, die ebenfalls im Norden residieren. Ihr Gestus gegenüber dem Globa-len Süden stehe in einer nicht zu übersehenden Kontinuitätslinie mit den früheren Kolonialbeamten und Missionaren. Menschenrechte würden häufig instrumen-talisiert, um im Liberalismus wurzelnde Ideologien von Regierung und Handel durchzusetzen, z. B. über sog. Freihandelsabkommen (vgl. auch Mutua 2009).

Als Alternative fordert Mutua, den Normsetzungsprozess im globalen Maß-stab inklusiv und partizipativ zu gestalten, und entwirft ein „multikulturelles“

Konzept von Menschenrechten, das auch Menschenrechtstraditionen aus nicht- westlichen Kulturen würdigt und aufgreift (Mutua 2002, S. 71 ff.). Dies schließt auch ein Verständnis der Menschenrechte ein, das diese nicht als Freibrief für die Beherrschung und Ausbeutung der außermenschlichen Natur und im Gegensatz zur Würde und den Rechten nicht-menschlicher Lebewesen sieht.

Mutuas Überlegungen kreisen um die Konzeptionen des Staates und des Indi-viduums. Er bezweifelt, dass der neuzeitliche Nationalstaat die unparteiische (oder gar engagierte) Instanz sein könne, die über die Einhaltung der Menschen-rechte wacht. Zumindest in Afrika sei er ein den Menschen aufgezwungenes koloniales Konstrukt, das nicht als eine die Menschenwürde sichernde Instanz geeignet sei. Stattdessen müssten Instanzen wiederbelebt oder geschaffen werden, die den Menschen näher und ihnen verpflichtet seien und die sie tatsächlich reprä-sentieren könnten. Bezüglich des Individuums kritisiert er die Vorstellung, dass die Menschen „atomistische Einheiten“ seien, die aus sich selbst heraus existie-ren. Stattdessen empfiehlt er, sich auf die in Afrika verbreiteten Konzeptionen des Menschseins zurückzubesinnen, die die Menschen als aufeinander angewiesene

und einander verpflichtete Personen verstehen (a. a. O., S. 64 ff.).4 Dies erfordere auch, sich erneut der „Dialektik von Rechten und Pflichten“ zu vergewissern (a. a. O., S. 82 ff.).

Unbestreitbar gehen die Menschenrechte in ihrer heute dominierenden Form auf die europäische Aufklärung seit dem 17. Jahrhundert zurück. Ihren umfassendsten juristischen Ausdruck fanden sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 und in den folgenden Pakten für zivile und politische sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966). Alle Menschen, so das grundlegende Postulat der AEMR, sind mit gleichen Rech-ten ausgestattet. Diese sind universal gültig, unveräußerlich und unteilbar. „Die Idee universeller Menschenrechte wurde unbestreitbar von den europäischen Philosophen der Aufklärung geprägt, weswegen der Vorwurf des Eurozentris-mus ebenso wichtig wie gleichzeitig banal ist“ (Castro Varela 2011, S. 46). Ein Problem entsteht nicht durch die Idee und ihren europäischen Ursprung, son-dern durch die Behauptung, die Geschichte der Menschenrechte verkörpere einen linearen und bruchlosen Fortschritt der Aufklärung und sei eine alleinige Errungenschaft Europas, den die außereuropäischen Völker nur nachzuholen hät-ten, also ihr Anspruch einer Mission.

Doch die AEMR ist nicht die Folge eines ungebrochenen Fortschritts, son-dern die Antwort auf die innerhalb Europas mit dem Faschismus und außerhalb Europas mit dem Kolonialismus sichtbar gewordene Barbarei, die ihrerseits in der Aufklärung selbst mit angelegt war (vgl. Horkheimer und Adorno [1944]2005;

Menke und Pollmann 2007, S. 12 ff.). Sie ist auch nicht frei von Zweideutigkeit, da sie von einer Minderheit von Nationalstaaten und zu einer Zeit beschlossen worden war, als ein Großteil der Welt sich noch in kolonialer Abhängigkeit befand. Der Anspruch der Universalität machte erst einmal vor den Kolonien halt, deren Wunsch, die Idee der Menschenrechte auf sich selbst zu beziehen, mit bra-chialer Gewalt von den europäischen Mächten bekämpft wurde (zuerst deutlich sichtbar im Feldzug Napoleons I. gegen die haitische Revolution zu Beginn des

4Mutua bezieht sich in diesem Zusammenhang beispielhaft auf den nigerianischen Rechts-wissenschaftler B. Obinna Okere und den kenianischen Religionsphilosophen John S.

Mbiti. „The African conception of man is not that of an isolated and abstract individual, but an integral member of a group animated by a spirit of solidarity“ (Okere 1984, S. 148).

John Mbiti habe seinerseits argumentiert, dass in Afrika die individuellen Rechte, Bedürf-nisse, Sorgen und Pflichten in einem Geflecht verwoben seien, das den galoppierenden Individualismus zurückweise: „I am because we are; and since we are, therefore I am“

(Mbiti 1970, S. 141).

19. Jahrhunderts und später in den Kolonialkriegen z. B. in Vietnam und Alge-rien). Bis heute zeigen sich der imperiale Anspruch und die entsprechend instru-mentelle Verwendung der Menschenrechte in der „Entwicklungsbotschaft“, dass die westlichen „demokratischen“ Mächte den „unterentwickelten“ Nationen die Menschenrechte beizubringen hätten.

Mit Gayatri Spivak (2008) bin ich der Ansicht, dass es nicht darum geht, die Idee der Menschenrechte wegen ihres europäischen Ursprungs zu ver-dammen, sondern darum, aus der Perspektive des Globalen Südens eine Lesart der Menschenrechte zu entwickeln, die den eigenen Bedingungen entspricht. Auf diese Weise würde auch der imperialen Botschaft widersprochen, dass Europa insgesamt das nachzuahmende Vorbild zu sein habe. Angesichts der barbarischen europäischen Geschichte, die sich auch im Kolonialismus zeigte und noch heute in der postkolonialen Weltordnung nachwirkt, wäre das unglaubwürdig. Es gilt mithin, einen anderen Umgang mit den Ideen und Schriften der Aufklärung zu suchen, der laut Spivak (a. a. O., S. 181) darin bestehen könnte, „sie von unten zu gebrauchen (ab-use)“. Unter Bezug auf das Diktum von Horkheimer und Adorno ([1944]2005, S. 9), das Programm der Aufklärung sei „die Entzauberung der Welt“ gewesen, ließe sich sagen, dieses Programm sei erst vollendet, wenn die Aufklärung selbst entzaubert ist.

Menschenrechte können auch nicht allein aus der „Natur des Menschen“

abgeleitet werden. Diesen Gedanken, der ebenfalls auf die europäische Auf-klärung zurückgeht, hatte schon Hannah Arendt ([1955]2005) unter Verweis auf die „Anomie der Menschenrechte“ als unzureichend kritisiert. Darunter verstand sie, dass die Menschenrechte letztlich nur von denen in Anspruch genommen werden könnten, die als Teil eines politischen Gemeinwesens anerkannt sind – was für die vielen vertriebenen und in der Welt umherirrenden „Staatenlosen“

oder „Ausgebürgerten“ bekanntlich nicht zutrifft. Das von Arendt proklamierte

„Recht, Rechte zu haben“, könne nur durch politische Setzung von Rechten und die rechtliche Anerkennung der Menschen als (Staats-)Bürger eingelöst werden.

Konsequenterweise wäre aus der Idee der Menschenrechte zu folgern, eine „uni-verselle Bürgerschaft“ durchzusetzen, die nicht an bloß nationale Zugehörigkeit geknüpft ist.

Die Legitimität der Menschenrechte und der Umgang mit ihnen sind eng ver-knüpft mit der Frage globaler Gerechtigkeit. Der Universalitätsanspruch der Menschenrechte ist nur dann glaubwürdig, wenn er mit Bemühungen um glo-bale Gerechtigkeit einhergeht und diese auch praktische Ergebnisse haben. Bis heute besteht in der Welt eine gravierende soziale Ungleichheit zwischen den wohlhabenden Ländern des Nordens, insbesondere den ehemaligen Kolonial-mächten, und den ehemaligen Kolonien des Südens. Diese Ungleichheit gründet

in der ungleich verteilten wirtschaftlichen Macht und reproduziert sich über die ungleichen Handelsbeziehungen zwischen den Staaten und die Einflussnahme der vom Norden dominierten internationalen Finanzinstitutionen wie dem Inter-nationalen Währungsfonds (IMF), der Weltbank und der Welthandelsorganisation (WTO), die die ehemaligen Kolonien weitgehend auf den Status von Rohstoff-lieferanten festnageln. Ein Teilaspekt ist die „Schuldenfalle“, in der die ehe-maligen Kolonialländer gegenüber den Staaten des globalen Nordens und den internationalen Finanzinstitutionen gefangen gehalten werden. Aus der Sicht des Globalen Nordens wird sie nur ungern in Beziehung gesetzt zur moralischen Schuld und den wirtschaftlichen Schulden, die sich die Kolonialmächte durch die langjährige Ausbeutung ihrer Kolonien aufgeladen haben.

Diese Ungleichheit im Verhältnis der Staaten und ihrer Bevölkerungen kann nicht durch wohlwollende Hilfsmaßnahmen ausgeglichen werden, die sich als Entwicklungshilfe oder Entwicklungszusammenarbeit verstehen und z. B. von dem kenianischen Philosophen Henry Odera Oruka ([1989]1997, S. 48) als

„internationale Wohltätigkeit“ (international charity) bezeichnet werden. Statt-dessen ist die moralische Verantwortung der wohlhabenden Staaten und ihrer Bevölkerungen zu betonen, das fundamentale Recht auf Selbsterhaltung und ein Leben in Würde anzuerkennen und diese mit einer Politik einzulösen, die ein solches Leben für alle auf der Erde lebenden Menschen gewährleistet.5 Es ent-spricht einer verkürzten und historisch zweifelhaften Sichtweise, diese nur als

„Bekämpfung der Fluchtursachen“ zu verstehen, zumal diese sich aus dem Inter-esse speist, die Menschen aus den ehemaligen Kolonien vom eigenen Territorium und dem eigenen Wohlstand fernzuhalten und auszuschließen.

Globale Gerechtigkeit in dem hier verstandenen Sinn geht über internationale Gerechtigkeit hinaus, insofern sie den Nationalstaat als Horizont möglicher Lösungsversuchte überschreitet. Felix Heidenreich (2011, S. 207) formuliert dies so:

Während internationale Gerechtigkeit das zwischenstaatliche Verhältnis meint, beinhaltet der Begriff der globalen Gerechtigkeit einen größeren Anspruch. Er stellt die Frage nach einer gerechten Weltordnung, die weder räumlich noch zeitlich begrenzt ist, alle lebenden und künftigen Menschen berücksichtigt.

Wie eine solche Weltordnung, die es bis heute allenfalls in bescheidenen Annäherungen gibt, beschaffen sein könnte, wird kontrovers diskutiert.

Heidenreich unterscheidet drei Denkschulen. Erstens Theorien, die sich als

5Der Sozialphilosoph Valentin Beck (2016) hat in diesem Sinne eine „Theorie der globalen Verantwortung“ formuliert.

kosmopolitisch verstehen: sie plädieren für die Errichtung einer Weltordnung, die die bisherige Rolle der Nationalstaaten als Garant von Grundrechten und ent-scheidende Steuerungsebene übernehmen soll. Zweitens Theorien, die an der Rolle des Nationalstaats festhalten: sie konzipieren die künftige Weltordnung als Kooperationsprojekt zwischen prinzipiell souveränen Nationalstaaten (nach die-sem Muster sind die Vereinten Nationen konstruiert). Drittens vermittelnde Posi-tionen: sie entwerfen Modelle einer föderalen Ordnung, in denen sich (ähnlich wie im Falle der Europäischen Union) verschiedene Instanzen in einem Mehr-ebenensystem die Aufgaben teilen sollen und wo zwischen den Bürgern der ver-schiedenen Staaten ein Geflecht abgestufter Verbindlichkeiten besteht.

Kosmopolitische Theorien, auf die ich hier näher eingehen will, plädieren dafür, „Gerechtigkeit als einen Wert zu denken, der global verwirklicht werden muss und nicht auf der Ebene des Nationalstaats allein umgesetzt werden kann.

Zur Gerechtigkeit sind wir einander als Menschen bzw. als Weltbürger (nicht nur als Bürger eines bestimmten Gemeinwesens) verpflichtet“ (a. a. O., S. 208).

Wird der Gedanke globaler Gerechtigkeit in diesem Sinne ernst genommen, müsste eine globale Umverteilung der auf der Erde bestehenden Ressourcen vor-genommen werden, und alle Menschen müssten sich gleichermaßen zu einem Lebens- und Konsumstil verpflichten, der mit diesen Ressourcen schonend umgeht und sie auch für künftige Generationen sichert. Da nicht zu erwarten ist, dass Menschen, die bisher von der ungleichen Weltordnung profitieren, ohne wei-teres auf bisherige Privilegien verzichten, müsste die notwendige Umverteilung durch eine Art Weltregierung mit umfassenden Kompetenzen sichergestellt wer-den. Dies gilt umgekehrt auch für die Menschen, die seit Jahrhunderten unter der ungleichen Weltordnung zu leiden haben und ihre Hoffnung auf ein besseres Leben an wirtschaftlichen Wohlstand knüpfen oder durch Migration dem Elend zu entkommen versuchen. Sie werden nur dann einem schonenden Umgang mit den natürlichen Ressourcen zustimmen, wenn ihre materiellen Bedürfnisse soweit erfüllt werden, dass sie ein Leben ohne Hunger und in Würde führen können.

Wie komplex die zu lösenden Aufgaben sind, aber auch welche möglichen Wege sich abzeichnen, wird an den im Rahmen der Vereinten Nationen geführten Debatten und Verhandlungen um die „Agenda 2030“ mit den sog. „nachhaltigen Entwicklungszielen“ deutlich (UN 2015). In ihnen sind Fragen globaler sozialer Gerechtigkeit eng mit Fragen ökologischer bzw. klimatischer Gerechtigkeit ver-knüpft. Da eine gerechte Weltordnung, die beide Dimensionen vereint, demo-kratisch konstituiert und allen Menschen rechenschaftspflichtig sein müsste, stellt sich die Frage, ob die bisherigen auf „internationale“ Vereinbarungen zwi-schen den Nationalstaaten beruhenden Versuche der angemessene Weg sind.

Unter pragmatischen Aspekten gibt es erst einmal keine andere Alternative, aber

perspektivisch müssen Lösungen ins Auge gefasst und angestrebt werden, in denen die Menschen selbst sich näherkommen und in gegenseitiger Anerkennung den nötigen Druck erzeugen. Als grundlegende Kategorien, die eine Basis sol-cher Vereinbarungen sein können, bieten sich die Menschenwürde und die Anerkennung der Menschen als soziale Subjekte an, die mit anderen Menschen verbunden, auf sie angewiesen und ihnen verpflichtet sind.6

Universalitätsanspruch und Kulturbezug der