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Lernkontext Elternhaus

Im Dokument Eine für alle? (Seite 68-74)

5. Heterogenität der Zielgruppe schulischer Kompetenzförderung

5.1. Kompetenzerwerb im Kontext primärer Sozialisation

5.1.2. Lernkontext Elternhaus

Bei der Beziehung zu den Eltern handelt es sich um eine hierarchische Bezie-hung zwischen Eltern und Kind. Da ein Kind in diese BezieBezie-hung hineingeboren wird, werden in der Eltern-Kind-Beziehung eher prosoziale und assertive Fertigkeiten als die Aufnahme von Kontakten trainiert. Für den Erwerb von Kontaktaufnahmefertigkeiten ist weniger die Kontaktaufnahme zu den Eltern wichtig, sondern eher das Modellverhalten der Eltern bei der Kontaktauf-nahme zu anderen Menschen.

Die im schulischen Kontext positiv bewerteten Kompetenzen werden meist durch einen vornehmlich aushandelnden Erziehungsstil der Eltern vermittelt.

Dieser Erziehungsstil entwickelte sich im Zusammenhang mit den gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen, die eine Entwicklung der Heranwachsenden zu einer selbstbewußten und autonomen Persönlichkeit erfordern (Wilk &

Benham 1990; Grundmann & Huinink 1991). Das Erziehungsleitbild einer aushandelnden, partnerschaftlichen Beziehung und eine frühe Selbständigkeit des Kindes wird allgemein von Eltern befürwortet, auch wenn es hier nach wie vor graduelle Unterschiede je nach Alter, sozialem Status und Bildungsniveau des oder der Erziehenden gibt (Büchner 1990; Wilk & Benham 1990).

In Familien, die einen solchen Erziehungsstil praktizieren, haben die Kinder bei vielen Entscheidungen, die in der Familie getroffen werden, eine eigene Stim-me (Grundmann & Huinink 1991; Nave-Herz 1992; Büchner 1995). Ent-scheidungen werden nicht über die Köpfe des oder der Kinder hinweg gefällt, sondern es werden in Aushandlungsprozessen für alle Familienmitglieder verbindliche Absprachen getroffen oder Kompromisse gefunden. Es hat sich gezeigt, daß es kontraproduktiv für die Entwicklung von Aushandlungsfertig-keiten ist, wenn in Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kind immer nur das Kind seine Ziele durchsetzt und die Eltern ihre Wünsche zurückstellen.

Statt dessen soll durch einen Aushandlungsprozeß ein Kompromiß zwischen den Zielen aller Beteiligten (Eltern, Kind und Geschwister) erreicht werden.

Ein solcher Aushandlungsprozeß findet nicht statt, wenn sich die Eltern entwe-der nachgiebig verhalten, also nicht ihre eigenen Ziele verfolgen, oentwe-der wenn sie ausschließlich ihre Ziele verfolgen und autoritär die Entscheidung zu ihren Gunsten durchsetzen, ohne die Interessen des Kindes zu berücksichtigen (Pettit et al. 1991; Crockenberg et al. 1996).

Die Sensibilität der Bezugsperson und ihre Orientierung am Entwicklungs-stand des Kindes trägt dazu bei, daß das Kind lernt, die Interaktionsziele anderer Personen wahrzunehmen, zu respektieren und mit den eigenen Zielen in Einklang zu bringen (Pettit et al. 1988; Pettit et al. 1991). Hilfreiche Kom-munikationsstrukturen im Aushandlungsprozeß umfassen nicht nur die Mög-lichkeit, daß das Kind seine Sichtweise darlegen und begründen kann. Auch die Eltern begründen in der Regel ihre Ge- und Verbote, um ihr Kind von dem Sinn und der Notwendigkeit ihrer Anweisung zu überzeugen und das Kind zum Befolgen der auferlegten Beschränkung zu bewegen. Anleitungen und Restriktionen des kindlichen Verhaltens zeigen dem Kind, wie Ziele und Bedürfnisse anderer Personen respektiert werden und nach einem Kompromiß gesucht werden kann (Crockenberg et al. 1996).

Der Gegenpol zum aushandelnden Erziehungsstil ist eine überwiegend autoritär-restriktive Erziehungshaltung der Eltern. Dieser Erziehungsstil betont häufig eine machtvolle Durchsetzung elterlicher Ziele. Die Kinder entwickeln dadurch leicht die Überzeugung, daß aggressives und autoritäres Verhalten die beste Möglichkeit darstellt, ihre Ziele zu verfolgen (Pettit et al.

1991). Eltern, die Zwang auf ihre Kinder ausüben, verringern die Wahrschein-lichkeit, daß ihre Kinder sozial erwünschte, an Aushandlungsprozessen

orien-tierte Verhaltensstrategien ausbilden. Diese Kinder werden weniger Rücksicht auf die Ziele anderer nehmen als Kinder, die mit aushandelndem Erziehungstil erzogen werden, da sie selten die positive Erfahrung machen, daß ein Aushan-deln von Interaktionszielen für beide Seiten zu einem befriedigenden Ergebnis führt (Crockenberg et al. 1996). Mit den beiden Erziehungsstilen werden jeweils unterschiedliche Kompetenzstandards vermittelt. Während der aushan-delnde Erziehungsstil die Ausbildung von Kompetenzen mit dem fortgeschrit-tenen Standard fördert, unterstützt der autoritär-restriktive Erziehungsstil eher den Erwerb des veralteten Standards.

Der autoritär-restriktive Erziehungsstil fördert den Erwerb eines veralteten Standards (charakterisiert durch ein geringes Ausmaß an Affektkontrolle, Integrationsfähigkeit in Interaktionen und strategischer Planung), da die Kinder in den Interaktionen mit ihren elterlichen Modellen ein geringeres Maß an Affektkontrolle, Integrationsfähigkeit und strategischer Planung erwerben als Kinder, die mit aushandelndem Erziehungsstil erzogen werden.

Das wesentliche Merkmal des autoritär-restriktiven Erziehungsstils ist, daß die Eltern häufig in den Fällen, in denen die Interaktionsziele von Kind und Eltern deutlich voneinander abweichen, ihr Interesse/Interaktionsziel ohne Rücksicht auf das Kind durchsetzen. Dieses Vorgehen erzeugt bei dem Kind Frustration, weil die eigenen Ziele nicht oder nur wenig berücksichtigt wurden. Ein Aus-bruch negativer Emotionen wird jedoch durch die Angst des Kindes vor elterlichen Sanktionen eingedämmt, so daß sich das Kind an die Wünsche der Eltern anpaßt. Die Abhängigkeit eines Kindes von der Fürsorge der Eltern verstärkt diese Angst zusätzlich.

Die Eltern sind als Mächtigere dieser Interaktion in der Lage ihre Affekte und Bedürfnisse auszuleben, während die Bedürfnisse des Kindes durch die An-drohung von negativen Konsequenzen unterdrückt werden können. Eine

solche Konstellation führt dazu, daß ein Kind ein geringes Maß an internaler Affektkontrolle erwirbt, da sein Verhalten und seine Affekte von “äußeren Mächten” in Schach gehalten werden. Der Zwang zum Selbstzwang ist für diese Kinder also relativ gering. Zudem ist das Verhalten der Eltern häufig wenig integrativ. Bei dem Kind festigt sich im Laufe der Zeit der Eindruck, daß ein Ziel am besten dadurch zu erreichen ist, daß es die Situation dominiert.

Ferner führt ein überwiegend autoritär-restriktiver Erziehungsstil zu einem geringen Ausmaß an strategischer Planung. Die Pläne und Entscheidungen eines Kindes werden von den Eltern in nur eingeschränktem Maße berücksich-tigt. Die Erfahrungen mit langfristiger Planung werden bei dem Kind eher negativ sein, da es seine Pläne meist denen der Eltern unterordnen muß. Je häufiger diese Erfahrungen auftreten, desto weniger wird strategische Planung von einem Kind als funktional angesehen.

Ein Kind lernt also, daß die Person, die über mehr Macht in einer Situation verfügt, ihr Interaktionsziel durchsetzen kann. Für ein solches Kind wird kompetentes Verhalten darin bestehen, seine Interaktionsziele, z.B. mit Gleichaltrigen, ohne Rücksicht auf die anderen zu verfolgen, sofern es in einer

“Machtposition” ist.

Dieses Verhalten wird von denen als kompetent akzeptiert, die ebenfalls den veralteten Standard internalisiert haben, weil diese akzeptieren, daß der Domi-nierende seine Affekte ausleben kann und die “Unterlegenen” ihre Bedürfnisse unterdrücken müssen. Bei Kindern und Erwachsenen, die den fortgeschritte-nen Standard internalisiert haben, stößt ein solches ungehemmtes Ausleben der Affekte auf Ablehnung. Sie bewerten das Kind als inkompetent und/oder aggressiv, registrieren eine Interaktionsstörung und brechen gegebenenfalls die Interaktion ab.

Der aushandelnde Erziehungsstil fördert hingegen den Erwerb des fortge-schrittenen Standards (charakterisiert durch ein hohes Ausmaß an Affektkon-trolle, Integrationsfähigkeit und strategischer Planung). Im Falle von divergierenden Interaktionszielen von Eltern und Kind ist in der Regel ein Kompromiß das von den Eltern angestrebte Ziel zur Durchsetzung ihrer Wünsche. Dies bedeutet, daß auch die Eltern über ein hohes Ausmaß an Affektkontrolle, Integrationsfähigkeit und strategischer Planung verfügen müssen. Sie müssen im Aushandlungsprozeß dem Kind verdeutlichen, warum es z.B. dieses Mal verzichten soll und ihm gleichzeitig einen Ausgleich zur entgangenen Zielverwirklichung anbieten (Akzeptanz statt Dominanz). Die Befolgung des Kompromisses durch das Kind erfolgt aus der Einsicht in die Notwendigkeit, dieses Mal seine Wünsche und Bedürfnisse zurückzustellen.

Das Kind muß also die Fähigkeit entwickeln, die Befriedigung seiner Bedürf-nisse aufzuschieben. Die Ausbildung der Affektkontrolle wird durch die An-drohung von negativen Konsequenzen unterstützt, die dann erfolgen, wenn sich das Kind nicht an den Kompromiß hält. Mit zunehmender internaler Affektkontrolle eines Kindes wird externe Strafandrohung immer überflüs-siger, da die Psyche als internale Kontrollinstanz die Regulierung der Affekte steuert. Bei der Aushandlung von Kompromissen entwickelt ein Kind die Fähigkeit, strategisch zu planen. Das Kind muß für sich selbst entscheiden, wie lange es ein Bedürfnis aufschieben möchte, wie wichtig das aktuelle aktionsziel ist und was es in zukünftigen Interaktionen als äquivalentes Inter-aktionsziel verwirklichen möchte. Je besser einem Kind dieser Selbstmanage-mentprozeß gelingt, desto stärker werden die intrapsychischen Faktoren des fortgeschrittenen Standards ausgebildet.

Das Erziehungsverhalten der Eltern wird durch ihren sozioökonomischen Status beeinflußt, so daß davon ausgegangen werden kann, daß die soziale Lage eines Kindes indirekt über das Erziehungsverhalten der Eltern Einfluß auf die Kompetenzentwicklung nimmt (vgl. Osborn 1990). Wilk & Benham (1990) berichten, daß in Familien mit hohem oder mittlerem sozioökono-mischen Status ein aushandelnder Erziehungsstil doppelt so häufig wie in Familien mit geringem sozioökonomischen Status beobachtet werden kann. In den Familien mit geringem sozioökonomischen Status fanden sie eher einen autoritär-restriktiven Erziehungsstil. Ähnliche Befunde berichtet Ramsey (1988). Sie konnte zeigen, daß Mütter mit niedrigem sozioökonomischen Status häufiger als weniger stimulierend und einfühlsam (responsive) sowie als restriktiver, kontrollierender und bestimmender (coercive) beschrieben werden als Mütter mit mittlerem sozioökonomischen Status. Diese These wird durch Booth et al. (1991) gestützt. Diese wiesen daraufhin, daß Kinder mit geringem sozioökonomischen Status eher aggressive Interaktionsformen zeigen als Kinder mit mittlerem sozioökonomischen Status, die stärker verbalorientierte Interaktionsformen bevorzugten.

Es läßt sich aus dem bisherigen schlußfolgern, daß Kinder mit hohem sozio-ökonomischen Status überdurchschnittlich häufig mit einem aushandelnden Erziehungsstil aufwachsen und dadurch einen fortgeschrittenen Verhaltens-standard internalisieren. Sie erwerben die sozial erwünschten Kompetenzen bereits im primären Kontext, sofern die Sozialisationsbedingungen gut sind.

Kinder mit geringem sozioökonomischen Status werden eher mit einem autoritär-restriktiven Erziehungsstil sozialisiert und internalisieren häufig einen veralteten Standard. Sie erwerben dann in deutlich geringerem Maße Kompe-tenzen mit fortgeschrittenem Standard. Zudem tragen sie das größte Risiko,

13 Weniger hierarchisch bezeichnet den Umstand, daß keiner der Interaktionspartner aufgrund seines Alters, seiner Erfahrung oder seiner sozialen Rolle mehr Definitionsmacht über eine Situation oder eine Handlung hat als der oder die anderen Interaktionspartner.

negativen Sozialisationsbedingungen ausgesetzt zu sein. Bei der Gruppe von Kindern mit mittlerem sozioökonomischen Status überwiegt voraussichtlich keiner der beiden Standards eindeutig, da diese Gruppe in bezug auf Sozialisa-tionsbedingungen und Erziehungsstile recht heterogen ist.

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