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Christopher Voigt-Goy Konfessionalität im Konflikt

Im Dokument Confessio im Konflikt (Seite 102-120)

Lutherische Wahrnehmungen mehrkonfessioneller Stadtgesellschaften anhand eines theologischen Gutachtens aus dem Jahr 16141

1. Hinführung

Für die praktische Gestaltung der reformatorischen Lehre und ihres gesell-schaftlich-kirchlichen Lebens sind im Luthertum seit der Reformationszeit immer wieder Gutachten herangezogen worden2. Diese Sachverständigen-expertisen – zeitgenössisch heißen sie u.a. »Consilia«, »Responsa«, »Beden-ken« etc. – wurden oft von theologisch-akademischen Eliten erstellt, häufig als Kollektivgutachten einer ganzen Theologischen Fakultät3. Gutachten wur-den meist in Fällen angefordert, die aufgrund der vorliegenwur-den Rechts- und Normlagen nicht eindeutig zu lösen waren. Pfarrer und Konsistorien, Stadt-räte, Bürgermeister, Ständeversammlungen oder auch gelegentlich Landes-herrn fragten Theologische Fakultäten um Rat, wenn sie sich mit Problemen konfrontiert sahen, die durch das geltende Stadt-, Land- und Reichsrecht oder durch die Kirchenordnungen nicht abgedeckt waren.

Abgesehen von den Konsistorialgutachten in Eheangelegenheiten, die von Theologen und Juristen verfasst wurden, entschieden die nur von Theologen verfassten Consilia den begutachteten Sachverhalt selten. Deren Gutachten

1 Ich danke Frau Caroline Katzer (IEG Mainz) für ihre Hilfestellungen bei der Literatur-beschaffung und Transkription.

2 Vgl. zur Gutachtertätigkeit in der Wittenberger Reformation Christopher Voigt-Goy, Art. Gutachten, in: Volker Leppin u.a. (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, S.  278–280; ders., Politische, kirchliche und gesellschaftliche Gutachen, in: Günter Frank (Hg.), Philipp Melanchthon. Der Reformator zwischen Glauben und Wissen:

Ein Handbuch, Berlin / Boston 2017, S. 295–301.

3 Vgl. zum lutherischen Gutachtenwesen: Andreas Gössner, Die Gutachten der theo-logischen Fakultät Leipzig von 1540 bis 1670, in: Michael Beyer u.a. (Hg.), Kirche und Regionalbewusstsein in Sachsen im 16. Jahrhundert. Regionenbezogene Identifikati-onsprozesse im konfessionellen Raum, Leipzig 2003, S. 189–261; Thomas Kaufmann, Die Gutachtertätigkeit der Theologischen Fakultät Rostock nach der Reformation, in:

Ders., Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006, S. 323–363; Armin Kohnle, Wittenberger Autorität. Die Gemeinschaftsgutachten als Typus, in: Irene Dingel / Günther War-tenberg (Hg.), Die Theologische Fakultät WitWar-tenberg 1502 bis 1602, Leipzig 2002, S. 189–200.

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stehen vielmehr der Tradition der juristischen Parteigutachten, den consilia pro parte nahe, die sich im 14. Jahrhundert etabliert hatte. Neben der im mit-telalterlichen Prozessrecht fest verankerten anwaltlichen Funktion solcher Parteigutachten waren diese Consilia von allgemeinerer rechtspolitischer Bedeutung, da sie die Herrschaftsintensivierung durch hoheitliche Rechtspre-chung und Gesetzgebung zu legitimieren vermochten4. Analog dazu fiel auch den theologischen Gutachten im frühneuzeitlichen Luthertum keine unmit-telbare kirchenordnende Funktion zu. Sie waren jedoch in einem weiteren Sinn von kirchenleitender Bedeutung, da sie angesichts von Orientierungs- und Durchsetzungsschwierigkeiten des kirchlichen Ordnungshandelns klä-rend eingreifen konnten. In den theologischen Gutachten spiegelt sich ins-gesamt der politische Bedeutungsaufschwung wider, der den »kirchlichen Stand« (status ecclesiasticus) im Gefolge der Reformation erfasst hatte. Er nahm im Zug der zunehmenden Integration der lutherischen Kirchentümer in die territoriale bzw. städtische Verwaltung Aufgaben der früheren Diöze-sanverwaltung wahr.

Theologische Gutachten bilden, als Quelle für die historische Analyse betrachtet, also nicht einfach die konkreten Ereignisse vor Ort ab, sondern legen in meist pointierter Weise die theologisch reflektierte und begründete Wahrnehmung von konkreten Problemen durch meist räumlich distanzierte Personen bzw. Personengruppen dar. Das macht sie zu einer geeigneten Grundlage für die historische Erforschung der frühneuzeitlichen lutherischen Konfessionalität als eines Phänomens »soziokultureller Kontextualität und kommunikativer Praxis«5. Exemplarisch lässt sich das an dem hier (2.) vorge-stellten Gutachten aus dem Jahr 1614 erfassen, welches von der Theologischen Fakultät der Universität Wittenberg verfasst wurde. In diesem Gutachten steht die Wahrnehmung mehrkonfessioneller Stadtgesellschaften im Vordergrund.

Zum Verständnis der gutachterlichen Wahrnehmung mehrkonfessionel-ler Stadtgesellschaften durch die akademische Theologenelite des frühneu-zeitlichen Luthertums um 1600 ist es wesentlich, deren historisch-normative Voraussetzungen zu erfassen. Diese Voraussetzungen werden nämlich in den theologischen Gutachten selbst selten offengelegt oder expliziert. Dass es den lutherischen Theologen dabei durchgängig und ihrem Selbstverständnis nach um die Selbstbehauptung des »wahren« christlichen Glaubens und seiner

4 Beispielhaft dargestellt sind solche allgemeineren rechtspolitischen Gutachtenvor-gänge von Hermann Lange, Recht und Macht. Politische Streitigkeiten im Spätmittel-alter, Frankfurt a.M. 2010.

5 Thomas Kaufmann, Einleitung  – Transkonfessionalität, Interkonfessionalität, bin-nenkonfessionelle Pluralität. Neuere Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, in:

Kaspar von Greyerz u.a. (Hg.), Interkonfessionalität –Transkonfessionalität  – bin-nenkonfessionelle Pluralisierung. Neuere Forschungen zur Konfessionalisierungs-these, Heidelberg 2003, S. 9–15, hier S. 14.

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äußerlich kirchlichen Ausformung im Gegenüber zu den anderen, als »falsch«

beurteilten Konfessionen ging, ist hier schon im Beitrag von Christian Witt angesprochen. Mit Bezug auf die Wahrnehmung städtischer Mehrkonfessio-nalität kommt allerdings noch hinzu, dass die »Stadt« wie kaum ein anderes Sozialgebilde als Ideal der gesellschaftlichen Einheit und der Eintracht angese-hen, verstanden und in Ritualen und Festen inszeniert worden ist. Dieses Ideal galt auch in religiöser Hinsicht und wurde als eine gottwohlgefällige Synthese von kultisch-religiöser, moralisch-tugendhafter und politischer Gemeinschaft imaginiert, wie Bernd Moeller treffend zusammengefasst hat: »Die deutsche Stadt des Spätmittelalters hatte eine Neigung, sich als Corpus christianum im kleinen zu verstehen«6. Angesichts dieser religiös-politischen Leitidee stellten mehrkonfessionelle Zustände für viele Zeitgenossen egal welcher Konfession einen verurteilungswürdigen Umstand dar, gegen den auch die lutherischen Theologen die politischen Obrigkeiten mobilisierend in die Pflicht nahmen:

Sie sollten als »Hüter beider Tafeln« (custodes utriusque tabulae) die Stadt-bewohner zur religiösen Einheit und zu einem gottgefälligen Leben in der Befolgung des Dekalogs anhalten7.

Gleichwohl war den lutherischen Theologen bewusst, dass die gesell-schaftliche Implementierung dieser Leitidee reichsrechtlich mit Schwierig-keiten behaftet war. Den Grund hierfür stellte der weitgehend ungeklärte Status der tatsächlichen Religionshoheit der reichstädtischen Obrigkeiten dar: Zwar hatte der Augsburger Religionsfrieden von 15558 den Reichsstän-den eine umfassende Religionshoheit für ihre Herrschaftsgebiete zugespro-chen (Art. 15 ARF: ius reformandi), die den Konfessionsstand der Obrigkeit zugleich für ihre Untertanen verbindlich machte. Und zu den Reichsständen zählten natürlich auch die Reichstädte. Allerdings wurde für die Reichsstädte in Augsburg eine Sonderregelung getroffen. Dieser Regelung zufolge sollte in den (freien) Reichsstädten, in denen schon vor dem Augsburger Religi-onsfrieden die beiden reichsrechtlich anerkannten Konfessionen »im gang und im geprauch« gewesen waren, dieser status quo erhalten bleiben (Art. 27 ARF9). Diese Sonderregelung durchbrach nicht nur das sonst im

Religions-6 Bernd Moeller, Reichsstadt und Reformation, Gütersloh 1962, S. 15.

7 Zur religiös-politischen Kommunikation der lutherischen Pfarrer im Kontext früh-neuzeitlicher Ordnungsvorstellungen vgl. Luise Schorn-Schütte, Gottes Wort und Menschenherrschaft. Politisch-theologische Sprachen im Europa der Frühen Neuzeit, München 2015.

8 Der Text des Augsburger Religionsfriedens hier nach der Online-Edition des Projekts

»Religiöse Friedensstiftung und Friedenswahrung in Europa« (religionsfrieden.de):

Alexandra Schäfer-Griebel (Bearb.), Augsburger Religionsfrieden (25. Septem-ber 1555), URL: <http://tueditions.ulb.tu-darmstadt.de/e000001/quellentexte/target/

augsburger_religionsfriede.html> (10.09.2018).

9 Vgl. Art. 27 ARF: »Nachdem aber in vielen Frey und Reichßstetten die bede Religioe-nen, Nemlich unser alte Religion unnd der Augspurgischen Confession verwandten Religion, ein zeit hero im gang und geprauch gewesen, So sollen dieselbigen hinfuro

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frieden verfolgte Prinzip, das bei anerkannter Glaubenszweiheit der Reichs-stände auf der Reichsebene für die einzelnen Herrschaftsgebiete eine mit Bekenntniszwang verbundene Glaubenseinheit vorsah. Vielmehr warf sie, viel grundsätzlicher, das Problem auf, ob Reichsstädte überhaupt über das ius reformandi verfügten10. Vor diesem Hintergrund wird man den späteren Anschluss mehrerer Reichsstädte an das lutherische Konkordienwerk von 1580 und die damit herausgestrichene Zugehörigkeit zum »Luthertum« auch als politische Selbstbehauptung der Reichstädte als Reichsstand begreifen können. Nichtsdestotrotz beseitigten auch solche symbolpolitischen Zugehö-rigkeitserklärungen die rechtlichen Unklarheiten bei der Behandlung fremd-konfessioneller Stadtbewohner, ihrer Religionsausübung und vor allem ihres kirchlichen Besitzes nicht11.

Ebenfalls ist für die Wahrnehmung der lutherischen Theologen zu beden-ken, dass sie darum wussten, dass frühneuzeitliche Stadtgesellschaften keine statischen Gebilde waren:

Charakteristisch für quasi alle Städte ist […] das Kommen und Gehen, d.h. eine Mobilität sehr verschiedener Art auf einer Skala zwischen täglichen Stadt-Umland-Beziehungen und Fernmigration durch Menschen unterschiedlichster Herkunft 12.

Die insgesamt schwer zu überschätzende Mobilität in den frühneuzeitlichen Gesellschaften13 war einer der grundlegenden Prozesse, welcher für die weit-reichende konfessionelle Durchmischung in den Regionen des Alten Reiches

auch also pleyben und in denselbigen Stetten gehalten werden unnd der selben frey und Reichßstet Burger und andere einwoner, Geystlich unnd Weltlichs Standts, Fried-lich unnd Rübig bey unnd neben einander wonen unnd kein Theyl des andern Re-ligion, Kirchen gepreuch oder Cerimonien abzuthun oder ineba darvon Zutringen understen, sonder jeder theyl den andern, lauth dieses friedens, bey solcher seiner Re-ligion, Glauben, Kirchen gepreuchen, Ordnungen und Cerimonien, auch seynen haab und güttern und allem andern, wie hieoben beder Religion Reichstendt halb verordnet unnd gesetzt worden, Ruwiglich und friedlich bleiben lassen«.

10 Vgl. zu der Problematik insgesamt höchst aufschlussreich: Gerhard Pfeiffer, Der Augsburger Religionsfrieden und die Reichsstädte, in: ZHVS 61 (1955), S. 213–321, bes. S. 274.

11 Vgl. zu den Kirchengütern Anton Schindling, Die Reformation in den Reichsstädten und die Kirchengüter. Straßburg, Nürnberg und Frankfurt im Vergleich, in: Jürgen Sydow (Hg.), Bürgerschaft und Kirche, Sigmaringen 1980, S. 67–88.

12 Joachim Eibach, Zugehörigkeit versus Heterogenität in der vormodernen Stadt.

Regulierung durch Präsenz und Sichtbarkeit, in: Julia A. Schmidt-Funke / Matthias Schnettger (Hg.), Neue Stadtgeschichte(n). Die Reichsstadt Frankfurt im Vergleich, Bielefeld 2018, S. 43–72, hier S. 45.

13 Vgl. dazu die Studien in: Henning P. Jürgens / Thomas Weller (Hg.), Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbil-dung im frühneuzeitlichen Europa, Göttingen 2010 (VIEG Beiheft 81).

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sorgte14. Diese Mobilität war mit Blick auf das Wirtschaftsleben einer früh-neuzeitlichen Stadt auch alles andere als unwillkommen, da sie der Intensi-vierung der Handelsbeziehungen und damit insgesamt der ökonomischen Wohlfahrt der Stadtgesellschaft zugute kommen konnte.

Diese theologischen, rechtlichen und lebensweltlichen Voraussetzungen gingen untergründig in die Wahrnehmung und Bewertung von städtischen Konfessionskonflikten ein, die sich meist in konfessioneller Konkurrenz um den »öffentlichen Raum« entfalteten15. Dass lutherische Theologen um 1600 dabei besonders sensibel für derartige Konflikte mit den Reformierten, also mit den sogenannten »Calvinisten« waren, ist mit diesen Voraussetzungen ganz unmittelbar verbunden. Denn theologisch galten die »Calvinisten« nach verbreiteter lutherischer Anschauung als vom »wahren« reformatorischen Glauben Abgegangene, was dogmatisch an ihren »Irrtümern« besonders in der Abendmahls- und Prädestinationslehre festgemacht wurde16. Reichsrecht-lich war das Verhältnis zwischen beiden protestantischen Parteien grundsätz-lich gespannt, da die Lutheraner die Calvinisten aus besagten theologischen Gründen nicht als »Augsburger Konfessionsverwandte« und damit den Frie-densschutz genießende Konfession ansahen. Aus politischen Gründen stellten sie ihre »Augsburger Konfessionsverwandtschaft« allerdings nicht offiziell in Frage17. Und in lebensweltlicher Hinsicht war es für die lutherischen Theolo-gen nicht zu übersehen, dass die erfolgreiche Ausbreitung des »Calvinismus«

im Reich  – was gelegentlich von der Forschung als »Zweite Reformation«

14 Grundlegend: Anton Schindling, Andersgläubige Nachbarn. Mehrkonfessiona-litat und Parität in Territorien und Städten des Reichs, in: Klaus Bussmann / Heinz Schilling (Hg.), 1648 – Krieg und Frieden in Europa. Ausstellungskatalog (26. Euro-paratsausstellung. Westfälisches Landesmuseum Münster und Kulturgeschichtliches Museum Osnabrück 1998/99), Aufsatzbd. 1: Geschichte, Religion, Recht und Gesell-schaft, Münster / Osnabrück 1998, S.  465–473. Vgl. weiterhin David M. Luebke, A Multiconfessional Empire, in: Thomas Max Safley (Hg.), A Companion to Multicon-fessionalism in the Early Modern World, Leiden 2011, S. 129–154.

15 Vgl. dazu mit weiterer Literatur: Matthias Schnettger, Sichtbare Grenzen. Katholi-ken, Reformierte und Juden in der lutherischen Reichsstadt Frankfurt, in: Schmidt-Funke / Schnettger (Hg.), Neue Stadtgeschichte(n), S. 73–98. Die Literatur zu den Konfessionsverhältnissen in den einzelnen Städten des Reiches ist mittlerweile sehr umfangreich. Ein Klassiker ist: Étienne François, Die unsichtbare Grenze. Protestan-ten und Katholiken in Augsburg, Sigmaringen 1991. Neuere monographische ArbeiProtestan-ten mit weiteren Literaturangaben sind: Daniela Blum, Multikonfessionalität im Alltag.

Speyer zwischen politischem Frieden und Bekenntnisernst (1555–1618), Münster 2015; Thomas Kirchner, Katholiken, Lutheraner und Reformierte in Aachen 1555–

1618. Konfessionskulturen im Zusammenspiel, Tübingen 2015.

16 Vgl. Walter Sparn, Die fundamentaltheologische Fixierung des Anticalvinismus im deutschen Luthertum, in: Herman J. Selderhuis u.a. (Hg.), Calvinismus in den Ausein andersetzungen des frühen konfessionellen Zeitalters, Göttingen 2013, S. 127–150.

17 Vgl. dazu Martin Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 1982, S. 76f.

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bezeichnet wird18 – durch eine internationale und hoch mobile Elite voran-getrieben wurde19. Hinzu kamen noch die reformierten Glaubensflüchtlinge, die vor dem in den Niederlanden tobenden Kriegsgeschehen vornehmlich in den bislang lutherisch dominierten norddeutschen Raum migrierten20. Dies machte, zusammengenommen, ein ponderables Bedrohungsszenario für die Vertreter des »wahren« Glaubens aus. Doch trotzdem, und das ist wichtig, lie-ßen sie sich in dieser – wenn man so will: wahrnehmungspsychologischen – Situation nicht einfach von ihren Befürchtungen die Feder führen, sondern reagierten auf Konfessionskonflikte auch und gerade mit den »Calvinisten«

in differenzierter, Normen gegeneinander abwägender Art und Weise. Den Raum dafür boten ihnen nicht zuletzt ihre Gutachten.

So geht das folgende Gutachten auf eine Anfrage an die Theologische Fakultät in Wittenberg zurück, die auf den 4. Juni 1614 datiert ist. Sie ist im Universitätsarchiv Halle zusammen mit dem Gutachtenentwurf erhalten;

sie trägt hier die Überschrift: quaestiones variae de diversarum Religionum hominibus21. Aus dem Anschreiben wissen wir, dass die Fragen von einem gewissen Magister Gottfried Christian stammen, der sonst aber völlig unbe-kannt ist. Ebenfalls unklar ist der Ort bzw. die Stadt, die in den insgesamt fünf Gutachtenfragen gemeint ist. Schon zeitgenössisch war man sich darü-ber im Unklaren. Vermutlich das damalige Fakultätsmitglied Balthasar Meis-ner (1587–1626) notierte unter den Gutachtenentwurf: »Hamburg?«22. Für diese Annahme sprechen gleich mehrere Indizien, die sich den zu Anfang eines jeden Abschnitts noch einmal wiederholten Fragen entnehmen lassen:

So erwähnt die erste Frage ein älteres politisches Mandat, was sich wohl auf das Decret der löblichen Niedersächsischen Städte gegen die Wiedertäuffer und Sacramentirer bezieht, das im Sommer 1555 von den »Wendischen Städten«

Lübeck, Hamburg, Rostock, Stralsund, Wismar und Lüneburg promulgiert wurde23. Ebenso sprechen für zumindest eine Stadt aus diesem Raum die Anfragen betreffs der »Calvinisten«, wie ähnliche gesicherte Anfragen aus diesem Raum zu dieser Zeit nahelegen24. Die letzte Frage, jüdische Ärzte

18 Vgl. Heinz Schilling (Hg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland.

Das Problem der »Zweiten Reformation«. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1985, Gütersloh 1986.

19 Vgl. die Studien in: Irene Dingel / Herman J. Selderhuis, Calvin und Calvinismus.

Europäische Perspektiven, Göttingen 2011 (VIEG Beiheft 84).

20 Vgl. hierzu und den Folgen für Hamburg: Vgl. Joachim Whaley, Religiöse Toleranz und sozialer Wandel in Hamburg 1529–1819, Hamburg 1992.

21 Universitätsarchiv Halle: Rep. 1, Nr. 4596, Bl. 292–297, hier Bl. 292r.

22 Universitätsarchiv Halle: Rep. 1, Nr. 4596, Bl. 297r.

23 Abgedruckt in: Johann Ernst Gerhard / Christian Grübel (Bearb.), Thesaurus Consi-liorum et Decisionum, 4 Bde., Jena 1671, Bd. 2, S. 92f.

24 Vgl. dazu Christopher Voigt-Goy, Das exercitium religionis Reformierter im Spiegel lutherischer Responsa vor 1648, in: Malte van Spankeren / Christian V. Witt (Hg.),

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betreffend25, deutet auf die dauerhafte Präsenz jüdischer Gemeinden in der ungenannten Stadt hin – dies wäre dann vor allem in Hamburg der Fall26.

Das Gutachten stellt einen gewissen Sonderfall im normalen Gutachten-wesen dar, da es sichtlich ohne konkreten Anlass in Auftrag gegeben wurde.

Es handelt sich also um eine Art Mustergutachten, über dessen weiteren Verwendungszweck nichts gesagt werden kann. Das mag die längere Bear-beitungszeit der Anfrage durch die Fakultät erklären, die ihre Gutachten am 15. August 1614 vorlegte bzw. verschickte. Das Gutachten wurde im Umlauf-verfahren erstellt, d.h. ein Fakultätsmitglied übernahm den Antwortentwurf, den dann die anderen Fakultätsmitglieder mit ihren Verbesserungsvorschlä-gen oder mit bloßer Zustimmung versahen. Die Mitglieder der Fakultät waren zu dieser Zeit neben dem bereits erwähnten Balthasar Meisner die Theologen Leonhard Hutter (1563–1616), Wolfgang Franz (1564–1628) und Friedrich Balduin (1575–1627). Das reinschriftliche Original des Gutachtens ist nicht mehr erhalten.

Allerdings wurde das Gutachten Jahrzehnte später gedruckt, und zwar in der Sammlung der Gutachten der Wittenberger Fakultät Consilia Theo-logica Witebergensia im Jahr 1664. Dies hat mit der Rezeptions- bzw. Wir-kungsgeschichte des Gutachtens zu tun, die in der Analyse umrissen werden soll (3.).

2. Quelle27 Responsum.

Ob man andere Religions-Verwanten als Calvinisten, Papisten, Juden in eine Stadt annehmen und wie man mit ihnen umgehen solle?

Confessio im Barock. Religiöse Wahrnehmungsformationen im 17. Jahrhundert, Leip-zig 2015, S. 76–93.

25 Vgl. zu dieser Berufsgruppe und ihrer Bedeutung: Robert Jütte, Contacts at the Bed-side. Jewish Physicians and their Christian Patients, in: Harmut Lehman / Ronie Po-Chia Hsia (Hg.), In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany, New York 1995, S. 137–150.

26 Zur jüdischen Gemeinde in Hamburg in der Frühen Neuzeit: Das jüdische Hamburg.

ein historisches Nachschlagewerk, hg. v. Institut für die Geschichte der Deutschen Juden, Göttingen 2006, S. 81–83.

27 Transkription nach: Abraham Calov u.a., Consilia Theologica Witebergensia, Wit-tenberg 1664, Theil III: Von Moral- und Policey-Sachen, S. 55f. In der Transkription sind die Zeichensetzung, Groß- und Kleinschreibung sowie die Umlaute modernisiert worden. Kursivierungen im Text verweisen auf den im originalen Frakturdruck statt-findenden Wechsel auf Antiqua.

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Ehrwürdiger, wohlgelahrter, günstiger guter Freund: Euer an uns gethane Fra-gen haben wir nach Gottes Wort und denen von euch angezoFra-genen Rahtsman-daten in der Furcht Gottes erwogen und geben euch darauff diesen Bescheid, wie ordentlich folget.

I.

Ob das Einnehmen der Kalvinianer, Papisten, Juden, Wiedertäuffer und anderer Sectirer in euer fürnehme Stad und deroselben Häuser (Genieses und Gewinst halber) Gottes Wort und einem von euch politischen prohibitorio alten mandato gemäß28 und also in sich nicht unrecht und ohne Sünde sey und was den Predigern zuthun sey, so der Rath euer Stad in solchem Regi-ment fortfahren mögte, das alte prohibitorium mandatum gar abfordern und nicht mehr von der Kantzel nach altem Gebrauch ablesen würde lassen oder wol gar ein contrarium mandatum promulgiren dörffte, antworten wir: wie zwar zuwünschen were, daß, [um] allerley verwirrung und Verführung zu verhüten, bey euch niemand möchte receptirt und hausiret werden als die-jenigen, so mit euch Lutherischen in den Christlichen Artickeln der waa-ren unverfälschten Religion einig und gleichstimmig wewaa-ren. Dieweil aber so thanes Orts Gelegenheit mit sich bringet und nicht gantz vermeidet werden darff, daß auch andere allerley Secten auß nahen und weit entlegenen nati-onen dahin handeln und wandeln, weil es auch in genere dem Wort Gottes nicht zu wider ist, daß frembde Religion zugethane politische Personen sich bey dem Volck Gottes niedergelassen und gestalten Sachen nach gedultet wer-den, und denn in specie dieweil in H. Röm. Reich (wiewol zu wieder dem passauischen Decreto 1551 (sic!)29 und dem darauff anno 1555. bekräfftig-ten Augspurgischen Religions Fried30) frembder ander Religion zugethane per Tolerantiam gelitten werden. Auch dieweil die H. Schrifft und Erfahrung bezeuget, daß viel irrige frembde Wanders-Leut durch Bescheidenheit und Fleiß deren Gottseeligen einheimischen und rechtgläubigen Christen bißwei-len sind zu der waaren Bekändnüß Christi bekehret worden. Als werdet ihr euch nach derenselben Gewonheiten und Tolerantien auch richten müssen, jedoch mit Fleiß nicht allein bey den Zuhörern sondern auch bey der Obrig-keit (es würden auch die alten Befehlich abzulesen von der Cantzel vergönnet oder untersaget) gleichwol mit aller gebührlichen Bescheidenheit, ohne Auf-ruhr, die Sachen dahin richten, wo dem alten prohibitorio mandato zu wider

28 Gemeint ist wohl das 1555 veröffentlichtes Mandat der »Wendischen Städte«, vgl. oben Anm. 23.

29 Gemeint ist der 1552 (!) geschlossene »Passauer Vertrag«.

30 Gemeint ist der Augsburger Religionsfrieden vom 25. September 1555.

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sich Persohnen in eure Stad einmengen würden, welche öffentliche Wieder-täufferey treiben solten oder unter den Sacramentirern von den H. Hoch-würdigen Sacramenten unser seeligen Tauff und deß Sacraments deß wahren Leibs und Bluts unsers lieben Herrn Iesu Christi lästerlich und contumeliose rederen; dabey nach euren gebührlichen Unterricht und Vermahnung

sich Persohnen in eure Stad einmengen würden, welche öffentliche Wieder-täufferey treiben solten oder unter den Sacramentirern von den H. Hoch-würdigen Sacramenten unser seeligen Tauff und deß Sacraments deß wahren Leibs und Bluts unsers lieben Herrn Iesu Christi lästerlich und contumeliose rederen; dabey nach euren gebührlichen Unterricht und Vermahnung

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