• Keine Ergebnisse gefunden

1 Vereinigung theoretischer und empirischer Erkenntnisse

1.1 Ungewissheit, Kontingenz

Im Abschnitt Ungewissheit als Teil der pädagogischen Profession (Kap. II.1.1) wurde das Phänomen der Ungewissheit bzw. der Kontingenz aus folgenden Perspektiven beleuchtet: Zu-erst wurde der Blick auf die Konstitution der Ungewissheit im pädagogischen Feld gerichtet (Kap. II.1.1.1), um anschließend den Umgang mit Ungewissheit als Krisenerfahrung zu thema-tisieren (Kap. II.1.1.2). Im Folgenden werden die theoretischen Erkenntnisse in Beziehung zu den empirischen Ergebnissen gesetzt und diskutiert.

Wenn Kontingenz als „Möglichkeit und gleichzeitige Nichtnotwendigkeit“ (Duden 2017) von Sachverhalten, Aussagen, Kooperationen, Interventionen etc. gesehen wird, ist eine Öffnung des Blicks bzw. eine Erhöhung des Abstraktionsgrads in der Einordnung der zwischenmenschlichen Verhaltensweisen notwendig. Kontingenz inkludiert die Erhöhung der Möglichkeiten bzw. der Interaktionsvariationen und gerade deshalb muss der Blick auch in Richtung Öffnung und Ver-allgemeinerung gerichtet werden. „Teachers cannot generalize skills they have not adequately learned“, stellt Scheeler (2008, S. 146) fest und ergänzt: „[…] they do not generalize newly ac-quired teaching techniques to real world settings.“ (ebd.) Nach den im Zuge dieser Forschungs-arbeit durchgeführten Interviews und der Analyse der empirischen Daten kann unterstrichen werden, dass explizit die thematisierte Kontingenz bzw. Ungewissheit einen Großteil der von Scheeler erwähnten realen Umwelt im Sinne von realen Unterrichtssituationen ausmachen.

Im Anschluss werden thematische Zusammenhänge zwischen den im Grundlagenteil (Kap. II) diskutierten Kontingenzkonstitutionen und im Empirischen Zugang (Kap. III) analysierten Kontingenzvorkommen dargestellt und diskutiert. Als Grundlage für die empirischen Schwer-punkte dienen die in der Themen-Kategorien-Matrix (Tab. 11) bzw. in den Bedingungsgefügen (Kap. III.4.2) bereits dargestellten Themen Systemwissen, Reflexion & Feedback, Autorität in der Klasse, Kooperation mit Schülerinnen und Schülern, Administration und Habitus. Sie stel-len die Essenz der empirischen Erkenntnisse dar.

In Abbildung 71 sind die Themen mit der in Beziehung zu setzenden und theoretisch bereits diskutierten Materie Ungewissheit bzw. Kontingenz sowie die Schlüsselbegriffe abgebildet. Die den Themen beigefügten Begriffe bzw. Schlagworte sind Schlüsselbegriffe, die bereits in der Diskussion zu den Bedingungsgefügen vorkommen und entweder in-vivo von den Interview-partnerInnen oder interpretativ im Zuge der Datenanalyse generiert wurden (Abb. 71).

Die in den Grundlagen thematisierten Phänomene Ungewissheit, Kontingenz und Unverfüg-barkeit (Kap. II.1.1) können in allen empirisch ermittelten Themen, die mittels

Bedingungsge-füge analysiert wurden, identifiziert werden, in Systemwissen, Reflexion & Feedback, Autorität in der Klasse, Kooperation mit Schülerinnen und Schülern, Administration und Habitus.

Abb. 71: Kontingenz, Ungewissheit, Unverfügbarkeit – Zusammenführung und Integration

Die Themen Systemwissen, Reflexion & Feedback, Autorität in der Klasse, Kooperation mit Schü‑

lerInnen, Administration und Habitus, sowie die Schlüsselwörter in den rechteckigen Feldern (Abb. 71) werden zur Orientierung und Transparenz in der folgenden Diskussion kursiv dar-gestellt.

Die zum Teil nicht geklärten Aufgaben, besonders im Bereich Systemwissen, bewirken für Lehrpersonen im Allgemeinen und BerufsanfängerInnen im Speziellen Stress, letztlich wird der Grad der Ungewissheit erhöht. Dies trifft in der Gesamtheit der Herausforderungen be-trachtet jedoch nicht nur das Systemwissen, sondern spielt z.B. auch in den Bereich des Unter-richts hinein, da Aufgaben im System mit den pädagogischen Aufgaben bzw. Erwartungen im Klassenzimmer teilweise eng verknüpft sind. Unterstützung erfahren die BerufsanfängerInnen von erfahrenen KollegInnen, DirektorInnen und nach Implementierung der Induktionsphase voraussichtlich vorrangig von MentorInnen. Die Hilfe reicht vom Schließen der Ungewissheit (Kosinár 2018), indem z.B. MentorInnen mit Tipps helfend zur Seite stehen, bis zum allgemei-nen Umgang mit Kontingenz- bzw. Krisenerfahrungen (Connor et al. 2012).

In Bezug auf Reflexion & Feedback ist die Erwartungshaltung aufseiten der BerufsanfängerIn-nen sehr hoch, gerade was den Umgang mit Ungewissheit, Kontingenz und Unverfügbarkeit betrifft. Da Reflexion & Feedback auf mehreren Ebenen stattfindet (z.B. Lehrperson-SchülerIn, Lehrperson-SchulleiterIn, BerufsanfängerIn-MentorIn), soll nach den empirischen und analyti-schen Erkenntnissen der vorliegenden Arbeit dieser Möglichkeit des Umgangs mit Kontingenz ein besonderes Augenmerk geschenkt werden. Dass durch den professionellen Umgang mit Ungewissheit, welcher durch Reflexion & Feedback initiiert werden kann, die Berufszufrieden-heit steigt, ist nicht als positiver Nebeneffekt, sondern als wesentliche Determinante für den weiteren berufsbiografischen Weg der BerufsanfängerInnen zu verstehen. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch das Phänomen der doppelten Kontingenz (Kärtner 2015;

Luh-mann 2018), welches in den Reflexions- und Feedbackgesprächen auf der Metaebene bzw. auf der Ebene zweiter Ordnung auftreten kann. Letztlich führt Reflexion & Feedback in Bezug auf Ungewissheit und Kontingenz zu einer Steigerung in der Professionalisierung. Die Chance für die BerufsanfängerInnen, sich auf die nächste Professionsebene zu heben, wird u.a. dann signifikant erhöht, wenn die Bereitschaft der BerufsanfängerInnen besteht, sich mit der Unge-wissheit auseinanderzusetzen (Keller-Schneider 2018). Dies kann z.B. in Form von Reflexion &

Feedback initiiert und etabliert werden.

Das Thema Autorität in der Klasse weist eine sehr hohe Korrelation zum Phänomen der Unge-wissheit bzw. Kontingenz auf. Die BerufsanfängerInnen nennen diesbezüglich in erster Linie Versagensängste und, in weniger stark ausgeprägter Form, Zweifel. Der Schock beim Berufsein-stieg, in der Literatur und auch in der vorliegenden Untersuchung als Praxisschock thematisiert, wird als nahezu erwartbares Übel angesehen, dem im Sinne der theoretischen Aufarbeitung der Kontingenzthematik am besten mit Offenheit begegnet wird. Die Nicht-Standardisierbarkeit (Helsper 2001) von Handlungen verschiedener Akteure wird hier ebenso ins Treffen geführt wie die strukturelle Unhintergehbarkeit (Dietrich 2018) von Krisenerfahrungen. Trotz dieser theoretischen Erklärungsmuster stellt sich die Frage, ob angesichts der pädagogisch-praktischen Studien im Laufe des Lehramtsstudiums das Schockerlebnis für BerufsanfängerInnen so ohne Weiteres hingenommen werden soll, oder ob es Praktikumssettings gäbe, die noch realitätsna-her als die bisrealitätsna-herigen sind und insofern den Praxisschock verringern bzw. bestenfalls verhindern können. Auch in Bezug auf die bereits erwähnten Versagensängste der BerufsanfängerInnen lie-fert der in der Literatur diskutierte Umgang mit Kontingenz bzw. mit Krisen teilweise keine befriedigende Aussicht. Wie erklärt man einer Berufsanfängerin bzw. einem Berufsanfänger, ohnehin von Zweifel und Ängsten geplagt, dass der offensive Umgang mit Kontingenz eine ak-tive Kriseninitiierung (Combe et al. 2018) sein kann. Hier ist, so meine Vermutung, ein Punkt erreicht, wo sich theoretische Erkenntnisse und praktische Erfahrungen nicht treffen.

Die Kooperation mit Schülerinnen und Schülern umfasst den Bereich des Classroom Manage-ments und die wesentliche Facette der Beziehungen bzw. Beziehungsebene zwischen Lehrper-son und SchülerIn (Hattie 2015). Gerade BerufsanfängerInnen können aufgrund der fehlenden Routine, welche aus den Interviews als noch markantere In-vivo-Codierung „Keine Routine“

hervorgeht, den Abstand zu den SchülerInnen oftmals schwer oder nicht einschätzen, zumal sich die SchülerInnen zum Teil genau in derselben Situation befinden. Hier liegt ein typischer Fall der doppelten Kontingenz (Combe et al. 2018; Luhmann 2018) vor, wonach zwei Akteure mit Kontingenzpotenzial aufeinandertreffen.

Die SchulleiterInnen erwarten sich von den BerufsanfängerInnen in Bezug auf die Kompetenz der Kooperation mit SchülerInnen erste Ansätze und formulieren zugleich ein Desiderat in der Ausbildung. Auch hier zeigt sich doppelte Kontingenz und die komplexen, systemischen Varia-tionen in den BerufsanfängerIn-SchülerIn-SchulleiterIn-Begegnungen lassen sich in laborähn-lichen universitären Studiensituationen nicht durchspielen, geschweige denn erlernen. Auch die praxisbezogenen Seminare der pädagogisch-praktischen Studien können in Bezug auf All-tagspraxis als Laborveranstaltungen interpretiert werden. Letztlich hoffen BerufsanfängerIn-nen auch hier auf Tipps und Tricks seitens der älteren KollegInBerufsanfängerIn-nen, MentorInBerufsanfängerIn-nen und Schullei-terInnen, wenngleich die Mentoring-Ansätze eher die Unterstützung und Entwicklung (Wang

& Odell 2007) im Gegensatz zum Präsentieren von Lösungen präferieren. Die sensible Phase des Berufseinstiegs (Kraler et al. 2017) manifestiert sich besonders im Kooperationsverhalten.

Umso mehr wird nicht erst in dieser Phase, sondern bereits in der Ausbildung die Anerkennung von Ungewissheit (Keller-Schneider 2018) zu thematisieren sein.

Ausbildungsdesiderate in der Administration im LehrerInnenberuf erzeugen große Unsicherheiten, die sich in Kontingenzerfahrungen niederschlagen können. Ähnlich wie beim Systemwissen sind administrative sehr eng mit den pädagogischen LehrerInnentätigkeiten verbunden, sodass sich Unsicherheiten auf der einen Seite (Administration) als Ungewissheiten auf der anderen (zwi-schenmenschlich und pädagogisch) konstituieren können. In diesem Zusammenhang ist der Fo-kus eher auf das Kooperationsverhältnis zwischen BerufsanfängerIn und Schulleitung als auf jenes zwischen BerufsanfängerIn und SchülerIn zu richten. SchulleiterInnen versuchen dieses Ausbil-dungsdesiderat und die resultierenden Kontingenzerfahrungen durch vorauseilende Hilfeleistun‑

gen auszugleichen. Schrittesser (2011) spricht in diesem Zusammenhang vom prophylaktischen Handeln, Oevermann (2017) vom implizit Therapeutischen als einer pädagogischen Funktion.

Erwartungsgemäß werden diese Erste-Hilfe-Maßnahmen nach der Implementierung der Indukti-onsphase zukünftig auch MentorInnen übernehmen, wenngleich die ursprüngliche Intention des MentorInnenhandelns nicht Erste Hilfe sondern die Unterstützung in der persönlichen Entwick-lung (Raufelder & Ittel 2012) ist. Zur Minderung des Spannungsfelds zwischen den Erwartungen der Schulleitungen, KollegInnen etc. und dem Ausbildungsdesiderat, in dem sich die Berufsan-fängerInnen befinden und das für Ungewissheit und Krisenerfahrungen mitverantwortlich ist, können die Ausbildungsinstitutionen beitragen. Neben theoretischen, wissenschaftlichen und pädagogisch-praktischen Lehrinhalten darf auf die administrativ-praktischen Inhalte im Curricu-lum nicht vergessen werden. Die Erwartungen an die Ausbildungsinstitutionen seitens der Berufs-anfängerInnen und der SchulleiterInnen werden diesbezüglich eindeutig formuliert und in der Beantwortung der Forschungsfrage 3 thematisiert (Kap. IV.2.3).

Das Thema Habitus wird aus der Analyse der empirischen Daten interpretativ generiert. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass sich die Thematik der Habitualisierung in Verbindung mit LehrerInnenpersönlichkeit bzw. deren Genese durch die gesamte vorliegende Arbeit durch-zieht und insofern als Metathema zu betrachten ist.

Der Perspektivenwechsel von den Studierenden zur Lehrperson fällt den BerufsanfängerInnen schwer. Daran ändern auch die pädagogisch-praktischen Studien wenig, zumal die Rolle der Praktikantin bzw. des Praktikanten ohnehin eine andere ist als jene der Lehrperson resp. der Berufsanfängerin bzw. des Berufsanfängers. Die Ungewissheit aufgrund der Handlungen, Inter-aktionen etc. von AkteurInnen in unterschiedlichen Rollen bestätigt Keller-Schneider (2018).

Wenn verschiedene Rollen (Studierende bzw. Studierender, PraktikantIn, BerufsanfängerIn bzw. Lehrperson in den ersten Dienstjahren) in zeitnahen Abständen bzw. in ineinandergrei-fenden Phasen eingenommen werden, ist die Ungewissheit bzw. die Kontingenz inkl. der ein-hergehenden Krisenerfahrung vermutlich umso größer.

In engem Zusammenhang damit steht die Diskrepanz zwischen den Illusionen und den Realitäts‑

erfahrungen der BerufsanfängerInnen. Die Differenzen zwischen dem Erwarteten (Illusion) und dem Tatsächlichen (Realität) führen zu Kontingenz- und Krisenerfahrungen, Ausführungen der BerufsanfängerInnen und SchulleiterInnen bestätigen dies ausdrücklich. Trotzdem oder gerade deshalb treffen BerufsanfängerInnen Entscheidungen (Combe 2018) und insofern können Kri-senerfahrungen allgemein (Combe & Paseka 2012) und Diskrepanzen zwischen Illusion und Re-alität im Speziellen als Chance zur Entscheidungsfindung gesehen werden. Zweifel werden in den Befragungen der BerufsanfängerInnen oft thematisiert und stehen in den Gesprächen mit Schock, Überforderung und Krise im Zusammenhang. Hier orte ich – ebenso wie beim bereits diskutier-ten Thema Autorität in der Klasse – eine in der Theorie gefundene, jedoch wenig bis nicht prakti-kable Lösung: die Initiierung der Krise. Im Falle des Zweifels scheint der lösungsorientierte, durch MentorInnen begleitete Ansatz der Stärkung der Persönlichkeit der bessere zu sein.