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Malte van Spankeren Konfliktträchtige Confessio

Im Dokument Confessio im Konflikt (Seite 54-78)

Der Türkendiskurs in

Samuel Hubers Abfall zum Caluinischen Antichrist und Philipp Nicolais Historia deß Reichs Christi

1. Hinführung

Die denkerische Auseinandersetzung mit anderen Religionsgemeinschaf-ten bildet ein Konstituens in der Geschichte der ChrisReligionsgemeinschaf-tenheit seit ihren An- fängen. Stand zunächst die Abgrenzung vom Judentum – zumal im Hinblick auf die Selbstdefinition der wachsenden Anhängerschaft des Jesus von Naza-reth – im Vordergrund, kam nach der Auseinandersetzung mit den Religi-onen und Philosophien der Antike mit dem Islam seit dem Mittelalter die dritte monotheistische Weltreligion als Reflexionsgegenstand hinzu. Johannes Damascenus (um 650–vor 754), Thomas von Aquin (um 1225–1274), Ricoldus de Montecrucis (um 1243–1320) und Cusanus (1401–1464) stehen exemplarisch für eine Reihe namhafter Theologen, welche sich mit Moham-med und den Anhängern der von ihm begründeten Religionsgemeinschaft auseinandergesetzt haben1. Eine Analyse ihrer auf den Islam bezogenen Aussagen – wobei sie weder die Begriffe »Islam« noch »Muslime« verwende-ten – zeigt, dass die Existenz dieser nachchristlichen Religionsgemeinschaft, die laut ihrem zeitgenössischen Selbstverständnis das Christentum über-bot und militärische Erfolge als vermeintliche Belege für die Wahrheit ihres Glau bensbekenntnisses reklamiert hat, erhebliche theologische Fragestel-lungen aufgeworfen hat. Diese wurden von den mittelalterlichen Theologen

1 Eine kurze Zusammenfassung ihrer Positionsbildungen bietet z.B. Malte van Spankeren, Islam und Identitätspolitik. Die Funktionalisierung der »Türkenfrage«

bei Melanchthon, Zwingli und Jonas, Tübingen 2018, S. 28–34; siehe auch den immer noch lesenswerten Beitrag von Rudolf Pfister, Reformation, Türken und Islam, in:

Zwingliana  10 (1956), S.  345–375; siehe  zu den genannten Autoren ausführlicher Johannes Ehmann (Hg.), Ricoldus de Montecrucis: Confutatio Alcorani (1300).

Martin Luther: Verlegung des Alcoran (1542), Würzburg 1999; zu Cusanus’ Verhältnis zum Islam siehe Ludwig Hagemann / Reinhold Glei (Hg.), Nikolaus von Kues. Sich-tung des Korans. Erstes Buch, in: Ernst Hoffmann u.a. (Hg.), Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung, H. 20a, Hamburg 1989.

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aufgegriffen und schwerpunktmäßig unter heilsgeschichtlicher Perspektive gedeutet. Beispielsweise wurde die Behauptung eines kausalen Zusammen-hangs zwischen den unleugbaren militärischen Erfolgen arabischer – später osmanischer – Heere und ihren religiösen Überzeugungen von christlichen Autoren diskutiert und im Sinne der eigenen Confessio uminterpretiert.

Die Bekenner des Islams wurden als die aus dem Alten Testament und der Johannesoffenbarung bekannten antichristlichen Mächte Gog und Magog dargestellt, die nunmehr ihr Zerstörungswerk begonnen hätten. In diesem Zusammenhang wird die angebliche Verderbtheit einzelner christlicher Min-derheiten, welche in unterschiedlicher Weise in Konflikt mit der dominie-renden Kirche standen, als Ursache für die muslimische Militärstärke ver-antwortlich gemacht. Dahinter steht die Flagellum-Dei-Vorstellung, laut der die Osmanen von Gott als Strafinstrument (»Geißel Gottes«) benutzt werden.

Diese Funktionalisierung bildete eine der Haupt umgangsweisen christlicher Theologen mit dem Islam und dominierte auch den lutherischen Türkendis-kurs des 17. Jahrhunderts.

Der Begriff »Türkendiskurs« dient dazu einen argumentativen Umgang näher zu kennzeichnen, der sich nicht für die »Muslime« um ihrer selbst willen interessiert oder aus ethnographischen Interessen eine Beschreibung dieser fremden Religion und ihrer Anhänger bieten will. Dabei ist der Tür-kendiskurs seitens christlicher Theologen primär deshalb geführt worden, um einerseits Fragestellungen, die aus ihrem Verständnis der christlichen Heils-geschichte resultierten, näher zu beantworten und um andererseits theolo-gische Gegner innerhalb des Christentums zu attackieren. Dass dabei auch Neugierde und Furcht vor den als »Barbaren« titulierten Muslimen eine Rolle gespielt haben, ist freilich ebenso zu veranschlagen, wie die Absicht der Auto-ren, sich mithilfe einer Publikation, die sich einem zeitgenössisch hoch aktu-ellen Thema widmete, der lesekundigen Öffentlichkeit als versierter Experte zu präsentieren. Diese beiden Motive spielen insbesondere bei den beiden unter (2.)  vorzustellenden Quellen eine gewichtige Rolle. Welche weiteren Motive ihre Verfasser bewogen haben, sich mit dem Islam näher zu beschäf-tigen und inwiefern dabei ihre spezifische Confessio zum Ausdruck kommt, welche durch ihre Zugehörigkeit zur lutherischen Konfession beeinflusst ist, wird unter (3.) näher beantwortet. Zunächst jedoch ist auf den Umgang mit dem Islam und auf seine Deutung seitens der Reformatoren näher einzuge-hen, bildet dies doch die entscheidende Traditionsspur, in der sich lutherische Theologen folgender Jahrzehnte und Jahrhunderte mit ihren Aussagen über den Islam eingeordnet haben. Dabei ist festzustellen, dass die Reformatoren die mittelalterlichen Umgangsweisen mit dem Islam aufgegriffen haben  – wobei auch sie weder die Begriffe »Islam« noch »Muslime« verwendeten – und diese weiter tradierten. Dennoch bildet die Reformationszeit innerhalb der christlichen Auseinandersetzung mit dem Islam, deren Bekenner

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mehr vereinfachend »Türken«2 genannt wurden, einen einschneidenden und besonders zu berücksichtigenden Zeitabschnitt. Dies lässt sich anhand von zwei Aspekten aufzeigen. Erstens stellte das Osmanische Reich, die damalige militärische Supermacht innerhalb der islamischen Welt, eine nie dagewesene realpolitische Bedrohung dar, welche die europäischen Zeitgenossen nachhal-tig beschäfnachhal-tigt hat3. Nachdem die Osmanen mit der Eroberung Ägyptens 1517 innerhalb der islamischen Staatenwelt eine dominierende Position errungen hatten, eroberten sie sukzessive traditionell zu Südosteuropa gezählte Gebiete und Städte wie 1521 Belgrad und 1522 Rhodos und besetzten 1526 weite Teile Ungarns. Die Belagerung der habsburgischen Hauptstadt Wien 15294 stimulierte in bis dato unbekanntem Ausmaß die Publikation »türkenkund-licher« Schriften seitens europäischer Autoren5. Man hatte in Europa große Angst vor diesem militärisch mächtigen, beinahe unbezwingbar erscheinen-den fremdreligiösen Gegner6. Infolgedessen war die Islamwahrnehmung der Reformationszeit in hohem Maß affektiv beeinflusst. Hinzu kam ein weiterer für die Reformationszeit prägender Aspekt, der für die Deutung der Muslime

2 Daneben werden ältere Bezeichnungen wie »Sarazenen« oder schlicht »Barbaren«

weiterverwendet. Die mit dem Begriff »Türken« in der Regel bezeichneten Osmanen stellten zeitgenössisch die wichtigste muslimische Ethnie dar und sind in der Regel gemeint, wenn von »Türken« die Rede ist, auch wenn beispielsweise Philipp Melanch-thon weiß, dass es andere muslimische Völker wie die Perser gibt, die er – zurecht – als innerislamische Konkurrenten der Osmanen wahrnimmt.

3 Zur Geschichte des Osmanischen Reichs ist grundlegend Suraiya Faroqhi / Kate Fleet (Hg.), The Ottoman Empire as a World Power 1453–1603, Cambridge 2012.

Siehe auch das trotz einiger Schwächen – insbesondere die »Verfallstheorie« des Osma-nischen Reichs ist überholt – vormalige Standardwerk von Josef Matuz, Das Osmani-sche Reich. Grundlinien seiner Geschichte, Darmstadt 62010. Siehe für die allgemeine Geschichte außerdem Peter Golden, An Introduction to the History of the Turkic Peoples. Ethnogenesis and State-formation in Medieval and Early Modern Eurasia and the Middle East, Wiesbaden 1992. Eine kurze deutschsprachige Zusammenfassung bietet Suraiya Faroqhi, Geschichte des Osmanischen Reiches, München 52010.

4 Freilich hatten die Osmanen die Belagerung Wiens nur deshalb nach zwei Wochen abgebrochen, weil die Witterungsbedingungen des Wiener Herbstes eine weitere Be- lagerung nicht mehr zuließen.

5 Eine direkte Folge der Belagerung Wiens betraf auch die sogenannten »Türkenhil-fen«, deren Bedeutung auf den Reichstagen in der Folge wachsen sollte. Damit ist der Beistand im Falle einer akuten Bedrohung durch osmanische Truppen gemeint. Über diese führen Aulinger, Machoczek und Schweinzer-Burian aus: »Bis 1545 wurde sie als wichtiger, wenn nicht sogar als der wichtigste Verhandlungspunkt in den Propositio-nen genannt«. Rosemarie Aulinger u.a., Ferdinand I. und die Reichstage unter Kaiser Karl V. (1521–1555), in: Martina Fuchs / Alfred Kohler (Hg.), Kaiser Ferdinand I.

Aspekte eines Herrscherlebens, Münster 2003, S. 119. Dabei ist zu unterscheiden zwi-schen den sogenannten eilenden Türkenhilfen, die zur Kriegsfinanzierung dienen soll-ten, und den beharrlichen, welche dem Ausbau und der Verteidigung von Grenzfes-tungen dienten.

6 Zsuzsa Barbarics-Hermanik, Reale oder gemachte Angst? Türkengefahr und Tür-kenpropaganda im 16. und 17. Jahrhundert, in: Dies. / Harald Heppner (Hg.), Türken-angst und Festungsbau. Wirklichkeit und Mythos, Frankfurt a.M. 2009, S. 43–75.

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erhebliche Auswirkungen hatte. Angesichts des Auseinanderbrechens der europäischen Christenheit wurde die zeitgleiche Bedrohung durch das Osma-nische Reich in erheblichem Maß eschatologisch aufgeladen. Die durch das Auftreten Luthers bedingte, wachsende innerchristliche Polarisierung und die heranrückenden Osmanen bildeten zusammen eine Gemengelage, welche ein endzeitliches Geschehen einzuläuten schien. In diesem Punkt war somit die Wahrnehmung altgläubiger und protestantischer Theologen sehr ähnlich:

Ihre Gegner schienen jeweils in bedrohlichem Maße zu wachsen.

Anhand der Ausführungen von Martin Luther (1483–1546), Philipp Melanchthon (1497–1560), Ulrich Zwingli (1484–1531) und vielen weite-ren Reformatoweite-ren lässt sich luzide illustrieweite-ren, wie der Islam im Kontext einer sich vertiefenden Selbstwahrnehmung der eignen, als exklusiv im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit verstandenen Glaubensgemein-schaft funktionalisiert wurde7. Dabei wurden Traditionsstränge wie der Ge - danke eines proportionalen Verhältnisses zwischen christlichen Sünden und muslimischer Militärstärke wieder aufgegriffen und im Sinne der eige-nen Glaubensgemeinschaft identitätspolitisch gedeutet8. So warf man pro-testantischerseits der altgläubigen Mehrheitsgesellschaft vor, ihre theo-logischen Verfehlungen und sittlichen Defizite hätten die Machtfülle der Muslime erst hervorgerufen und nur eine umfassende Reformation könne Ab- hilfe schaffen. Solche Argumente zeigen deutlich die im Hintergrund ste-hende Confessio der Reformatoren. Außerdem, so argumentierten vor allem Luther und Melanchthon, wiesen die Altgläubigen hinsichtlich ihrer Vor stellungen zur Werkgerechtigkeit und ihrer Verbreitung theologischer Vor stellungen mithilfe des Schwerts signifikante Parallelen zu den »Tür- ken« auf.

Im Gegenzug erklärten altgläubige Autoren die angeblichen Ketzereien Luthers und seiner Anhänger strukturanalog als verantwortlich für die gestie-gene Bedrohung durch die Muslime. Der altgläubigen wie der protestanti-schen Wahrnehmungsformation ist somit der innerchristliche Blickwinkel gemeinsam, aus dem heraus argumentiert wird. Auf Basis dieser Perspektive interessierte man sich nur insoweit für die »Fremden«9, als sich aus ihrer Existenz geeignete Argumente für den innerchristlichen Diskurs über die

7 Zur gesamten Thematik siehe neben den Literaturangaben in Fußnote 1 auch Thomas Kaufmann, »Türckenbüchlein«. Zur christlichen Wahrnehmung »türkischer Reli-gion« in Spätmittelalter und Reformation, Göttingen 2008. Luthers wichtigste Publika-tionen zur Thematik stellen seine Schrift »Vom kriege widder die Türcken« (WA 30,2;

107–148) sowie die »Heerpredigt wider den Türken« (WA 30,2; 160–197) dar.

8 Zu dieser mittels des Islams geführten identitätspolitischen Funktionalisierung siehe Malte van Spankeren, Luther und die Türken, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 32017, S. 262–269.

9 Unter Bezugnahme auf den Islam, untersucht Jürgen Osterhammel die christliche Wahrnehmung in Jürgen Osterhammel, Wahrnehmungsformen und kulturelle

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Berechtigung der eigenen Glaubensgemeinschaft gewinnen ließen. In diesem Zusammenhang bediente man sich auf beiden Seiten seines disparaten Wis-sens über islamische Religionspraktiken und Glaubensvorstellungen, um die-sen die eigenen als die einzig sachgerechten gegenüberzustellen. Der Türken-diskurs der Reformationszeit wurde somit weder von protestantischer noch von altgläubiger Seite frei von normativen Vorgaben geführt, und diese waren ihrerseits durch die jeweilige Confessio geprägt. Ob diese reflektiert wurden oder nicht, war im Übrigen für die Vitalität dieses Diskurses von nachrangi-ger Bedeutung.

Der Begriff der Confessio hilft in diesem Zusammenhang für ein sach-gerechtes Verständnis des Türkendiskurses entscheidend weiter. Denn er öffnet – auch über die Reformationszeit hinaus – den Blick für die eigent-liche Motivlage und die zugrundeliegende Selbstwahrnehmung derjenigen Theologen, welche am Türkendiskurs partizipierten. An den unten näher vorzustellenden Theologen Samuel Huber (1547–1624) und Philipp Nicolai (1556–1608) lässt sich exemplarisch für den Zeitraum des sogenannten Kon-fessionellen Zeitalters zeigen, dass sie zeitgenössisch aktuelle und die Mus-lime und ihre Expansion betreffende Fragestellungen genutzt haben, um ihre lutherische Konfessionsgemeinschaft nunmehr deutlich von der reformierten abzugrenzen. Auf der Grundlage ihrer Confessio und ihrer daraus resultieren-den Selbstwahrnehmung als dezidiert lutherische Theologen haben sie einen Türkendiskurs geführt und mitgeprägt, der übergeordneten binnenchristli-chen Distanzierungsabsichten untergeordnet war, sei es, dass sie die Existenz der Muslime genutzt haben, um die angeblichen theologischen Irrlehren der Reformierten anzuprangern, sei es, dass sie die Expansionserfolge des Osma-nischen Reichs mit der mangelnden Bereitschaft, die lutherische Konfession anzunehmen und weiter zu verbreiten, erklärt haben. Ihr Umgang mit dem Islam spiegelt somit die sich verändernden Rahmenbedingungen des Konfes-sionellen Zeitalters wider. Nicht mehr primär die Altgläubigen, sondern die Reformierten werden als vordringlich zu bekämpfender Feind angesehen und entsprechend attackiert. Die Rolle des Islams blieb dabei freilich dieselbe: Er diente dazu, die rhetorischen Bandagen anzuziehen. Huber und Nicolai soll-ten dabei ausgiebig Gebrauch von der Methode der »Turkisierung« machen, also der Abwertung von religiösen Praktiken und theologischen Überzeugun-gen durch deren Parallelisierung mit muslimischen. Diese Turkisierung ent-wickelte sich aufs Ganze gesehen zu einer Diskreditierungsstrategie, welche am Ende des Reformationsjahrhundert vorwiegend, wenn auch nicht aus-schließlich, bei lutherischen Theologen zu finden ist. Hinter dieser besonders

Grenzen. Aspekte der europäisch-asiatischen Beziehungen während des Mit tel alters und der frühen Neuzeit, Bd. 1: Kulturkontakt, kulturelle Grenzen und Fremdwahrneh-mung, Hagen 2009.

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harten Form der Kritik steht eine unter lutherischen Theologen des Konfessi-onellen Zeitalters verbreitete Befürchtung: Die Reformierten schienen mehr und mehr Territorien für sich gewinnen zu können, wobei sie in manchen Gebieten, zum Beispiel in Schlesien oder den Niederlanden unter den Eli-ten alsbald zur führenden Konfession avancierEli-ten. Hinzu kamen religions-politisch wichtige und von lutherischen Theologen mit Sorge wahrgenom-mene Ereignisse wie der zeitweilige Übertritt des Kurfürstentums Pfalz zum reformierten Bekenntnis unter Friedrich III. Ebenso wurden beispielsweise die Entwicklungen in Schlesien, wo das reformierte Bekenntnis zeitgenössisch

»Mode«10 geworden war, von lutherischer Seite heftig kritisiert. Der Über-tritt des brandenburgischen Markgrafen Johann Sigismund 1613 zum refor-mierten Bekenntnis war ein weiteres sinnfälliges Indiz für die Attraktivität der jüngsten der drei Konfessionen. Insgesamt sollten bis 1619 33 Territorien, Städte und Residenzen das reformierte Bekenntnis annehmen. Insofern hat-ten lutherische Theologen wie Huber und Nicolai in ihrer Wahrnehmung durchaus Grund, die Reformierten als eine bedrohliche Konkurrenz wahr-zunehmen und entsprechend publizistisch zu attackieren. In diesem Zusam-menhang wurde Nicolai wahrscheinlich zum entscheidenden Wegbereiter der Auffassung, die Reformierten besäßen eine »türkische« Religion11.

Die Autoren der unten vorgestellten Quellen, die beide aus dem Jahr 1598 stammen, sind zum einen der ehemalige reformierte Theologe Samuel Huber, der gebürtig aus der Schweiz stammte und zwischenzeitlich als Wittenberger Theologieprofessor tätig war, bis er sich dort mit seinen lutherischen Kolle-gen überwerfen sollte. Er stellt insofern einen geeigneten Untersuchungsge-genstand dar, weil er das seltene Beispiel eines Kryptolutheraners vor Augen führt, der aufgrund seiner theologischen Positionen – zumal im Hinblick auf die Christologie  – zunächst mit reformierten und später auch mit lutheri-schen Theologen in Konflikt geriet. Er war zeitgenössisch als engagierter Kon-troverstheologe bekannt und nutzte sein Wissen über den Islam, um insbe-sondere seine ehemaligen Konfessionsgenossen publizistisch zu atta ckieren12.

10 Johannes Wallmann, Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze III, Tübingen 2010, S. 153.

11 Vgl. Thomas Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchen-geschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur, Tübingen 1998, S.  43 Anm.  119. Laut Kaufmann dürfte die Verbreitung dieses Gedankens, auch wenn er seit den 1570er Jahren von lutherischen Theologen verbreitet wurde, auf Nicolai zurück gehen. Denn auch wenn er älterer Natur war, habe Nicolai ihn erst zeitgenös-sisch bekannt gemacht. Indem eine solche Polemik Einzug in Nicolais »Historie« hielt und von ihm anhand zahlreicher Beispiele den Zeitgenossen näher vor Augen geführt wurde, wurde sie in den folgenden Jahrzehnten in gewissem Maße gängig und konnte bei späteren Auseinandersetzungen mit den Reformierten wieder aufgegriffen werden.

12 Zu Huber siehe Gottfried Adam, Der Streit um die Prädestination im ausgehenden 16. Jahrhundert. Eine Untersuchung zu den Entwürfen von Samuel Huber und Ägidius Hunnius, Neukirchen-Vluyn 1970; Volker Leppin, Der calvinische Antichrist. Zur

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Zum anderen wurde mit Philipp Nicolai ein ebenfalls zeitgenössisch popu-lärer und über das 17. Jahrhundert hinaus häufig gelesener Theologe ausge-wählt, der zahlreiche Publikationen von unterschiedlichem Gehalt vorgelegt hat. Seine wohl bekannteste, aus der auch der Quellenauszug stammt, ist die Historia deß Reichs Christi, die in zahlreichen Folgeauflagen bis Mitte des 17. Jahrhunderts ihre Popularität entfaltete und insbesondere während des 30-jährigen Krieges vielfach gelesen wurde13. Bei diesem Hauptwerk Nicolais handelt es sich um einen fast 1.000 Seiten zählenden Abriss der Weltge-schichte, welcher eine Globalgeschichte unter christlichen Vorzeichen bis in Nicolais Gegenwart darstellt. Vielfach thematisiert Nicolai darin den Islam, der in seiner Darstellung aufs engste mit innerchristlichen Entwicklungen verknüpft und vor ihrem Hintergrund interpretiert wird, worin sich seine lutherisch-orthodox geprägte Confessio deutlich widerspiegelt.

Für Nicolai kamen außerdem noch lebensweltliche Motive hinzu, sich mit den Reformierten näher auseinanderzusetzen. Da er seit 1601 als Hambur-ger Hauptpastor amtierte, lebte er in einer Stadt, die neben Emden im nord-deutschen Bereich zum Zufluchtsort für die aus westeuropäischen Staaten wie den Niederlanden seit 1567 und aus Frankreich seit 1572 vertriebenen Reformierten geworden war. Auch wenn die meisten Reformierten in Stade und Altona, wo sie eigene Gemeinden gegründet hatten, lebten, stellten sie für den orthodox-lutherischen Theologen Nicolai somit in seiner Wahrnehmung nicht nur in der Theorie eine Bedrohung dar, auf die er mit zum Teil beißen-der Polemik reagiert hat.

Hubers und Nicolais Interesse, sich aktiv am Türkendiskurs zu beteiligen, kann als ein doppeltes beschrieben werden: Zum einen wollten sie ihre lutheri-schen Konfessionsgenossen in ihrer konfessionell geprägten Gruppenidentität stärken, indem sie eine Gegnerfront, bestehend aus Reformierten, Alt gläu-bigen und »Türken« darstellten, angesichts derer das Festhalten an den als

konfessionellen Auseinandersetzung bei Samuel Huber, in: Herman J. Selderhuis u.a.

(Hg.), Calvinismus in den Auseinandersetzungen des frühen konfessionellen Zeital-ters, Tübingen 2013, S. 9–19; siehe auch die Literaturangaben bei Ernst Koch, Das konfessionelle Zeitalter. Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1563–1675), Leipzig 2000, S. 235f.

13 Philipp Nicolai, Historia deß Reichs Christi. Das ist, Gründliche Beschreibung der wundersamen erweiterung, seltzamen Glücks, vnnd [unnd] gewisser bestimp ter Zeit der Kirchen Christi im Newen [Neuen] Testament wie dieselbe an allen Or ten in der Welt wird gepflanzet durch Philippum Nicolai, der H. Schrifft Doctorern […] Her-nach aber verteutschet durch M. Gothardum Artus von Dantzig, Frankfurt 1598. Die Erstauflage erschien 1597 unter dem Titel: »Commentarius de regno Christi, vaticiniis propheticis et apostolicis accommodatorum«. Weitere Auflagen erfolgten (in Auswahl) 1607 (Frankfurt / Main), 1617 (Magdeburg), 1627 (Hamburg), 1628 (Nürnberg), 1629 (Nürnberg), 1659 (Jena), 1664 (Wittenberg). Zu Nicolai siehe u.a. Martin Lindström, Philipp Nicolais Verständnis des Christentums, Gütersloh 1939; aktuelle Literatur fin-det sich bei Friedhelm Brusniak, Art. Nicolai, Friedrich, in: RGG4 6 (2003), Sp. 292.

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allein heilsrelevant erklärten theologischen Überzeugungen der eigenen Vo- raussetzungsgemeinschaft umso notwendiger sei. Zum andern dienten ihnen ihre Bezugnahmen auf den Islam dazu, ihren Ausführungen über die luthe-rischen Zentrallehren eine höhere Aufmerksamkeit zu verschaffen. Gerade indem man ein seit Jahrzehnten aktuelles Thema wie die Existenz der Musli-me, welches überdies nach wie vor affektiv besetzt war, aufgriff, konnte man berechtigterweise davon ausgehen, mit seinen Ausführungen, das Interesse der literaten Öffentlichkeit zu gewinnen. Somit steht Hubers und Nicolais Funktionalisierung des Islams exemplarisch für den lutherischen Umgang mit diesem Thema im 17. Jahrhundert.

2. Quellen

a. Samuel Huber: Wider den Abfall zum Caluinischen Antichrist14

Es thut noth lieben Christen/ das wir ein andern erjnneren/ vnd zur Besten-digkeit vermanen/ wider den grossen Abfall/ der sich jetzt gar nahe an allen Orten reget vnd herfür thut. Es sind noch nicht viel Jare/ daß wir dem ley-digen Bapstumb entrunnen/ vnd zur Lere des heiligen Euangeliums wider allerley Menschensatzungen/ vns bekennet haben […] Aber jetzt da kreucht an allen Orten/ in mitten wo das Euangelium stehen und gläntzen solte/ her-für der Caluinische Antichrist/ der es vnterstehet noch viel ärger vor dem jüngsten Tage zu machen/ vnd viel gefährlicher/ weder es zuuor jemals mit vns gestanden ist. Denn hat man zuuor Christum Jesum der Christenheit mit Menschengesetzen vnd eytelemVertrawen auff Menschen Verdienste wol-len verstecken und verbergen/ so vnterstehet man jetzt denselbigen vns vnd vnsern Nachkommen gantz vnd gar auß den Augen/ Hertzen/ ja auß der

Es thut noth lieben Christen/ das wir ein andern erjnneren/ vnd zur Besten-digkeit vermanen/ wider den grossen Abfall/ der sich jetzt gar nahe an allen Orten reget vnd herfür thut. Es sind noch nicht viel Jare/ daß wir dem ley-digen Bapstumb entrunnen/ vnd zur Lere des heiligen Euangeliums wider allerley Menschensatzungen/ vns bekennet haben […] Aber jetzt da kreucht an allen Orten/ in mitten wo das Euangelium stehen und gläntzen solte/ her-für der Caluinische Antichrist/ der es vnterstehet noch viel ärger vor dem jüngsten Tage zu machen/ vnd viel gefährlicher/ weder es zuuor jemals mit vns gestanden ist. Denn hat man zuuor Christum Jesum der Christenheit mit Menschengesetzen vnd eytelemVertrawen auff Menschen Verdienste wol-len verstecken und verbergen/ so vnterstehet man jetzt denselbigen vns vnd vnsern Nachkommen gantz vnd gar auß den Augen/ Hertzen/ ja auß der

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