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Das dritte Beispiel ist Nooteboom, der in diesem Zeitraum in beiden Teilen Deutschlands noch völlig unbekannt war. Bei diesem Autor sind im Unterschied zu den anderen beiden Autoren keinerlei Sympathien zum Kommunismus festzu-stellen. Außerdem war bereits in der Bundesrepublik 1958 eine Übersetzung seines Romans Philip en de anderen (Das Paradies ist nebenan, in der Übersetzung von Josef Tichy) erschienen. Erhalten geblieben ist ein Verlagsgutachten des Außen-gutachters Udo Birckholz über Rituelen (Auflage 6000), außerdem das Lektorat des Übersetzers Hans Herrfurth.9

Birckholz ist in seinem Gutachten vom Juli 1983 äußerst positiv über die

„künstlerische Dichte, den eminenten Bildungshintergrund und die Sicht von oben, mit der Cees Nooteboom die letzten Jahrzehnte des spätbürgerlichen Amsterdam [...] kritisch-ironisch von oben betrachtet und an den Fluchtwegen des Irrationalen mißt“. Stereotyp verbindet Birckholz die Thematik mit dem Unter-gang des Bürgertums, Rituelen sei „eine Analyse des als geistiges Sublimat ausgege-benen Untergangsstrebens bourgeoiser Existenz [...]“. Birckholz konzentriert sich auf die Strukturen der Gesellschaft, die Nooteboom beschreibt. Diese befindet sich in ihrer Endphase, woraus er schließt: Rituelen sei „ein kritisch-realistisches Werk der Gegenwart, das die geistigen Sphären der von einem unaufhaltsamen Zerset-zungsprozeß befallenen, niederländischen Oberschicht und ihre augurenhaften Rituale beleuchtet“. Diese Argumente wurden auch in den bereits bisher vorge-stellten Gutachten immer wieder vorgebracht: Denn das negative Bild der kapitali-stischen Gesellschaft soll die Gesellschaft des Westens für die DDR-Leser als unat-traktiv darstellen.

Bei den positiven Kriterien, die Birckholz nennt – „künstlerische Dichte, emi-nenter Bildungshintergrund und die Sicht von oben“ –, überrascht vor allem das Lob von Nootebooms Bildung. Die Frage stellt sich, ob dies bereits auf die allmäh-liche Auflösung der ideologischen Unerbittlichkeit hinweist. Birckholz lobt, was er kritisiert – das Bildungsbürgertum.

Schließlich weist Birckholz, der selbst Übersetzer ist, auf die Schwierigkeiten hin, mit der der Übersetzer konfrontiert ist: Zitate, „Wortspiele und Synonym-deutungen“ und der „spielerisch-ironische Ton“. In der Stellungnahme äußert der Verleger die Meinung, dass die Übersetzung des Buches den „Schwierigkeiten gerecht wird“ und Rituelen „Unterhaltungsliteratur im besten Sinne“ sei. Auch der Begriff „Unterhaltungsliteratur“ – der Nooteboom weniger erfreuen dürfte – könnte auf eine Lockerung der vorher strengen ideologischen Beurteilungskrite-rien hinweisen.

Der Übersetzer Herrfurth liefert neben einer ausführlichen Zusammenfassung des Inhalts die altbekannten Argumente. Für ihn lebe die Hauptfigur des Romans, Inni Wintrop, „in einer chaotischen, überflußgeprägten und in der Zersetzung begriffenen spätkapitalistischen Gesellschaft“, in der er den „Müllhaufen eines aus-laufenden Jahrhunderts“ sehe. Nootebooms Werk zeuge von einer Veränderung.

Während der Autor in Philip en de anderen (1954) noch an eine Reform der Zustände glaube, sei er in den Rituelen pessimistischer. Daraus folgert er, dass Noo-teboom „unsägliche Enttäuschungen erlebt haben [muß]“. Um „ein derartiges Bild wahrnehmen und gestalten zu können“, müsse der Autor „die Brutalität einer ,per-missiven’ Gesellschaft voll erfahren haben“. Herrfurth fühlt sich in seiner Interpre-tation durch die Tatsache gestärkt, dass der Roman in den Niederlanden innerhalb eines Jahres vier Auflagen erreicht habe.

Schluss

Diese drei Fallstudien regen zu mehreren Fragestellungen an. Erstens: Hat ein Autor, dessen politische Auffassungen sich mit der politischen Ideologie der DDR decken, wie bei Braet, eine größere Chance, übersetzt zu werden? Der Fall Braets zeigt, dass diese Frage mit Ja zu beantworten ist. Auch bei Theun de Vries trifft dies zu, jedenfalls bis zu seiner Lossagung vom Kommunismus. Zweitens: Haben Bücher mit einem Inhalt, der sich widerspruchslos mit dem Instrumentarium der marxistischen Literaturtheorie interpretieren lässt, wie Boons Meisjes van Jesses, eine größere Wahrscheinlichkeit in der DDR übersetzt zu werden? Auch diese Frage muss positiv beantwortet werden.

Betrachtet man die einer Publikation vorausgehenden Verlagsgutachten näher, zeigt sich, dass auch während des komplizierten Produktionsprozesses unerwartet Hindernisse auftreten können, wie am Beispiel des Übersetzers Schädlich zu sehen ist. Um einer möglichen Falschinterpretation vorzubeugen, wird gelegentlich ein Nachwort verfasst, bisweilen, wie bei Braet, vom Autor selbst. Einsamkeit, Ent-fremdung, Gewalt der nichtkommunistischen Gesellschaft sind nur einige Motive, die die Verfasser der Gutachten als Ausdruck des Untergangs der spätkapitalisti-schen Gesellschaft immer wieder zur Sprache bringen. Die Literatur aus den Nie-derlanden und aus Flandern soll zeigen, dass die bürgerlichen Gesellschaften des Westens kurz vor ihrem Untergang stehen. Solche Argumente sind Zugeständ-nisse an die Zensurbehörde. Es wäre interessant zu untersuchen, inwiefern die in den siebziger und achtziger Jahren erfolgte Neuorientierung der marxistischen Literaturtheorie Einfluss auf den Einsatz der bis dahin gültigen „Herrschaftsspra-che“ der Gutachter hatte. Übernahm man verstärkt die Kriterien der sogenannten

„bürgerlichen Wissenschaften“, achtete man mehr auf ästhetische Kriterien?

Durfte Literatur, worauf der Begriff der Unterhaltungsliteratur verweist, nun auch einfach nur unterhalten und musste nicht nur politisch bilden? Um eine Antwort auf diese und ähnliche Fragen zu finden, wird es notwendig sein, Gutachter und Gutachten zukünftig verstärkt zu erforschen.

FUßNOTEN

1 Siehe: https://archiv.adk.de/bigobjekt/37035 (letzter Zugriff: 16. August 2017).

2 Vorläufer waren das Amt für Literatur und Verlagswesen (1951), Hauptverwal-tung Verlagswesen (1956-1958), Abteilung Literatur und Buchwesen (1958) (Barck, Langermann & Lokatis 1997, S. 19). Siehe zur Zensur in der DDR auch:

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Links.

3 Dr 1/1287, Richtlinien für die Begutachtung, 27.7.1960, S. 4ff., Bundesarchiv Ber-lin. Zitiert nach Barck, Langermann & Lokatis, 1997, S. 193.

4 Dr 1/1287, Richtlinien für die Begutachtung, 27.7.1960, S. 7f., Bundesarchiv, Ber-lin. Zitiert nach Barck, Langermann & Lokatis, 1997, S. 193.

5 Dr 1/1499, Diskussionsgrundlage für die Festlegung von Begutachtungsprinzipi-en des Fachgebiets Deutsche GegBegutachtungsprinzipi-enwartsliteratur (o. D.). Bundesarchiv, Berlin.

Zitiert nach Barck, Langermann & Lokatis, 1997, S. 195.

6 Gutachten: Manfred Küchler, Helga Hipp. Dr 1/2371, Bundesarchiv, Berlin.

7 Es handelt sich hierbei nicht um die erste Publikation eines Werks von Boon in der DDR. Bereits 1975 war bei Volk und Welt Menuett erschienen, in der Überset-zung von Barbara und Alfred Antkowiak.

8 Dr 1/2363a, Bundesarchiv Berlin.

9 Dr 1/2383a, Bundesarchiv Berlin.

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