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Ewald Hanstein

Im Dokument Rosa-Luxemburg-StiftungTexte 35 (Seite 183-187)

Geboren am 8. April 1924

Auschwitzhäftling Nummer Z 8181 Buchenwaldhäftling Nummer 74557

Geboren bin ich 1924 in Breslau, wo meine Eltern damals lebten und arbeite-ten. Insgesamt waren wir sechs Kinder; ich war der Zweitälteste. Mein Vater Peter war Musiker, meine Mutter Maria Hausfrau. In Breslau wohnten wir in einem großen Haus; wir waren die einzige Sinti-Familie in der ganzen Stadt.

Als die Nazis an die Macht kamen, wurde unsere Familie auf jede nur er-denkliche Art schikaniert. Mein Vater war nicht nur Sinto, sondern außerdem Mitglied der SPD – für die Nationalsozialisten ein doppelter Verfolgungsgrund.

Schon nach kurzer Zeit durfte mein Vater seinen Beruf nicht mehr ausüben und musste als Gärtner arbeiten, um uns zu ernähren. Auch in der Schule, in die meine Geschwister und ich in Breslau gingen, wurden wir als »Zigeuner«

beschimpft; es waren immer die »Zigeuner«kinder oder die jüdischen Kinder, die als Sündenböcke herhalten mussten, wenn irgendetwas passiert war.

Als mein Vater einmal grundlos für zwei Tage eingesperrt war, beschloss er, mit uns von Breslau wegzugehen. Wir zogen daraufhin nach Berlin, weil dort unsere Angehörigen wohnten. Doch in Berlin war es noch schlimmer als in Bres-lau. Als wir dort ankamen, wurden wir sofort ins »Zigeuner-Gemeinschafts-lager« Marzahn am Rande Berlins gebracht, wohin man ab Mitte der dreißiger Jahre die meisten Berliner Sinti-Familien verschleppt hatte. Mein Vater wurde bereits 1938 verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen depor-tiert, wo er in den berüchtigten Klinkerwerken Zwangsarbeit leisten musste.

Später kam er nach Neuengamme, wo ihn die SS ermordete. Sein Zwillingsbru-der Paul wurde mit seiner ganzen Familie in Auschwitz-Birkenau umgebracht.

Ich war zunächst im Lager Marzahn interniert, wo ich anfangs noch in eine eigens für Sinti-Kinder eingerichtete »Schule« gehen konnte. Später wurde der Unterricht ganz verboten. Schließlich gelang es mir zu fliehen, und bis zu mei-ner Verhaftung und Deportation im Mai 1943 konnte ich in Berlin umei-nerkannt arbeiten. Ich hatte Schlosser gelernt. Kurz vor meiner Festnahme war ich noch gemustert und als »kriegsverwendungsfähig« eingestuft worden.

Im Mai 1943 wurde ich durch Verrat einer deutschen Frau schließlich von der Gestapo an meiner Arbeitsstelle abgeholt und zunächst zum Gefängnis am Alexanderplatz gebracht. Dort wurden Berliner Sinti und Juden gesammelt;

nach ungefähr acht Tagen wurde unser Transport zusammengestellt. Zunächst fuhren wir mit dem Zug bis nach Breslau, wo wir für eine Nacht blieben. Am nächsten Morgen ging es weiter bis Auschwitz-Birkenau. Ich kam dort sofort in den Quarantäneblock, und man tätowierte mir auf den linken Arm die

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mer Z 8181. Anschließend wurde ich in eine »Buchse« im Block 11 gepfercht.

Meine Mutter und meine sechs Geschwister waren bereits im März nach Ausch-witz deportiert worden, bei meiner Ankunft waren drei meiner Geschwister schon nicht mehr am Leben – sie waren an Typhus gestorben. Meine ältere Schwester Gertrud hatte selbst ein kleines Kind, es hatte in Birkenau keine Überlebenschance. Auch meine Großmutter Rosina war bereits tot, als ich in Auschwitz eintraf.

Meine Cousinen Margot und Elfriede – sie waren Zwillinge – wurden von dem SS-Arzt Mengele für grausame Versuche missbraucht. Sie haben die Ver-suche überlebt und sind dann über das KZ Ravensbrück schließlich auf Trans-port nach Bergen-Belsen gekommen, wo eine meiner Cousinen verhungerte.

Kurz nach meiner Ankunft im »Zigeunerlager« Auschwitz-Birkenau wurde ich zur Arbeit eingeteilt. Ich musste im Straßenbau Planierarbeiten verrichten.

Da ich an Fleckfieber erkrankte, kam ich für einige Zeit in den Krankenbau.

Das Leben im »Zigeunerlager« Auschwitz-Birkenau war unvorstellbar grau-sam. Ich musste mit ansehen, wie Kleinkinder von der SS totgeschlagen wur-den. Darüber zu reden, tut mir sehr weh.

Im August 1944 kam eines Tages ein polnischer Häftling aus der Schreib-stube zu mir und sagte, ich solle unbedingt versuchen, aus dem »Zigeunerla-ger« herauszukommen. Denn wenn ich hier bliebe, würde ich ermordet werden.

Es gelang, auf Transport in das KZ Buchenwald zu kommen, und ich über-lebte, während meine Mutter und meine restlichen drei Geschwister in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in den Gaskammern ermordet wurden – am gleichen Tag, an dem unser Zug das »Zigeunerlager« in Richtung Buchen-wald verließ. In BuchenBuchen-wald kam ich zunächst in Quarantäne, danach wurden wir weiter nach Mittelbau-Dora transportiert. Im dortigen Konzentrations-lager waren tief unter der Erde bombensichere Stollen angelegt worden, wo-hin die SS die Produktion der so genannten V-Waffen verlegt hatte. Als ich in Dora ankam, war der Hauptstollen bereits fertig.

Das Kommando, in dem ich arbeiten musste, hatte die Aufgabe, die Neben-stollen auszusprengen. Man hat uns in die Stollen getrieben, dann bekamen wir Pressluftbohrer in die Hand gedrückt und wurden von einem Zivilisten ange-leitet, wo und wie wir bohren müssten. Der Bohrer war so schwer, dass wir ihn kaum festhalten konnten – wir waren ja alle völlig abgemagert. Wir mussten die Löcher vorbohren für den Sprengmeister. Wenn die Löcher fertig gebohrt wa-ren, hat dieser sie ausgeblasen, und wir Häftlinge mussten in Deckung gehen.

Während der Sprengung durften wir aus dem Stollen nicht heraus; wir mussten versuchen, so gut es ging Schutz zu suchen. Da es keine Abzugsmöglichkeiten gab, war die Luft voller Staub, so dass wir kaum Luft bekamen. Bei den Spren-gungen sind viele Häftlinge durch umherfliegende Brocken umgekommen.

In den von uns frei gesprengten Nebenhallen wurden schließlich die Raketen gefertigt. Der Hauptstollen war so groß, dass ein Güterzug bequem durchfahren

185 konnte. Wenn eine V2 fertiggestellt war, wurde sie mit einer Lok aus dem Stollen gezogen. Wir Häftlinge haben das natürlich gesehen. Von den SS-Ingenieuren und -Technikern haben wir dagegen kaum etwas mitbekommen. Ich habe erst nach dem Krieg erfahren, dass auch Wernher von Braun als hoher SS-Offizier an den Verbrechen im Konzentrationslager Mittelbau-Dora beteiligt war.

Die Arbeit im Stollen war unsagbar hart und grausam. Anfangs habe ich nur ganz selten das Tageslicht gesehen, wir waren fast die ganze Zeit im Stol-len eingesperrt. Trotz der Schwerstarbeit, die wir leisten mussten – es gab je-weils zwölf Stunden Tagschicht und Nachtschicht –, waren die Ernährung und die hygienischen Zustände einfach katastrophal. Eine Schüssel Suppe, die dünn wie Wasser war und ein Stück Brot mit etwas Margarine und Marmelade als Frühstück und Abendbrot – das war die ganze Verpflegung für zwölf Stunden körperlich harte Arbeit. Während der Arbeit wurden die Häftlinge gnadenlos angetrieben und misshandelt. Ich kann mich noch an zwei Zivilisten erinnern, die in Dora bei dem Ausmauern der Schächte leitende Funktionen hatten. Wenn es ihnen nicht schnell genug ging, haben sie uns mit Kabeln geschlagen. Sie waren bei Firmen beschäftigt, die für die Arbeiten im Stollen verantwortlich waren. Auch die Kapos waren nur Handlanger der SS, die uns tagtäglich miss-handelten. Nicht umsonst spricht man von »Vernichtung durch Arbeit«.

Wir galten als so genannte Muselmänner, weil wir völlig unterernährt, krank und teilweise zu Skeletten abgemagert waren. Es scheint mir heute wie ein Wunder, dass ich das Konzentrationslager Dora überlebt habe. Im Stollen habe ich nicht geglaubt, dass ich jemals wieder herauskomme. Viele Mithäftlinge sind auch von der SS erschossen worden oder haben sich aus Verzweiflung umgebracht. Wir wussten nie, ob wir die nächste Sprengung überleben. Jeder Tag konnte unser letzter sein. Schließlich kam ich von Mittelbau-Dora nach Ell-rich und von dort nach Harzungen. An beiden Orten gab es Nebenlager von Dora. Wir waren in Baracken untergebracht. Die Betten, wir nannten sie »Buch-sen«, standen in drei Etagen übereinander. Das Lager war völlig überfüllt, im-mer mehr Häftlingstransporte aus anderen Konzentrationslagern trafen bei uns ein. Zum Teil lagen wir zu viert in einer »Buchse« mit einer Wolldecke und einem Strohsack. Morgens hieß es: »Raus!«, und wir mussten Appell stehen.

Wenn beim Abzählen einer fehlte oder sich der Blockälteste bzw. der Kapo ver-zählte, wurde beim Zählen wieder von vorne angefangen, selbst wenn es über zwei Stunden dauerte. Dann hieß es: »Antreten!« Anschließend mussten wir von Harzungen etliche Kilometer bis Ellrich zur Arbeit marschieren.

Allmählich merkten wir, dass die Front immer näher rückte und hofften, dass der Krieg möglichst bald zu Ende geht. Unter den Häftlingen gab es viele Gespräche über die vielleicht bevorstehende Befreiung, an die wir so lange überhaupt nicht hatten glauben können. Es wurde auch über Sabotage gere-det. Es gab ein internes Häftlingskomitee, welches versucht hat, den Bau der V2 zu sabotieren. Einige Häftlinge unter uns, die direkt in Nordhausen in der

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Fabrik arbeiten mussten und dort auch Kontakt mit Zivilisten hatten, beka-men mit, dass die alliierten Panzer immer näher rückten, obwohl wir die Front noch nicht hören konnten.

Von Harzungen traten wir kurz vor der Befreiung den Todesmarsch an. Wir marschierten unter SS-Bewachung in Richtung Blankenburg im Harz. Ich weiß nicht mehr, wie viele Häftlinge wir anfangs waren, ich schätze zwischen acht-hundert und eintausend Mann. Kurz hinter Blankenburg wurden wir gegen Abend in eine Sandkuhle gebracht. Gemeinsam mit einem Mithäftling grub ich mich vorsichtshalber am Hang der Sandkuhle ein, da wir befürchteten, dass die SS uns erschießen wollte, damit wir den Alliierten nicht lebend in die Hände fallen. Und so kam es auch. Die SS schoss in der abendlichen Dunkel-heit von oben mit Maschinengewehren auf uns Häftlinge. Es gab viele Tote.

Ich selbst habe einen Streifschuss am linken Bein abbekommen. Am nächs-ten Morgen mussnächs-ten die Überlebenden erneut antrenächs-ten. Wir wussnächs-ten nicht, wo sie mit uns hinwollten. Da die Alliierten immer näher kamen, wurden wir Rich-tung Magdeburg getrieben. Unterwegs machten sich die SS-Männer aus dem Staub, und wir bekamen als Bewacher Angehörige der Luftwaffe – bis auf zwei höhere SS-Offiziere. Auf dem Todesmarsch erhielten wir keine Verpflegung.

Die abgezehrten Häftlinge stürzten sich auf freiem Feld an die Futtertröge der Kühe, um etwas Essbares zu bekommen. Viele wurden dabei von der SS er-schossen. Man hat sie auf den Feldern und in den Gräben einfach liegenlassen.

Eines Abends sperrte man uns in eine Scheune bei Eggersdorf ein, und wir hatten große Angst, dass die Wachmannschaften die Scheune in Brand steck-ten. Doch dann stellten wir fest, dass unsere Bewacher plötzlich weg waren, sie hatten alle das Weite gesucht. Nach kurzer Zeit trafen wir auf die Amerikaner und waren endlich frei. Das war im April 1945. Nur ein paar Dutzend von uns haben den Todesmarsch überlebt.

Wir, die wir faschistische Konzentrationslager überstanden haben, können unsere schrecklichen Erlebnisse niemals vergessen.

Für mich als Überlebenden ist es schwer, über diese Zeit zu sprechen, aber die wenigen, die noch in der Lage dazu sind, sind verpflichtet, über diese furchtbare Wirklichkeit zu berichten.

Auch in meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Bremer Landesverbandes der Sinti und Roma spreche ich vor jungen Menschen oft über die Verbrechen, die uns in der Zeit des Nationalsozialismus angetan wurden, und abends, wenn ich dann nach Hause komme, habe ich die schrecklichen Bilder der Vergan-genheit immer wieder vor Augen.

Ewald Hanstein wurde für sein unermüdliches Wirken im Februar 2006 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.

Zusammengestellt von Gerhard Hoffmann nach Materialien Ewald Hansteins.

Der Text wurde von Ewald Hanstein im Oktober 2006 autorisiert.

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