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Gesellschaftliche Entstehungsprozesse sozialer Kompetenz

Im Dokument Eine für alle? (Seite 31-35)

2. Aspekte sozialer Kompetenz

2.2. Gesellschaftliche Entstehungsprozesse sozialer Kompetenz

Elias beschreibt den Prozeß der Zivilisation anhand der Veränderungen mittel-alterlicher, absolutistischer und industriell-demokratischer Gesellschaften. Der Prozeß der Zivilisation vollzieht sich durch das parallele Fortschreiten von Soziogenese und Psychogenese. Die Soziogenese beschreibt die zunehmende Differenzierung und Verknüpfung gesellschaftlicher Funktionen der Menschen und sozialer Systeme miteinander (Interdependenz), die Monopolisierung der Gewalt auf Seiten des Staates (Monopolisierungsmechanismus) und die Stabi-lisierung der Staatsapparate (Königsmechanismus). Diese drei soziogeneti-schen Prozesse führen dazu, daß die Gesellschaftsmitglieder von autark wirt-schaftenden, wenig interdependenten Menschen des Mittelalters zu aufein-ander angewiesenen, in komplexe Systeme eingebundenen Menschen der industriell-demokratischen Gesellschaft wurden. Die Psychogenese beschreibt die Entwicklung von intrapsychischen Strukturen, insbesondere Affektkon-trolle und vorausschauendes Planen von Handlungen, die die Menschen benö-tigen, um sich an die sozialen und ökologischen Anforderung ihrer Umwelt anzupassen und in dieser Umwelt möglichst erfolgreich in bezug auf ihre Interaktionsziele zu agieren. Beide Prozesse sind eng miteinander verknüpft, so daß ein Fortschreiten der Soziogenese zu Veränderungen der Psyche der

Individuen führt und die Veränderungen der psychischen Struktur und des Habitus wiederum Voraussetzung für das Fortschreiten der Soziogenese ist.

Der Zivilisationsprozeß verläuft in einer eigenen Ordnung und Richtung, ohne daß eine spezielle Gruppe oder einzelne Menschen bestimmte Verhaltensstan-dards spezifisch definiert und der Gesellschaft “aufgeprägt” haben. Zudem ist der Prozeß unumkehrbar, so daß die Personen nie auf eine frühere Stufe der Zivilisation zurückfallen können, da sich die gesellschaftlichen Bedingungen und psychischen Strukturen nach einem Fortschreiten des Zivilisationsprozes-ses so verändert haben, daß früher kompetente Verhaltensweisen nicht mehr funktional sind (Elias 1976a,b).

Da ein autarkes Leben in den modernen Gesellschaften schwierig zu verwirkli-chen ist, “zwingen” die transaktionalen Bedingungen der sozialen Umwelt die Menschen zur Anpassung an soziale Standards. Deren Einhaltung ist die Voraussetzung für eine Integration in gesellschaftliche Kontexte, wie Schu-le/Beruf, Partnerschaft/Familie, Freizeitaktivitäten usw. Für kompetentes Verhalten bedeutet dies, daß das Verhalten eher affektkontrolliert ist als ungehemmtes Ausleben der Affekte. Es beinhaltet eher integratives Verhalten der Person als Egozentrismus und betont stärker strategisches Handeln als Spontanität.

Wie der Zivilisationsprozeß ist auch die Entwicklung eines Verhaltensstan-dards unumkehrbar und korrespondiert mit einer zunehmenden Interdepen-denz der Menschen, Kontexte und Gruppen auf soziogenetischer Ebene.

6 Für seine Analysen zieht Elias zeitgenössische Manierenbücher und Verhaltenslehren heran und beschreibt daran die Veränderung von Verhaltensstandards, die sich im Laufe der Zeit als rationales und zweckmäßiges Verhalten in der jeweiligen Gesellschaftsstruktur durchsetzen. Die Begriffe “courtoisie”, “civilité” und “civilisation” beschreiben Verhaltenskodes, die die Menschen (insbesondere die Führungselite) für ein, in ihrer Gesellschaft sozial erwünschtes und damit erfolgreiches Interagieren benötigten. Diese Reihe kann mit dem Begriff “social competence/soziale Kompetenz” fortgeschrieben werden, da der Begriff “soziale Kompetenz” in der heutigen Gesellschaft eine ähnliche Funktion erfüllt wie die anderen Begriffe zu ihrer Zeit. Soziale Kompetenz bezeichnet nämlich u.a. einen bestimmten Verhaltensstandard des sozialen Austauschs, der der psychischen und sozialen Struktur der heutigen Menschen angepaßt ist.

Generell entwickelt sich der Verhaltensstandard6 im Laufe der Jahrhunderte in die Richtung, daß alle Personen ihre Affekte und Handlungen immer stärker regulieren müssen. Diese Affekt- und Handlungskontrolle (Selbstkontrolle) ermöglicht den Menschen, daß sie mit ihrem Verhalten bei anderen keinen

“Anstoß erregen” und/oder die jeweilige Interaktionssituation gefährden (Elias 1976a). Auf diese Weise erhalten sie sich die Integration in ihr soziales Umfeld und sichern so ihr soziales (Über-)Leben.

Der generelle Trend zur Selbstkontrolle findet sich auch in heutigen Verhal-tensstandards für soziale Kompetenz wieder. Wesentliche Aspekte dieser Standards sind strategisches Planen, integratives Verhalten in sozialen Bezie-hungen und Affektkontrolle. Um eigene Ziele verfolgen zu können (insbeson-dere langfristige), ist strategisches Handeln jeder Person notwendig, da die zunehmende Verflechtung sozialer Handlungsketten den einzelnen vom Zu-gang zu materiellen und immateriellen Ressourcen abhängig macht. Idealer-weise überlegt die Person vorausschauend mögliche Strategien zur Verwirkli-chung ihres Ziels und wählt die für die Situation und die Interaktionspartner erfolgversprechendste aus (strategisches Planen). Bei der strategischen Pla-nung und beim strategischen Handeln muß aber auch die Umwelt, u.a. in Form von Wünschen und Zielen anderer, berücksichtigt werden. Ferner spielen die soziometrische Hierarchie und die Machtverhältnisse zwischen den

Inter-agierenden sowie Traditionen, Rollen, Normen und Werte eine Rolle, in dem sie als situative Bedingungen den Interaktionsverlauf strukturieren.

Während der Interaktion ist eine flexible Anwendung von strategischem Handeln für eine Erreichung des eigenen Ziels hilfreich bzw. eine Anpassung an die Strategien anderer, ohne das eigene Ziel aus den Augen zu verlieren.

Diese Bemühungen stellen in der Regel die Integration der Person in die soziale Beziehung und den Fortbestand des sozialen Kontextes sicher (in-tegratives Verhalten in sozialen Beziehungen). Sowohl das rationale und geplante Vorgehen zugunsten zukünftiger Ziele als auch aktuelle Aushand-lungsprozesse erfordern die Kontrolle vor allem negativer Emotionen, wie Wut, Enttäuschung, Aggression oder Neid (Affektkontrolle).

Eine sozial kompetente Person verfügt also nicht nur über eine kognitiv-motivationale Komponente und eine Verhaltenskomponente, wie sie z.B. von van Aken (1992) hervorgehoben werden, sondern sie hat auch den gesell-schaftlichen Verhaltensstandard internalisiert, der der Person gestattet, sowohl kurz- als auch langfristig ihre eigenen Ziele verfolgen und umsetzen zu können sowie soziale Beziehungen aufzunehmen, zu erhalten und zu stabilisieren.

Je häufiger sich eine Person bei der Auswahl ihrer Verhaltensstrategien an diesem Standard orientiert, desto erfolgreicher wird sie mit anderen kommuni-zieren können und von den Partnern als sozial kompetent bewertet werden. Je weniger sich das Verhalten an diesen drei Aspekten des Standards orientiert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine Person als inkompetent be-wertet wird, sie ihr Interaktionsziel nicht erreicht oder aus einer sozialen Beziehung/sozialen Situation ausgeschlossen wird. Es kann davon ausge-gangen werden, daß jede Person das Verhalten auswählt und zeigt, von der sie glaubt, daß es die größte Chance auf Erfolg hat. Obwohl die Person - nach

ihrer Einschätzung - alles getan hat, damit die Interaktion unproblematisch verläuft und die Interaktionsziele erreicht werden können, kann es dazu kom-men, daß die Person in diesem einen Kontext als inkompetent bewertet wird.

Müller (1994) weist darauf hin, daß die Einschätzung der Kompetenz nach Bildungsgrad, Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gruppe, Alter und gesell-schaftlichem Prestige des Beurteilenden bzw. des Beurteilten differieren.

Der sozioökonomische Status, als ein Merkmal gesellschaftlicher Gruppen, beeinflußt sowohl die Auswahl des gezeigten Verhaltens einer Person als auch deren Einschätzung des Verhaltens der Interaktionspartner. Es besteht also in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unter Umständen eine unterschiedli-che Auffassung über die Form sozial kompetenten Verhaltens. Der nächste Abschnitt untersucht in Anlehnung an die Beschreibung des Zivilisations-prozesses von Elias die Ausbreitung von Verhaltensstandards in gesellschaftli-chen Gruppen.

2.3. Standards sozialer Kompetenz in Gruppen mit

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