• Keine Ergebnisse gefunden

Kurt Julius Goldstein

Im Dokument Rosa-Luxemburg-StiftungTexte 35 (Seite 109-123)

Geboren am 3. November 1914 Auschwitzhäftling Nummer 58866 Buchenwaldhäftling

Geboren bin ich am 3. November 1914 in Hamm in Westfalen. Ich kann also als ein Zeuge des 20. Jahrhunderts gelten. Als jüngstem Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie war es mir nicht an der Wiege gesungen, dass ich Kommu-nist werden würde. Mein Vater starb 1920 an den Folgen seiner Verletzungen im Ersten Weltkrieg, in den er als Freiwilliger gezogen war. Wir hatten ein Kaufhaus in einem Ort mit dem bedeutungsvollen Namen Scharnhorst. Meine Mutter konnte auf Dauer das Geschäft allein nicht bewältigen, und so zogen wir 1923 nach Hamm, wo sie ein Handarbeitsgeschäft eröffnete. In Hamm musste ich in der Schule zum ersten Male wütende antisemitische Ausfälle ei-nes Lehrers ertragen. So wurde ich früh erwachsen und hatte Gründe, darüber nachzusinnen, warum es in der Welt so viel Ungerechtigkeit gibt. Dazu kam, dass ich schon als Kind engen Kontakt mit einer Bergarbeiterfamilie hatte, aus der mein Kindermädchen stammte. Als Mitglied der jüdischen Jugendbewe-gung »Kameraden« erfuhr ich mit Befremden, dass die Kinder der »Ostjuden«

von denen der »Alteingesessenen« als nicht ebenbürtig angesehen wurden. So kam es, dass ich mich als Dreizehnjähriger der sozialdemokratischen Sozialisti-schen Arbeiterjugend anschloss. Bis dahin war das noch keine außergewöhn-liche Entwicklung. Aber dann kam 1928 der Knackpunkt. Die SPD und auch die KPD traten im Wahlkampf gegen den Panzerkreuzerbau auf, unter der übereinstimmenden Losung: »Gegen Panzerkreuzer – für Kinderspeisung«.

Nach der Wahl war das für die SPD Schall und Rauch. Das Kabinett des sozi-aldemokratischen Reichskanzlers Herrmann Müller-Franken beschloss den Bau des Panzerkreuzers A.

Dieser Verrat empörte mich. Ungeachtet aller Vorbehalte ging ich schließ-lich ins Büro des Kommunistischen Jugendverbandes in Hamm und verlangte jemand von der Leitung zu sprechen. Max Reimann empfing mich und be-stätigte mir, was ich aus seinem Munde bereits als Zuhörer am Rande einer Kundgebung vernommen hatte. Die Kommunisten blieben dabei: »Kinder-speisung statt Panzerkreuzer!« So wurde ich im September 1928 als erster Oberschüler in Hamm Mitglied des KJVD. Dieser Schritt sollte sich als Ent-scheidung für das ganze Leben erweisen.

Es ging nicht ohne Konflikte in der Verwandtschaft ab, die zwar nicht aus-gesprochen religiös, aber doch den traditionellen jüdischen Riten aufrichtig verpflichtet war. Schärfer waren die Folgen, als an der Schule ruchbar wurde, ich sei Kommunist geworden. Schließlich wurde ich relegiert, hatte aber zum

110

Glück die Möglichkeit, mich auf einer anderen Schule im benachbarten Mün-ster weiterhin auf das Abitur vorzubereiten.

Seit 1930 bin ich Mitglied der Partei. Als Unterbezirkssekretär des Kommu-nistischen Jugendverbandes in dieser Bergbaugegend hielt ich es für unver-zichtbar, die Arbeitsbedingungen unter Tage kennenzulernen. Getarnt fuhr ich mit ein in Schächte der Zeche de Wendel. Damals wusste ich nicht, dass mir und vielen anderen die dort erarbeiteten Kenntnisse Jahre danach das Leben retten würden.

Im Februar 1933, kurz nach Hitlers Machtantritt, habe ich in Hamm einen SA-Mann niedergeschlagen, der mich zuvor in unflätigster Weise als Jude, Ungeziefer und rotes Gesindel beschimpft hatte. Ich musste weg, denn nun drohte Verhaftung. Meinen Bruder haben sie an meiner Stelle ins KZ gesteckt.

Mir ist es dagegen gelungen, bei der Festnahme zu fliehen. Mit viel Glück lan-dete ich schließlich in Luxemburg bei Verwandten. Mit Lotta, meiner ersten großen Liebe, bereitete ich mich darauf vor, nach Palästina zu gehen. Nach Zwischenspielen in Frankreich und der Schweiz war es schließlich so weit:

Das Zertifikat für die Einreise ins Heilige Land lag im Juni 1935 vor, und wir fuhren nach Triest, um dort ein italienisches Schiff zu besteigen, das uns in Haifa an Land setzte. Wie es sich für einen Kommunisten gehört, meldete ich mich dort bei der KP Palästinas zur Mitarbeit. Gearbeitet habe ich auf dem Bau mit dem Presslufthammer auf hartem Gestein und dabei nicht schlecht verdient.

Aber als im Sommer 1936 Franco in Spanien gegen die Republik putschte, zog es mich mit Gewalt in den Kampf. Lotta blieb zurück, und ich gelangte über Marseille nach erheblichen Schwierigkeiten schließlich im November 1936 nach Spanien. In Albacete, der Basis der Internationalen Brigaden, war ich endlich am Ziel. Ab jetzt hieß ich Julio. Da ich in Haifa die Fahrprüfung für Busse abgelegt hatte, wurde ich einem Transportregiment zugeteilt. Meist nachts, wegen der feindlichen Flieger, fuhren wir in langen Konvois zwischen den Mittelmeer-häfen und Madrid und transportierten alles, was die bedrohte Hauptstadt brauchte. Nach schwerem Malta-Fieber und Lazarettaufenthalt wieder beim Regiment, fuhren wir Nachschub für die Front bei Brunete. Wir wurden von Jagdfliegern angegriffen. Das war die Feuertaufe.

Es folgte eine Ausbildung zum Artilleristen. Als Richtschütze in der Batterie

»Ana Pauker« ging es in Richtung Teruel. Ich wurde zum politischen Kom-missar der Batterie ernannt, nicht zuletzt wegen meiner Sprachkenntnisse, die in dieser vielsprachigen Einheit wichtig waren. Mein Bruder, dem die Flucht nach Palästina geglückt war, hatte mir geschrieben und bezweifelt, dass es richtig sei, wenn die Kommunistische Internationale ihre besten Kader in Spanien »verheize«. Ich habe ihm geantwortet: Wer in einem Augenblick, da man dem Todfeind der Menschheit endlich mit der Waffe in der Hand ge-genübersteht, sagt, kehr um, bedenke, alle deine Mühe ist vergebens, kann mein Freund und Bruder nicht mehr sein.

111 Von einer Splitterbombe deutscher Produktion wurde ich nahe der Ein-mündung des Guadelope in den Ebro verwundet. Nach der Operation lag ich wieder im Lazarett. Anschließend wurde ich als Kommissar in das Hospital von Santa Coloma kommandiert. Dort erhielten wir die Weisung des Minister-präsidenten der spanischen Republik, Juan Negrín, über den sofortigen Abzug der Internationalen Brigaden. Nach letzten Kämpfen ging es im Februar 1939 über die Grenze nach Frankreich, dann folgte die Internierung im berüchtig-ten Lager von Saint Cyprien an der Mittelmeerküste. Dort gab es zunächst nichts als Sand und Stacheldraht. Schließlich landete ich im Lager Gurs. Ende September 1939 wurde ich mit fünfzig anderen Interbrigadisten unter dem absurden Verdacht, Spione des faschistischen Deutschlands zu sein, nach Le Vernet gebracht. Nach der Niederlage Frankreichs verpflichtete sich die Vichy-Regierung, die in ihrem Herrschaftsbereich lebenden Juden an Hitlerdeutsch-land auszuliefern. Über das Lager Drancy ging es in Pferdewaggons nach Osten. Die Endstation hieß Auschwitz. Im Juli 1942 erlebte ich die »Selektion«

auf der Rampe von Birkenau. Der SS-Arzt schickte, wie so viele meiner Ka-meraden, den Interbrigadisten Gustav Hartog mit einer Daumenbewegung sofort ins Gas. Er war wie ich achtundzwanzig Jahre alt. Aber er hatte eine Glatze. Mich wies der Daumen auf die andere Seite. Die Nummer, die mir in den linken Unterarm tätowiert wurde, war die 58866.

Karl Sutor, Interbrigadist wie ich und nun Kapo in Auschwitz, machte mich ausfindig und gab mir den Tipp, mich beim Frühappell zu einem »Gruben-kommando Jawischowitz« zu stellen, um so aus dem Stammlager Auschwitz wegzukommen. Im Lager Jawischowitz angekommen, mussten wir nackt auf dem Appellplatz vor SS-Führern, dem Grubendirektor, dem Grubenbetriebs-führer, dem Fahrsteiger und dem Lagerältesten antreten. Jeder Einzelne musste vortreten und seinen Beruf angeben. Die Reaktion waren übelste anti-semitische Beschimpfungen. Ich erinnerte mich an meine Untertagearbeit zwölf Jahre zuvor und sagte, ich sei »Püttmann«, wie im Ruhrgebiet Bergleute genannt werden. Der Grubendirektor wurde aufmerksam und fragte mich, wo ich gearbeitet hätte. »In Herringen, Zeche de Wendel, Schacht Franz und Schacht Robert« war meine Antwort. Jetzt galt ich als Facharbeiter im Berg-bau, und von denen gab es fast keine. So wurde ich schließlich der einzige jüdische Kapo. Dieses Unikum nannten die SS-Leute in Jawischowitz den

»Judenkönig«.

Als ehemaliger Kapo kann ich bezeugen, was es bedeutete, als politischer Häftling eine solche Lagerfunktion auszuüben. Es ging darum, mitten in der Hölle ein Minimum an Verbesserungen für die Häftlinge des Kommandos zu erkämpfen. Dabei musste natürlich stets bei der SS der Eindruck erhalten blei-ben, der Kapo handele ausschließlich in ihrem Interesse, er sorge für straffe

»Ordnung« und höchste Arbeitsleistungen. Es war ein Drahtseilakt, täglich und stündlich. Der geringste Fehler führte unweigerlich zum Tod.

112

Ein Drahtseilakt. Der SS-Arzt Dr. Fischer, später vom Obersten Gericht der DDR nach seiner Enttarnung zum Tode verurteilt und hingerichtet, kontrol-liert. Ich hatte zu melden: Nachtschicht Jawischowitz, Block soundso mit so-undsoviel Mann angetreten. Und Karl Polak stand mit in der Reihe. Ich zu ihm: »Du bist Stubendienst, mach, dass du in die Baracke kommst.« Aber Po-lak versteht mich nicht und bleibt stehen. Ich weiß keine andere Rettung, gehe schimpfend auf ihn los, trete ihm in den Hintern und schreie, damit der sich nähernde SS-Arzt es ja hört: »Du Faulpelz, mach, dass du in die Baracke kommst. Geh an deine Arbeit als Stubendienst.« Erst jetzt begriff Karl Polak, dass er versteckt werden soll vor den Augen des Mannes, der zum Tod selek-tiert, und stolpert in die Baracke.

Dreißig Jahre später veröffentlichte Karl Polak seine Erinnerungen »Zeugen-berichte über sieben Jahre Verfolgung«. Auf einem Umweg über ein Treffen mit Jawischowitzern in Paris erfuhr er meine Adresse und schrieb mir: »Ich wusste nicht, dass du überlebt hast, Du findest dich wieder auf Seite 24. Dort steht, dass ich dem Kapo Goldstein mein Leben zu verdanken habe. Ich hatte mich mit einer Bartflechte, einem bläschenhaften Gesichtsausschlag, infiziert, und damit hätte ich auch andere anstecken können. Bei einer der Selektionen, die alle zwei Wochen stattfanden, erlaubte mir Goldstein, mich unter den Bett-stellen in einem Block zu verstecken, der schon besichtigt und von seinen Be-wohnern geräumt worden war.«

KZ Buchenwald nach der Selbstbefreiung 1945, Häftlingskameraden des Magazin-Kommandos. Stehend 2. v. l. Kurt Julius Goldstein

113 Delegiertenkonferenz KPD-Bezirk Ruhrgebiet, Gelsenkirchen 1946.

Am Rednerpult Max Reimann, Vorsitzender der KPD, daneben 1. v. l. Kurt Julius Goldstein Als ich das las, sagte ich, dass es nicht so war. Wenn Selektion war, wusste die SS auf den Mann genau, wie viele Leute in der Baracke sein mussten. Es wurde abgezählt, da konnte sich keiner unter den Betten verstecken. Der fehlte dann, wurde gesucht und gefunden. Karl Polak hat, als wir uns trafen, zu mir gesagt: »Das weiß ich doch auch, wie es war. Aber sollte ich hinschreiben, der Kapo Goldstein hat mich in den Hintern getreten, dann hätten die Antisemi-ten gesagt: Guck, so sind die Juden untereinander, so sind sie, einer tritt den anderen in den Hintern. Oder die Antikommunisten hätten gesagt: Jetzt will er der große Kommunist sein, aber im Lager, da hat er seine Kameraden ge-schlagen und getreten.«

Die meisten Konzentrationslager, so auch Auschwitz, waren »grüne« Lager, das heißt, die wichtigsten Häftlingsfunktionen waren mit Kriminellen besetzt.

Oft waren das Schwerverbrecher, in ihrer Mentalität der SS näher als ihren Mitgefangenen. Im Kontrast dazu habe ich Buchenwald erlebt. Am 17. Januar 1945, einem eisigen Tag mit meterhohem Schnee, wurde Auschwitz vor dem Ansturm der Roten Armee von der SS geräumt. Wir wurden auf den Evaku-ierungsmarsch getrieben. Nach drei Tagesmärschen verlud man uns auf einem kleinen Bahnhof auf Kippwaggons, eingerichtet zum Transport von Kohle und Koks. Es folgten drei Tage und zwei Nächte in einem Dämmerzustand zwi-schen Leben und Tod auf den Gleisen der Reichsbahn. Dreitausend waren wir am Beginn des Marsches in Auschwitz. Gerade noch lebend kamen

fünfhun-114

dert von uns in Buchenwald an. Wir schleppten uns unter dem Gebrüll der SS vom Bahnhof zum Lagertor. Und die zu Tode Erschöpften hörten endlich das erste menschliche Wort. Die »Roten Kapos« nahmen sich der von Kälte Ge-zeichneten brüderlich an. Wer nicht mehr laufen konnte, den stützten sie. Sie führten uns unter die Duschen. Dabei sagten sie uns, wir sollten keine Angst haben, in Buchenwald gäbe es keine Gaskammern und aus den Duschen käme wirklich Wasser. Lange ließen sie lauwarmes Wasser über uns rieseln, die wir sechs Tage und fünf Nächte die eisige Kälte ausgehalten hatten. So halfen sie uns Geschundenen zu neuem Leben.

Dann führten sie uns in den Speisesaal. Jeder bekam ein Stück Brot, größer als die Ration, die ich von Jawischowitz her kannte. Töpfe mit warmem, süßem Tee standen auf den Tischen. Die Buchenwaldkameraden gingen durch die Rei-hen, und sie sagten: »Esst langsam, Kameraden, sonst verdaut ihr das nicht.

Trinkt einen Schluck Tee dazu. Aber trinkt langsam.« Das Letzte, was ich un-terwegs als Flüssigkeit aufgenommen hatte, war eine Handvoll Schnee.

Die SS brachte uns im »Kleinen Lager« unter, notdürftig waren hier Ba-racken aufgestellt worden. Erbärmliche Behausungen, in die schon Menschen über Menschen eingepfercht waren. Wir Neuangekommenen sollten registriert werden. Beim Aufbruch in Auschwitz hatten die SS-Bewacher die Kartothek mit dem Verzeichnis der Häftlinge liegen lassen. Ich überlegte: Diese SS-Leute hier in Buchenwald können nicht wissen, wen sie vor sich haben. Wir wurden in einen großen langen Raum geführt. An einem Tisch saßen zwölf oder fünf-zehn Häftlinge. Am Eingang und am Ausgang stand ein SS-Mann. Einer nach dem anderen musste eintreten, Namen nennen, Nationalität, Heimatort und Geburtsdatum. Soll ich dem Registrierenden sagen: Julius Goldstein aus Hamm? War Hamm in diesem Augenblick der Aufnahme in eine neue Karto-thek mein Heimatort? Das war doch die Stadt, wo ein SA-Mann namens Reckert verkündet hatte: »Jetzt haben wir die rote Sau, den Goldstein, den schlagen wir tot.«

Der zum Registrieren eingerichtete Raum, die Effektenkammer, war schmal.

Die SS-Bewacher trieben die aus Auschwitz Gekommenen zur Eile an. Ich wurde hineingestoßen. Ich wollte nicht noch zuletzt den Mördern als Jude in die Hände fallen. Plötzlich wusste ich, wer ich sein könnte. Ein Bauer aus Süd-frankreich. Mit ihm war ich im Weinberg gewesen, als ich mich beruflich auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitete. Name und Adresse existierten ja. Sie müssten schon genau nachforschen, die Geburtsdaten vergleichen, wenn sie darauf kommen wollten, dass etwas nicht stimmte. Außerdem hatte ich in Auschwitz gehört, die Alliierten waren schon 1944 in der Normandie gelan-det. Der Wirrwarr musste dort in Frankreich so groß sein, dass es unmöglich sein würde, eine Nachfrage aus Buchenwald zu beantworten. Da ich das Fran-zösische wie meine Muttersprache beherrschte, sagte ich dem registrierenden Häftling Namen, Ort und Nationalität, wie ich es mir nun ausgesucht hatte.

115 Angetrieben zur Eile, ging ich dem Ausgang zu. Da hörte ich die Stimme des Häftlings, der soeben meine Angaben aufgeschrieben hatte. Er flüsterte: »J`ai compris, Julio.« Ich habe verstanden, Julio.

So war ich in Spanien genannt worden. Entsetzen packte mich. Ich konnte nicht stehen bleiben, mich umschauen, wer mich erkannt hatte. Hier stand der eine SS-Mann, dort der andere. Was geschieht, wenn der Häftling, der meinen Namen genannt hat, jetzt aufsteht, zu einem der SS-Leute geht und sagt: Die-ser Mann hier hat falsche Angaben gemacht? Er hat gesagt, er ist ein Franzose.

Aber er ist ein deutscher Jude. Ich habe sehr aufrecht den Raum verlassen.

Auf der Treppe, abwärts von der Effektenkammer stand ein Häftling, ein groß gewachsener Mensch, eingehüllt in eine Decke. Er ging auf mich zu und umarmte mich. Das war der Interbrigadist Doktor Serge aus Jugoslawien. Im Lager Le Vernet hatten wir uns kennengelernt. »Julio«, sagte er, »es ist gut, dass du hier bist.« Darauf ich: »Hör mal, was mir eben passiert ist. Ich habe eine andere Identität angegeben. Und der Häftling, der mich registriert hat, weiß, dass meine Angabe zur Person nicht stimmt. Kannst du mir sagen, wer da oben in der Effektenkammer an den Tischen sitzt?« »Nein«, sagte Doktor Serge. Aber ich werde die deutschen Genossen aus Le Vernet informieren, dass du hier bist.«

Zwanzig Jahre später sollte mir das »J`ai compris, Julio« noch einmal ge-nauso überraschend in den Ohren klingen. Es war 1966, der dreißigste Jahres-tag der Bildung der Interbrigaden. Wir Interbrigadisten aus der DDR hatten unsere Kameraden aus allen Ländern nach Berlin eingeladen. Am Vorabend des Ereignisses ging ich mit meiner Frau in den Johannishof, das Regierungs-hotel, um alte Freunde wiederzutreffen. In der Eingangshalle saßen am Tisch vier italienische Kameraden. Wir begrüßten uns. Da sagt einer: »J`ai compris, Julio, wann hast du das schon einmal gehört?« »In Buchenwald. Bei der An-kunft. In der Effektenkammer«, sagte ich nach kurzem Überlegen. »Aber ich weiß bis heute nicht, wer es war. Im Halbdunkel der Effektenkammer, in der Eile und vor allem mit dem Schrecken, erkannt zu sein, konnte ich nicht sehen, wer der Schreiber war.« »Das war ich«, sagte da der, den ich aus La Vernet als Zarpi kannte und der jetzt als Renato Bertolini und Leiter der Sektion der italie-nischen Interbrigadisten zu diesem großen Treffen nach Berlin gekommen war.

In diesem Januar 1945 aber wusste Doktor Serge nicht, wer da in der Effek-tenkammer als Schreiber arbeitete. Und ich machte mich zurück auf den Weg in die bedrückende Enge des »Kleinen Lagers«. In den hoffnungslos überfüll-ten Baracken hatte man altes verfaultes Stroh als Unterlage auf Holzgestelle geworfen. Die Nacht verbrachte ich ohne Schlaf. Am nächsten Morgen kam ei-ner in der dunklen Uniform des Lagerschutzes in die Baracke und blickte sich aufmerksam um. Er ging mit schnellen Schritten auf mich zu.

Also doch. Man hatte mich verraten. Nun kam der von der Lagerpolizei, mich zu holen. Ich stand auf. Schweigend. Der andere in der dunklen Uniform

116

sagte: »Ja, kennst du mich denn nicht?« Ich war mir nicht sicher. Der andere hatte mich auf Deutsch angeredet. Ich wollte nicht in dieser Sprache antworten.

Aber war es überhaupt sinnvoll, am Französischen festzuhalten? Ich schwieg.

Der andere sagte: »Ich bin Kurt Vogel, Interbrigadist. Erinnere dich.«

In diesem Augenblick habe ich begriffen, dass ein Teil der Lagerpolizei in den Händen der Männer war, die in Spanien als Freiwillige für die Freiheit ge-gen die Faschisten gekämpft hatten.

Kurt Vogel gab mir Brot. »Hier, nimm. Jetzt weiß ich, wo du bist. Ich komme nachher und hole dich hier raus.« Später am Tag hat er mich zu den Genossen in das »Große Lager« gebracht. Wir haben überlegt: Ich trug ja den roten Win-kel mit einem F, dem Zeichen für einen Politischen aus Frankreich. Aber viele, mit denen ich aus Auschwitz gekommen war, hatten mich doch mit dem Ju-denzeichen gesehen. Es brauchte also nur einer zu fragen, hat der nicht einen falschen Winkel?

Ein Ausweg wurde gefunden. Die Funktionshäftlinge hatten die Möglich-keit, mich in ein kleines Nebenlager von Buchenwald zu schicken. Das war

Ein Ausweg wurde gefunden. Die Funktionshäftlinge hatten die Möglich-keit, mich in ein kleines Nebenlager von Buchenwald zu schicken. Das war

Im Dokument Rosa-Luxemburg-StiftungTexte 35 (Seite 109-123)