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2.3 Lautheit aus psychoakustischer Sicht

2.3.5 Kritik an der psychoakustischen Lautheitsforschung

97 nicht Frequenzgruppen, sondern die von den Autoren entwickelten ERB (equivalent rectengular bandwidths, Abschnitt 2.3.3.2) zum Einsatz. Auch bei der Überführung des Erregungspegels in die Empfindungsgröße Lautheit weichen die beiden Verfahren etwas voneinander ab, z. B. bei der Wahl des Exponenten der Lautheitsfunktion. Zur Simulation des binauralen Hörens können zudem bei Moore et al. die Lautheiten beider Ohren summiert werden. Des Weiteren existiert auch für dieses Lautheitsmodell eine Erweiterung für zeitvariante Schallereignisse.288

98 kontrollieren lassen. Derartig gestaltete Experimente sind besonders gut für die Untersuchung isolierter Wahrnehmungsphänomene geeignet – je einfacher das Stimulusmaterial und je kontrollierbarer die Versuchsbedingungen, desto deutlicher treten die gesuchten Effekte zu Tage.289 Allerdings ist diese gängige psychoakustische Forschungspraxis nicht ohne Kritik geblieben. Im Folgenden werden die wichtigsten Kritikpunkte zusammengefasst. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der Frage, inwieweit die bisherigen Resultate psychoakustischer Forschung für Erklärungen des Wahrnehmungsvorgangs der Lautstärke von Musik relevant sind.

So ist z. B. die Verwendung synthetischer Schallereignisse als Stimuli umstritten. Nach Albert Wellek ist die in den Anfängen der Psychologie entstandene „objektivistische“

Vorstellung weitgehend widerlegt, wonach es an einem einfachen Sinuston nur zwei erlebbare Eigenschaften geben könne – und zwar die aus den physikalischen Schalleigenschaften Amplitude und Frequenz hervorgehende Lautheit bzw. Tonhöhe. Man könne bei einem Sinuston nicht einfach von einer vermeintlich fehlenden objektiven Variable für die Klangfarbe auf das erlebnismäßige Fehlen derselben schließen, heißt es. So hätten auch reine Sinustöne eine Klangfarbe. Die sei vergleichbar mit der Farbe Schwarz in der Optik, die eine unbunte Farbe, aber nicht die Abwesenheit der Farbe sei.290 Darüber hinaus kann ein Sinuston noch weitere Eigenschaften, wie z. B. Vokalität, Dichte oder Größe, besitzen. Die Konsequenzen, die sich daraus für psychoakustische Experimente ergeben können, fasst Scharf wie folgt zusammen: „Any sound, even one as simple as a pure tone, is more than just louder or softer. People can respond to its pitch, size, density, duration, vocality, and annoyingness….Telling a subject to judge loudness and ignore all other attributes of a sound leaves the experimenter who attempts to measure an equal-loudness contour or a loudness function at the mercy of the subject’s interpretation of loudness (or intensity or strength).”291 Andere Wissenschaftler bezweifeln sogar grundsätzlich, dass Rauschen und Sinustöne überhaupt adäquate Reize für das auditorische System darstellen. So seien die Sinnesleistungen der Menschen auf komplexe Wahrnehmungen spezialisiert und gar nicht auf einfache, synthetische Schallereignisse ausgerichtet.292

289 Bradter (2007), S. 28f.

290 Wellek (1982), S. 27f.

291 Scharf (1978), S. 228.

292 Höger (1987), S. 55; von Campenhausen (1993), S. 9. Synthetische Schallereignisse sind zumindest

„unmusikalisch“. Im Gegensatz zu einem Klavierton verändert sich z. B. bei Sinustönen die Tonhöhe in

99 Viele Wissenschaftler kritisieren zudem, dass sich die nach der gängigen psycho-akustischen Methodik gewonnen Daten nicht auf das Hören von natürlichen, komplexen Schallereignissen unter Alltagsbedingungen übertragen lassen.293 Dabei ist das Problem der Psychoakustik im Speziellen eines der experimentellen psychologischen Forschung im Allgemeinen. Nach einer aus der Physik entlehnten Forschungsstrategie werden reale Situationen in experimentelle überführt, in denen alle in der Realität vorkommenden Variablen, bis auf eine oder wenige, in unnatürlicher Weise konstant gehalten werden. Die Erforschung immer kleinerer, aus dem Ganzen herausgelöster Einzelaspekte führt zwar einerseits zu einem deutlichen Hervortreten der gesuchten Effekte. Anderseits ist es aber häufig nicht möglich, auf Basis dieser Befunde reale Situationen zu erklären oder tatsächlich brauchbare Vorhersageinstrumente wie Lautheitsmodelle zu entwickeln.294 Die Theorie (oder das Gesetz) wird präziser auf Kosten seiner Vorhersagekraft für die Wirklichkeit.

Letztendlich ist ein Mangel an externer Validität der Preis, der für oft sehr weit reichende Vereinfachungen zu zahlen ist. Psychophysikalische Gesetze mögen eine gute Erklärung für einige ausgewählte Komponenten der Wahrnehmung sein, sie können aber nicht den kompletten Prozess der Wahrnehmung erklären.295

Auch in psychoakustischen Versuchen wird normalerweise immer nur ein Aspekt der Lautstärkeempfindung untersucht. Dazu wird das Versuchsdesign so gewählt, dass alle anderen möglichen Einflussfaktoren ausgeschlossen, bzw. kontrolliert werden können.296 Diese isolierte Betrachtung führt zwar einerseits dazu, dass sich der untersuchte Effekt normalerweise gut quantifizieren lässt. Andererseits lässt sich aber die Lautstärkeempfindung in ihrer Gesamtheit – also wie laut ein Mensch ein (komplexes) Schallereignis letztendlich

Abhängigkeit von der Intensität. Tiefe Sinustöne besitzen außerdem aufgrund fehlender Obertöne im Gegensatz zu tiefen Klaviertönen eine nur schwer zu definierende Tonhöhe (Pierce [1999], S. 16).

293 Sader (1966), S. 57f.; Schick (1979), S. 48; Wellek (1982), S. 41; Leman, Schneider (1997), S. 17.

294 Schmale (1976), S. 99ff.; Gardner (1989), S. 148ff.

295 Horst (2010), S. 461f.; Bradter (2007), S.13f.

296 Schulze-Fortkamp und Weber (1991) konnten allerdings mit einer Untersuchung zeigen, dass auch die im Labor vorherrschenden Bedingungen weit reichende Einflüsse auf die abgegebenen Lautheitsurteile haben können. Dabei sind die Einflussfaktoren zahlreich, in vielen Fällen miteinander konfundiert und zudem interindividuell unterschiedlich ausgeprägt. Problematisch ist vor allem, dass derartige Hörversuche eine äußerst künstliche Situation darstellen, in der die zu beurteilenden Signale dem Teilnehmer nicht nur isoliert dargeboten werden, sondern in vielen Fällen auch noch dadurch „betont“ werden, dass vor und nach dem Signal eine Ruhepause mit Stille eingefügt ist. Außerdem dauern die Versuche oft lange, nicht selten 2 Stunden und länger und sind sehr anstrengend und eintönig (Sader [1966], S. 54).

100 empfindet – so nicht hinreichend erklären, da sie offenbar etwas anderes als die Summe mehrerer isoliert betrachteter Phänomene ist. Zu vielfältig scheinen z. B. die Wechselwirkungen zwischen den lautheitsbestimmenden Faktoren zu sein, die mit der gängigen psychoakustischen Methodik nicht erfasst werden können. Die zu dieser Thematik vorliegenden Versuche zeigen, dass die gegenseitige Beeinflussung von Größen wie Schallintensität, Frequenzzusammensetzung oder zeitliche Eigenschaften des Signals bei der Entstehung des Lautheitseindrucks eine beträchtliche Rolle spielt.297

Die Problematik wird auch bei Funktionstests von Lautheitsmodellen deutlich. Sie vermögen – trotz ihrer auf der Simulation mehrerer lautheitsbestimmender Faktoren beruhenden Komplexität – häufig nicht besser die Lautheit vorherzusagen als einfache Verfahren. Dies haben Testreihen gezeigt, die subjektiv durch Hörtests ermittelte Lautheits-werte und die mit Hilfe von Lautheitsmodellen objektiv gemessene Lautheit miteinander vergleichen. So liefert das Verfahren nach ISO 532 B für natürliche Schallereignisse wie Sprache oder Musik nicht unbedingt validere Ergebnisse als eine einfache Effektivwert-messung des Schalldrucks.298 Bradter konnte zudem in einer Studie zeigen, dass verschiedene Lautheitsmodelle bei der Messung der Lautheit von komplexen Stimuli zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Darüber hinaus zeigte sich, dass selbst kleine Modifikationen innerhalb eines Verfahrens die gemessenen Werte stark beeinflussen können.299

Hinzu kommt, dass in psychoakustischen Versuchen normalerweise nur die objektiv-physikalischen Bedingungen variiert werden. Phänomenalen Gegebenheiten, wie die Einstellung der Vp, die Bedeutung eines Schallereignisses oder der situative Kontext werden selten untersucht. Zwar besteht grundsätzlich ein Bewusstsein für die Existenz dieser Phänomene. Sie werden aber normalerweise als Störvariablen betrachtet, die durch die Wahl

297 Verhey (1999), S. 10, 42ff.; Gelfand (1990), S. 375.

298 Soulodre (2004); Skovenborg, Nielsen (2004); Kessler et al. (2005). Siehe dazu auch Verhey (1999), S. 10f.

Der Effektivwert (auch: energieäquivalenter Dauerschallpegel) ist nach Schmidtke et al. (1981), S. 30 „der Schallpegel eines zeitlich schwankenden Geräusches, der dem eines zeitlich konstanten Geräusches gleichen Energieeinsatzes gleichzusetzen (äquivalent) ist.“ Er wird für ein bestimmtes Zeitintervall berechnet und erhält die Größenbezeichnung Leq. Nach Skovenborg, Nielsen (2004), S. 7 ist er mathematisch wie folgt definiert:

T 2

eq 10 2

0

x ( )

( ) 10log 1 dB

T ( )

W Ref

L W t dt

x t

.

299 Bradter (2007), S. 375, S. 399f.

101 eines bestimmten Versuchsaufbaus von vornherein von der Untersuchung ausgeschlossen oder zumindest unter Kontrolle gehalten werden können. Sind weder Ausschluss noch Kontrolle möglich, wird versucht, sie bei der Auswertung durch die Mittelung einer möglichst großen Anzahl von Werten zu eliminieren.300 Häufig sind es aber gerade im Alltag eben diese nicht-akustischen Faktoren, die eine genaue Einschätzung der Lautheit einer Klangquelle erst möglich machen. Neisser schreibt dazu: „In der normalen Umgebung sind die meisten wahrnehmbaren Objekte und Ereignisse bedeutungsvoll. Sie bieten verschiedene Handlungsmöglichkeiten, enthalten Implikationen darüber, was geschehen ist oder geschehen wird, gehören in einen größeren, zusammenhängenden Kontext, haben eine Identität, die ihre einfachen physikalischen Eigenschaften überschreitet. Diese Bedeutungen kann man wahrnehmen und tut das auch.“301 Werden nun in einer reduzierten Laborsituation die nicht-akustischen Faktoren komplett ausgeblendet, konzentriert sich die Vp in völlig unnatürlicher Weise nur auf die hervorgerufene Empfindung an sich. Die daraus entstehende Problematik fasst Moore mit folgenden Worten zusammen: „Some researchers object to the whole concept of asking a listener to judge the magnitude of a sensation. What we do in everyday life is to judge the “loudness” of sound sources. Our estimate is affected by the apparent distance of the sound source (Mershon et al., 1981), the context in which it is heard, and the nature of the sound (e.g., whether it is meaningful or not). In other words, we are attempting to make an estimate of the properties of the source itself. Introspection as to the magnitude of the sensation evoked may be an unnatural and difficult process. This point of view has been well expressed by Helmholtz (quoted in Warren, 1981), who said that: ...we are exceedingly well trained in finding out by our sensations the objective nature of the objects around us, but we are completely unskilled in observing these sensations per se; and the practice of associating them with things outside of us actually prevents us from being distinctly conscious of the pure sensations.”302

Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass das Grundproblem vieler psychoakustischer Lautheitsversuche in einem teilweise gravierenden Mangel an externer Validität besteht. Im Labor mit synthetischen Schallereignissen und unter kontrollierten

300 Stevens (1955), S. 816, 819; Scharf (1978), S. 220f. Siehe dazu auch Abschnitt 2.3.4.1.

301 Neisser (1979), S. 62.

302 Moore (2004), S. 133. Diese Nichtbeachtung phänomenaler Gegebenheiten in der Psychoakustik könnte ein weiterer Grund dafür sein, dass Lautheitsmodelle sich nur bedingt für die Vorhersage der Lautheit natürlichen Schallereignisse eignen (Bradter [2007], S. 200).

102 Bedingungen gewonnene Erkenntnisse sind nicht ohne weiteres auf die Wahrnehmung unter Alltagsbedingungen übertragbar. Das Erkennen und Beurteilen von Schallereignissen ist im Alltag ein komplexes Zusammenspiel aus physikalischen, physiologischen und psycho-logischen Faktoren, das sich im Labor mit dem psychophysikalischen Stimulus-Response-Modell nicht erfassen lässt. Die Eindeutigkeit der Befunde – also die interne Validität – wird immer mit einem Mangel an externer Validität erkauft.303 Gardner beschreibt die Problematik sehr treffend mit folgenden Worten: „Es läßt sich gegen Experimente, die unter künstlichen Bedingungen durchgeführt werden, per se nichts anführen (man denke nur an die Physik!), aber es ist recht unangenehm, wenn die Ergebnisse zu bröckeln beginnen, sobald die Versuchsbedingungen ein klein wenig verändert, auf komplexere Phänomene angewandt oder einen Meter aus dem Laboratorium hinaus verlegt werden.“304