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Im landläufigen Verständnis vom Übersetzen gibt es sicherlich die Vorstellung, dass eine Übersetzung sich treu oder loyal zum Original zu verhalten habe. Ich interpretiere den Begriff Loyalität in diesem Kontext enger als Nord als Bemühung um eine Form der Übersetzung, die der „begründete[n] Erwartung an die Überset-zung“ durch den Autor entspricht (Nord, 1993, S. 18). Die Frage ist, ob sich diese Forderung nach Loyalität auch auf den Titel beziehen lässt und was das für die ein-zelnen Formen der Titelübertragung bedeutet.

Die folgende Tabelle setzt Resultate und Prozesse des Titeltransfers in Relation zum Grad der Loyalität, der jeweils gegenüber dem Originaltitel gewahrt wird.

Demnach müssten wir bei Titelidentität und -analogie von einer gegebenen Titel-treue ausgehen, während sich die Titelvariation und die Titelinnovation in unter-schiedlicher Weise illoyal gegenüber dem Original verhalten. Dabei geht es natür-lich nicht um eine moralische Wertung, wohl aber, wie ich zeigen möchte, um eine Machtfrage, um einen Zusammenhang zwischen der Freiheit der Titelgebung bei Übersetzungen, die sich häufig an marketingstrategischen und verlagspolitischen Überlegungen orientiert, und den entgegenstehenden Kräften wie dem Einfluss

interkultureller Titeltransfer

Resultat Prozess Loyalität

Titelidentität Titelübernahme

Titeltreue Titelanalogie Titelübersetzung

Titelvariation Titelübersetzung +

(teil-weise) Titelersetzung (teilweise bzw. vollständige) Titeluntreue

Titelinnovation (vollständige) Titelerset-zung

und Prestige des Autors und/oder dem Prestige der Literatur und Sprache, aus der übersetzt wird.

Die daraus resultierende Hypothese, dass bekannten Autoren und größeren Literaturen/Sprachen mehr Loyalität im definierten Sinn entgegengebracht wird als unbekannten Autoren und Büchern aus kleineren Sprachen und Literaturen, soll im Folgenden statistisch überprüft werden, indem wir die Zahlen aus unserem Corpus mit Übersetzungen aus dem Niederländischen mit den vergleichbaren Daten zum Englischen und Französischen aus der Untersuchung von Regina Bou-chehri vergleichen.

Schauen wir uns zunächst an, wie sich die Anteile bei den Titelübersetzungen aus dem Niederländischen verteilen:

Bevor wir die Zahlen interpretieren, wollen wir in einer vergleichenden Tabelle die entsprechenden prozentualen Anteile für die Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen hinzufügen:

Ergebnis des Vergleichs ist die nicht überraschende Tatsache, dass die analogen Übersetzungen in allen Sprachen die höchsten Werte erreichen und die Titeliden-titäten die niedrigsten. Erwartbar war auch die Tatsache, dass es in der Globalisie-rungssprache Englisch mit 14% den höchsten Anteil an Titelidentitäten gibt und beim Niederländischen mit 8% den niedrigsten. In der Summe bilden die „treuen“

Übersetzungsformen beim Französischen (65%) und Englischen (58%) eine deut-liche Mehrheit, während sie beim Niederländischen nur ungefähr die Hälfte aus-machen. Umgekehrt steht logischerweise den 51% untreuen Übersetzungen aus dem Niederländischen jeweils eine deutliche Minderheit von 41% (Englisch) bzw.

33% (Französisch) gegenüber.

Am frappantesten ist die Differenz bei der „untreuesten“ Form, wenn man so will, der Titelinnovation, d.h. dem vollständigen Titelersatz. Hier ist der Anteil bei den Übersetzungen aus dem Niederländischen mit annähernd 30% doppelt so hoch wie beim Englischen (15%) und fast dreimal so hoch wie beim Französischen (11%).

Wie ist dieser erhebliche Unterschied zu erklären? Ohne einer detaillierteren Untersuchung vorgreifen zu wollen, deutet alles darauf hin, dass Titel von Büchern aus den Weltsprachen Englisch und Französisch und den damit verbun-denen anerkannten Literaturen augenscheinlich einen größeren „Treuebonus“

genießen als Titel von Büchern aus kleineren Sprachen wie dem Niederländi-schen. Aber auch innerhalb der Titel aus dem Niederländischen sind Unter-schiede zu beobachten, die die Hypothese nahelegen, dass Titel von Büchern arri-vierter Autorinnen und Autoren mit größerer Loyalität behandelt werden als Titel weniger bekannter Verfasser, deren Bücher ungeachtet ihrer Qualität oder des Ranges ihrer Verfasser durch Titelinnovation häufig bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden.

Ein Beispiel jüngeren Datums ist Stefan Hertmans’ Buch Oorlog en terpentijn (2013), das im Deutschen den Titel Der Himmel meines Großvaters (2014) bekommen hat (Abb. 1 und 2), weil der Verlag angeblich befürchtete, dass es im 100. Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu viele Buchtitel mit dem Wort Krieg geben könnte. Die Verlage in den anderen europäischen Ländern, in denen Hertmans’ Buch in Übersetzung erschienen ist, scheinen dies nicht als Hinde-rungsgrund für eine analoge Titelübersetzung gesehen zu haben, wie die Titel im Englischen, War and Turpentine, Französischen, Guerre et térébenthine, Italieni-schen, Guerra e trementina, Schwedischen, Krig of terpentin, und vielen anderen Sprachen belegen.

Auch der junge und unbekannte Autor Cees Nooteboom musste erleben, wie sein Debütroman Philip en de anderen (1955) in Deutschland unter dem Titel Das Paradies ist nebenan (1958) erschien. Als 2003 eine Neuübersetzung dieses Buches

des inzwischen zu literarischem Weltruhm gelangten Autors erschien, geschah dies selbstverständlich unter dem treu übersetzten Analogtitel Philip und die anderen (Abb. 3 und 4).

Abb. 1 Abb. 2

Abb. 3 Abb. 4

Wenn ein Titel nicht einen gewissen Schutz durch die Prominenz des Autors oder das Prestige einer gewichtigen Sprache und Literatur genießt, so dürfen wir fol-gern, wird die Frage seiner Übersetzung primär von funktionalen Gesichtspunkten bestimmt werden. Einfacher ausgedrückt: Der Grund für die Wahl deutlich vom Original abweichender Titelvariationen oder Titelinnovationen liegt wohl einfach in der Erwartung bzw. Befürchtung, dass ein bestimmter niederländischer Titel in analoger Form im Deutschen nicht „funktioniert“, so dass man ihm einen norm-und marktgerechten deutschen Titel gibt.

Eine solche norm- und marktgerechte Ausrichtung auf den deutschen Buchmarkt steuert auch die Umschlaggestaltung der Verlage, auf die im Folgenden anhand einiger Beispiele näher eingegangen werden soll.