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Die sportwissenschaftliche Forschung zur Trainerarbeit ist in vielen Belangen durch eine einseitige Betrachtung geprägt. Die theoretische Optimierung der Trainingsmaßnahmen und des Trainerverhaltens steht im Vordergrund, um in der Praxis die sportliche Leistung der Athleten erfolgreicher entwickeln und entfalten zu können. Die Athleten selbst werden oftmals nur als die zu optimierende Objekte in die Überlegungen integriert bzw. in wissen-schaftlichen Testverfahren beobachtet. Auf diesem Weg besteht allerdings die Gefahr, dass der soziale Charakter der Arbeit zwischen Trainer und Athlet zunehmend verloren geht.

Einige Arbeiten geben diesen Zustand jedoch offen zu bedenken und versuchen deutlich zu machen, dass für sportwissenschaftliche Beobachtungen auch andere Möglichkeiten be-stehen. Der Forschungsstand konnte hier bereits die hauptsächlich soziologischen und so-zialpsychologischen Ansätze beschreiben, welche eine bidirektionale Grundordnung der Zusammenarbeit von Trainer und Athlet betonen.

Der Anspruch an eine Beschreibung eindeutiger, kausaler Ketten von Ursache und Wir-kung ist für die Problemstellung dieser Arbeit nur sehr bedingt zielführend bzw. erfolgs-versprechend. Zwar könnten mit Sicherheit einzelne Bedingungen und Regeln formuliert werden, jedoch verlöre man dabei schnell die Zusammenhänge der Gegebenheiten aus dem Blick. Die prinzipiellen Möglichkeiten von Einflüssen und Abhängigkeiten für die Kom-munikation zwischen Trainer und Athlet sind sozial und sachlich vielseitig aber auch zeit-lich besonders dynamisch. Beispiele wie persönzeit-liche Differenzen oder Probleme, einfluss-reiche Personenkonstellationen innerhalb der Trainingsgruppe, private und sportliche Er-wartungen und auch sportliche Drucksituationen können das Spektrum dieser Möglichkei-ten ansatzweise aufzeigen. Diese Komplexität, die in und aus kommunikativen Situationen zwischen Trainer und Athlet besteht, muss jedoch in ihrer Gesamtheit erfasst und beobach-tet werden können.

Entsprechend sorgfältig gilt es die Theorie auf entsprechende soziale Phänomene auszu-richten. Ein konstruktivistischer Zugang ermöglicht es die sozialen Gegebenheiten, beste-hend aus den beteiligten Personen und ihrer gesellschaftlichen Eingebundenheit, bewusst aufzugreifen. Damit verbunden ist auch ein erster theoretischer Blick auf die Einzelge-sprächssituation zwischen Trainer und Athlet, um unmittelbar ein Problembewusstsein aufzubauen, das die anschließenden theoretischen Überlegungen und Entscheidungen un-terstützt. Auch können auf dem weiteren Weg sportwissenschaftliche Bedingungen und Erkenntnisse, wie psychologische, pädagogische oder trainingswissenschaftliche Hinter-gründe, adäquat in ein übergeordnetes Gesamtbild einfließen.

Ein konstruktivistischer Ansatz ist für die sportsoziologische Forschung nicht neu. In den vergangenen zwanzig Jahren beschäftigen sich verschiedene Forschungsvorhaben mit der Anwendung einer systemtheoretischen Perspektive auf soziale Phänomene im Sport (Borggrefe, 2008; Borggrefe & Cachay, 2015; Borggrefe et al., 2006; Borggrefe, Cachay

& Thiel, 2012; Cachay & Thiel, 1997; 2000; Mayer, 2010; Thiel, 2002a).

3.1 Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Prämisse

Entsprechend einem konstruktivistischen Verständnis liegt es im Interesse dieser Arbeit,

„eine transparente, für andere nachvollziehbare, zugängliche sowie lehr- und lernbare Be-schreibung eines beobachtbaren Phänomens (…) mittels einer bestimmten wissenschaftli-chen Theorie“ (Cachay & Thiel, 2000, S. 22) zu erreiwissenschaftli-chen. Der Konstruktivismus befasst sich mit menschlichem Erkennen, Denken und Urteilen als Teil der zu erkennenden Welt.

„Er versucht den Blick auf die Wechselbeziehungen zwischen beidem, Erkenntnis und Er-kanntem, zu richten“ (Simon, 2009, S. 12). Der Konstruktivismus ist dabei eine „Theorie der Beobachtung“ (Jensen, 1999, S. 101), die sich in verschiedene Richtungen entwickelt hat.

Den einzelnen Ansätzen des Konstruktivismus liegt die Annahme zu Grunde, dass mensch-liche Erkenntnis durch den einzelnen Beobachter konstruiert wird und somit nicht eine Wirklichkeit repräsentiert, die man als richtig bezeichnen könnte. So ist auch wissenschaft-liche Erkenntnis nur eine Konstruktion (vgl. J. Baecker, Borg-Laufs, Duda & Matthies, 1992, S. 118). Sie muss sich allerdings nicht bewahrheiten, sondern bewähren (vgl. Lueger, 2000, S. 15). Wahrheit ist damit nicht mehr der Maßstab für die Generalisierung und Ver-wendung von Wissen, sondern entscheidender wird die Brauchbarkeit, Relevanz und Le-bensfähigkeit (vgl. Fried, 2001, S. 34). Konstruktivistische Modelle müssen sich anhand

„ihrer Problemlösekapazität, ihre Konsistenz und ihre Verknüpfbarkeit mit Modellen aus anderen Disziplinen“ messen lassen (Hejl, 1988, S. 305).

Die Unvollständigkeit der Beobachtung ist ein Zugang zum Verständnis der konstruktivis-tischen Sichtweise: „Mit jeder Beobachtung werden jeweils nur bestimmte Phänomene in das Blickfeld genommen und anderen zwangsläufig ausgeblendet“ (Miebach, 2010, S.

292). Eine Beobachtung ist hierbei ein „Unterscheiden und Bezeichnen“ (Luhmann, 1997a, S. 69). Beobachter sind im Konstruktivismus jedoch nicht Menschen, die soziale Phäno-mene aus einer bestimmten Perspektive beobachten, sondern immer wissenschaftliche Be-obachtungssysteme (vgl. Jensen, 1999, S. 101). An dieser Stelle wird auch das konstrukti-vistische Verständnis deutlicher: Konstruktivismus ist somit nicht nur eine Theorie der Beobachtung, sondern „eine Theorie der Bildung von Beobachtungssystemen, in denen sich die kognitiven Operationen vollziehen, die das wissenschaftliche Wissen erzeugen“

(Jensen, 1999, S. 258).

Unter den konstruktivistischen Strömungen ist besonders der Radikale Konstruktivismus5 von Bedeutung. In seinem Zentrum steht das Individuum und seine kognitive Konstruktion der Wirklichkeit. Es werden die Mechanismen der Wirklichkeitskonstruktionen durch das menschliche Gehirn und die Bedeutung dieser Wirklichkeitskonstruktionen für das Über-leben des sozialen Systems untersucht (vgl. Miebach, 2010, S. 294). Kritisch anzumerken

5 Der radikale Konstruktivismus gilt als die Hauptrichtung des konstruktivistischen Denkens. Die Leitfragen der Über-legungen sind dabei: „Inwieweit ist die von Menschen als objektiv erfahrbare Wirklichkeit erkennbar? In welcher Art und Weise operiert der menschliche Erkenntnisapparat?“ (Fried, 2001, S. 41).

ist jedoch, dass nicht deutlich wird, wie Interaktion und Kommunikation vor einem radikal konstruktivistischen Hintergrund möglich sind. Es bleibt zumindest unklar, wie kommuni-zierende Individuen zu einer gemeinsamen sozialen Realität kommen (vgl. Fried, 2001, S.

49). Für den konkreten Fall des Einzelgesprächs zwischen Trainer und Athlet würde dem-nach die Grundbedingung fehlen, den kommunikativen Austausch zwischen den beiden Gesprächspartnern in die theoretische Analyse zu integrieren. Wohl aber schärft die Per-spektive des radikalen Konstruktivismus den Blick auf die Wahrnehmungsprozesse der einzelnen Personen als Voraussetzung und Bestandteil von Einzelgesprächen. Es bedarf daher einer wichtigen Ergänzung der radikal-konstruktivistisch erkenntnistheoretischen Position, um auch das soziale Geschehen angemessen fokussieren zu können.

An dieser Stelle betont der soziale Konstruktionismus6 die Überlegungen des radikalen Konstruktivismus neu, indem er statt der individuellen die kollektive Konstruktion der Wirklichkeit in den Vordergrund stellt. Die soziale Eingebundenheit aller Erfahrungen und Wissen durch Sprache, Diskurs und die laufenden Beziehungs- und Kommunikationspro-zesse der Gesellschaft ist entscheidender Ausgangspunkt (vgl. Gergen, 2002, S. 5). In Ge-sprächen wird so eine gemeinschaftliche Sicht auf die Wirklichkeit entwickelt: „Sinn und Bedeutung ergeben sich aus aufeinander bezogenen Interaktionen zwischen Menschen - aus Diskussionen, Verhandlungen und Übereinstimmungen. Aus dieser Sicht sind Bezie-hungen die Grundlage für alles, was verstehbar ist“ (Gergen, 2002, S. 67). Die Verbindung beider Ansichten wird als sozialer Konstruktivismus7 bezeichnet und vereint auf diesem Weg die individuelle Erkenntnistheorie mit dem Bewusstsein für die Kommunikationspro-zesse oder Beziehungen zwischen Gesprächspartnern (vgl. Deissler, 2001). Wie sich diese beiden Perspektiven gegenseitig verstärken, macht folgendes Zitat deutlich: „Wir erfinden uns selbst, werden aber auch von anderen erfunden. Wenn wir annehmen, dass beides zu-sammenwirkt und sich ergänzt betreten wir die sozialkonstruktivistische Arena“ (Deissler, 2001, S. 219). Wirklichkeitskonstruktion erfolgt sowohl kognitiv im Individuum als auch kommunikativ-kulturell in den Diskursen sozialer Systeme (vgl. Schmidt, 1994, S. 13).

Der Sozialkonstruktivismus ist die Verbindung des radikalen Konstruktivismus und des sozialen Konstruktionismus zu einem Gesamtbild.

Möchte man Gesprächssituationen zwischen Trainer und Athlet komplexer als nur in einer isolierten Gesprächssituation begreifen, dann hat eine sozialkonstruktivistische Grundpo-sition Grenzen in Bezug auf die Dynamik der direkt und indirekt verknüpften sozialen Elemente. Die bisher eingenommene erkenntnistheoretische Position lässt sich jedoch an dieser Stelle durch die Annahmen des systemischen Konstruktivismus erweitern, der die kognitiven Wirklichkeitskonstruktionen von Individuen mit der Theorie der Sozialsysteme verbindet. Systemisch bedeutet daher allgemein, „dass man es nicht mit isolierten Phäno-menen, sondern mit einem holistischen Ensemble zu tun hat, dessen Elemente miteinander

6 Fried (Fried, 2001, S. 37) bezeichnet den sozialen Konstruktionismus auch als relationalen Sozialkonstruktivismus.

7 Sozialer Konstruktionismus und sozialer Konstruktivismus werden häufig synonym verwendet. Dennoch wird in dieser Arbeit eine Trennung der beiden Perspektiven deutlich gemacht, um die Argumentation für eine Verknüpfung der radikal-konstruktivistischen und der sozial-konstruktionistischen Annahmen deutlicher herausarbeiten zu können.

verknüpft sind, miteinander reagieren, so dass die Effekte sich in seinem Netz fortpflan-zen“ (Jensen, 1999, S. 406). Somit bezieht sich der systemische Konstruktivismus auf ein ganzheitliches System sozialer Beziehungen und deren Folgen. Mit diesem Grundsatz er-möglicht es die Perspektive des systemischen Konstruktivismus, dem oben beschriebenen soziologischen Anspruch in einem ersten Schritt näher zu kommen.

Konsequenter Weise wird im systemischen Konstruktivismus der Beobachter mit dem von ihm beobachteten Zusammenhang in einem Beobachtungssystem vereint (vgl. Jensen, 1999, S. 355). Streng genommen „erklärt der systemische Konstruktivismus (…) die kog-nitiven Operationen, mit denen ein Beobachter Systemverhalten erfasst“ (Jensen, 1999, S.

409). Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Erkenntnis sind demnach die Kognitionen ei-nes Beobachters als Teil des Systembildungsprozesses. Dieser Prozess der Systembildung vollendet sich erst in einer reflexiven Beobachtung der eigenen Beobachtung; einer Be-obachtung zweiter Ordnung, in der die Einheit erzeugter Realität und BeBe-obachtung als kognitive Spiegelung erscheinen (vgl. Jensen, 1999, S. 409f). „Realität ist nur (…) über die Operation von Beobachtung [zugänglich]“ und wird durch den Prozess der Beobach-tung aktiv hervorgebracht (Jensen, 1999, S. 412).

Der systemische Fokus verdeutlicht an dieser Stelle noch einmal, dass eindeutig interpre-tierbare kausale Zusammenhänge für die vorliegende Problemstellung nicht Ziel wissen-schaftlicher Erkenntnis sein können. Vielmehr gilt es soziale Interdependenzen im Zusam-menhang mit Einzelgesprächen auf ihre Bedingungen, Komplexität und Reichweite hin zu untersuchen. Die kognitiven Konstruktionen der beteiligten Individuen werden dazu be-wusst in den Prozess einer reflexiven Beobachtung aufgenommen. So wird auch die Per-spektive des Trainers nicht Ausgangspunkt, sondern Teilaspekt des wissenschaftlichen Be-obachtungssystems. Dies geschieht mit dem Ziel „einen Beobachtungsraum aufzubauen, indem interessierende Phänomene unter kontrollierten Bedingungen zur Erscheinung ge-bracht werden können, so dass darüber Verständigung möglich ist – bis hin zu Aufberei-tung der gewonnenen Informationen nach bestimmten Kriterien“ (Jensen, 1999, S. 265).

In diesen Beobachtungsräumen gilt es nun mit Hilfe einer Theorie Beschreibungen und Erklärungen über die beobachtete Wirklichkeit zu gewinnen. Nach Bette besteht „[d]ie Kunst der wissenschaftlichen Theorie- und Methodenanwendung (…) darin, für die jewei-ligen Problemstellungen die passenden ,Objektive‘ zu finden und einzusetzen“ (Bette, 1999, S. 19).

Die Ausarbeitung der erkenntnistheoretischen Grundposition konnte bereits die Problem-stellung grundsätzlich erfassen. Für die weiteren theoretischen Überlegungen muss nun eine Theorie aktiviert werden, die mit der erkenntnistheoretischen Position eines systemi-schen Konstruktivismus in Einklang steht. Die soziologische Systemtheorie8 soll dabei das

8 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass grundsätzlich von verschiedenen Strömungen der Systemtheorie aus-gegangen wird, die zusammengenommen ein „Netzwerk von Ideen, Vorstellungen und Begriffen“ darstellen (Simon, 2009, S. 7). Systemtheorie entspricht daher eher einem „Sammelbegriff für sehr verschiedene Bedeutungen und sehr verschiedene Analyseebenen. Das Wort referiert keinen eindeutigen Sinn“ (Luhmann, 1984, S. 15). In dieser Arbeit wird sich auf die neuere soziologische Systemtheorie nach Niklas Luhmann (Luhmann, 1984; Luhmann, 1997a; Luh-mann, 1997d) bezogen.

passende Beobachtungsinstrument darstellen. Entsprechend dem systemkonstruktivisti-schen Paradigma ermöglicht es die Systemtheorie Einzelgespräche zwisystemkonstruktivisti-schen Trainer und Athlet analytisch so zu durchdringen, dass sowohl die kognitiven als auch die sozialen Aspekte in ihren Beschreibungen und Erklärungen aufgegriffen und miteinander in Bezie-hung gesetzt werden können.

3.2 Soziologische Systemtheorie als Beobachtungsinstrument

Für die theoretische Analyse von sportwissenschaftlichen Problemstellungen formuliert Bette (1999, S. 63):

„Offensichtlich lässt sich das Handeln von Athleten, Trainern, Funktionären oder auch Sponsoren besser verstehen, wenn man es nicht allein auf individuelle Motive und Befindlichkeiten zurückführt, sondern Systemdynamiken, semantische Strukturen und operative Logiken in Rechnung stellt.“

Genau an diesem Punkt setzt die soziologische Systemtheorie an, indem sie die beobach-teten Objekte nicht aus ihren realen Zusammenhängen isoliert, sondern in Beziehung9 zu-einander setzt. Sie ist in der Lage soziale Vorgänge in ihrer Komplexität derart zu reduzie-ren, dass man sich ihnen analytisch nähern kann, ohne die tatsächlichen Abläufe übermäßig zu vereinfachen (vgl. Simon, 2009, S. 86f). Wenn man nun eine sportwissenschaftliche Problemstellung wie die Kommunikation zwischen Trainer und Athlet als komplexen, so-zialen Sachverhalt in der Realität beobachten will, muss man sich von einer alltagstheore-tischen Begriffswelt verabschieden und die gegenstandsangemessene Semantik der Sys-temtheorie aktivieren (vgl. Bette, 1999, S. 69). Mit Hilfe der spezifischen Prämissen und Begrifflichkeiten der Systemtheorie lassen sich dann neue Einsichten in die zentralen Prob-leme und Schwierigkeiten von Kommunikation gewinnen (vgl. Borggrefe, 2008, S. 33).

Zusammen mit einer erkenntnistheoretischen Grundposition, entsprechend dem systemi-schen Konstruktivismus, eröffnet die Systemtheorie nun erst die erforderliche systemische Denkweise10, um sich im nächsten Schritt der aufgeworfenen Problemstellung dieser Ar-beit angemessen nähern zu können.

9 In organisierten komplexen Systemen ist „eine beträchtliche Anzahl von Veränderlichen“ anzutreffen, die „in we-sentlichen Beziehungen zueinander stehen“ (Weaver, 1978, S. 44). „Die Elemente stehen untereinander „in einer selektiven Beziehung, sind voneinander mehr oder weniger wechselseitig abhängig. (…) Akteure, die in den unter-schiedlichsten Lebenswelten situiert sind, können nicht isoliert voneinander betrachtet werden, weil alles, wenn auch nicht Punkt für Punkt, miteinander zusammenhängt“ (Bette, 1999, S. 22).

10 An dieser Stelle ist es angebracht die Unterschiede einer systemischen Denk- und Erklärungsweise gegenüber einem Alltagsdenken westlicher Kulturen deutlich zu machen. Geradlinig-kausale Erklärungsmuster zu isolierten Objekten oder Phänomenen werden durch zirkuläre Erklärungen über Relationen der verschiedenen Emergenzstufen sozialer Systeme abgelöst, die sich aus der Systemtheorie ableiten lassen (Simon, 2009, S. 12). Die Grenzen des traditionellen Kausalitätsdenkens zeigen sich in stark vernetzten Systemen gerade „bei der Erklärung von Gleichzeitigkeiten und kausal nicht miteinander verbundenen Faktoren (...), die plötzlich koinzidieren und überraschende Wirkungen hervor-rufen (Bette, 1999, S. 23). Konsequenter Weise wird sich der weitere Verlauf und argumentativer Aufbau der Arbeit genau an diesem systemischen Denken ausrichten. Auf diese Weise werden auch systemtheoretische Begriffe und Zusammenhänge mitunter erst rückblickend mit befriedigender Tiefe in den zu betrachtenden sozialen Kontexten anwendbar.

Entsprechend dem allgemeinen Systembildungsprinzip der Selbstreferenz gibt es viele ver-schiedene Möglichkeiten, die Welt zu beobachten (vgl. Luhmann, 1997b, S. 20). Konse-quenter Weise wird an dieser Stelle nicht der Anspruch formuliert, mit der soziologischen Systemtheorie die einzig richtige oder beste Möglichkeit sportsoziologischer Beobach-tung11 gefunden zu haben. Jedoch ist die Systemtheorie eine Möglichkeit der Beobachtung zweiter Ordnung und damit ein kognitiv rückbezügliches oder selbstreferentielles Schema, um die Prozessdynamik der Systembildung von innen heraus zu erfassen. Eine Systemana-lyse entspricht demnach einer Systematisierung von Beobachtungen durch Repräsentatio-nen in Form von Modellen, die zu einer Bildung des Beobachtungssystems selbst führen (vgl. Jensen, 1999, S. 413).

Die neuere soziologische Systemtheorie ist in der aktuellen sportsoziologischen Theorie-debatte seit Beginn der 1980er Jahre die dominante Denkschule12. Hauptvertreter ihrer Einführung in die Sportsoziologie waren bisher Karl-Heinrich Bette, Klaus Cachay und später auch Ansgar Thiel. Sie wurden ergänzt von akteur-, spiel- und biografietheoreti-schen Einsichten durch Bette (1984) und Bette und Schimank (1995; 2006a; 2006b) und auch kommunikationstheoretische Überlegungen durch Borggrefe (2006; 2008; 2015;

2016a-d). Weitere Arbeiten befassen sich mit konkreten Problemlagen der Sportpraxis und versuchen mit Hilfe der Systemtheorie Aufklärungen und Handlungsgrundlagen bereitzu-stellen13 (Mayer, 2010; Ronglan, 2010; Ronglan & Havang, 2011; Schiermer, 2010; Thiel, 2002a).

„Wer die organisierte Komplexität des Sports und seiner diversen Modelle sowie das Zusammentref-fen biologischer, sozialer und psychischer Systeme vor dem Hintergrund funktional differenzierter Gesellschaften untersuchen will, hat (…) mit Problemen der Selbstbezüglichkeit, Synchronizität (…), Emergenz, Kontraproduktivität, Nichtlinearität und Rekursivität zu rechnen. Das Instrumentarium der neueren soziologischen Systemtheorie ist für eine analytische Erfassung dieser komplizierten Situa-tion entwickelt worden.“

(Bette, 1999, S. 24)

11 Über die Kritiker der Systemtheorie bei Miebach (2010, S. 273f und 311f).

12 Insgesamt lassen sich vier verschiedene Forschungsparadigma beschreiben. Neben dem oben erwähnten ist als zweites Paradigma die Soziologie Pierre Bourdieus zu nennen, insbesondere in Gestalt des Habituskonzepts und der Theorie sozialer Felder. Weiteren Einfluss auf die Sportsoziologie konnten auch die sog. Cultural Studies geltend machen. Und ein vierter Theorieansatz, der die Sportsoziologie seit Ende der sechziger Jahre prägt, ist die Zivilisati-ons- und Figurationstheorie von Norbert Elias und dessen Schülern (vgl. Bette, 2011, S. 231f). Die neuere soziologi-sche Systemtheorie zeichnet sich dabei durch ihre polyzentrisoziologi-sche Ausarbeitung mit einer hohen Binnenkomplexität aus. Ihre zentrale Leitunterscheidung ist die Differenz von System und Umwelt. Anhand derer der Systemtheoretiker die Realität beobachtet. Sie beschreibt die Selbstbezüglichkeit in einer Weise, so dass Umwelt nicht ausgeklammert wird, sondern als Rauschen entscheidend für die Reproduktion von Systemen ist. Individuelles und korporatives Han-deln in hochkomplexen Gesellschaften wird damit sowohl system- als auch umweltbedingt beschrieben. Gerade der organisierte Sport wird nicht von einer einheitlichen Umwelt beeinflusst, sondern sieht sich einer Umwelt mit ver-schiedenartigen und auch gegenläufigen Anspruchshaltungen ausgesetzt (vgl. Bette, 1999, S. 23ff).

13 Der Kern einer sozialwissenschaftlichen Analyse besteht gerade darin, nach den Grundlagen alltägliche Selbstver-ständlichkeiten zu fragen und mit Hilfe theoretischer Konzepte neu zu erklären. Dies steht konträr zur Funktionsweise von Alltagstheorien oder -wissen der Praktiker, unmittelbare Orientierung bei der Bewältigung von Praxisproblemen liefern zu können. Alltagstheorien werden erst nach Krisen, Niederlagen oder Misserfolgen hinterfragt und erweitert.

Sozialwissenschaftler versuchen dagegen bewusst verdeckte Mechanismen der sozialen Gefüge aufzudecken und bis-her nicht hinterfragte Wissensbestände aufzubrechen (vgl. Bette, 1999, S. 18).

Karl-Heinrich Bette fasst dazu ein Leistungspanorama14 der neueren soziologischen Sys-temtheorie zusammen, das die Stärken einer systemtheoretischen Beobachtungsweise be-schreibt und damit auch in der Lage ist, ihre Anwendung zu begründen. Er verdeutlicht,

„was sie an Leistung für die analytische Durchleuchtung der von ihr ausgesuchten Wirk-lichkeitsausschnitte erbringen kann“ (1999, S.61). Diese theoretische Leitungsfähigkeit der Systemtheorie nutzen die erwähnten sportwissenschaftlichen Arbeiten für ihre System-analysen, die einen systemtheoretischen Ansatz zur Bearbeitung ihrer Problemstellungen gewählt haben.

Die Systemtheorie interessiert nicht nur, was im Sport passiert. Es wird vor allem danach gefragt, wer die Sportwirklichkeit mit welchen Differenzen beobachtet, und wo die spezi-fischen blinden Flecken15 dieser Beobachtungen zu finden sind. Wie alle wissenschaftliche Erkenntnis kommt auch die Systemtheorie dabei nicht ohne die Weltsicht der direkt be-troffenen Akteure aus. Damit entsteht letztendlich das, was bereits als Beobachtung zwei-ter Ordnung beschrieben wurde; die Beobachtung von Beobachtungen. Dabei ermöglicht es das Abstraktionsniveau der Systemtheorie die sozialen Phänomene als theoretisch gleichwertige Zusammenhänge aufzufassen (vgl. Thiel, 2002a, S. 53).

Von wissenschaftlichem Interesse sind somit gerade auch Beobachter erster Ordnung, in ihrer Auseinandersetzung mit der Realität (vgl. Bette, 1999, S. 48). So rücken mit Bezug auf Einzelgespräche im Spitzensport die beiden beteiligten Akteuere, Trainer und Athlet, und ihre jeweilige Sicht auf die Dinge in den wissenschaftlichen Fokus und stellen eine wichtige Informationsquelle dar. Denn sie beobachten ihrerseits die Gesprächssituation und treffen aufgrund ihrer eigenen Differenzen Entscheidungen, die Einfluss auf den Ge-sprächsverlauf haben. D.h., sie treffen Entscheidungen aufgrund einer individuellen Ver-gangenheit und Gegenwart über zukünftige Kommunikationen bzw. Handlungen im Ge-spräch. So komplettieren individuelle Wahrnehmungen, Begründungen und Erwartungen letztendlich das, was als sozialer Austausch zwischen den beiden Akteuren zu beobachten ist. Ohne diese Zusatzinformationen könnte die soziologische Systemtheorie die beobach-teten Phänomene nur einseitig beschreiben und eingeschränkt erklären.

Ein systemtheoretisch Beobachtender16 erster oder höherer Ordnung kann jedoch nicht ei-nen kommunizierenden Menschen beobachten17; er kann immer nur kommunikative Hand-lung beobachten. Ausschlaggebend für dieses Verständnis ist, dass Luhmann sein Theo-riegebäude auf einer Unterscheidung zwischen System und Umwelt begründet (1984;

14 Hierzu ausführlich bei Bette (1999, S. 61ff).

15 „Der Hinweis, dass jede Beobachtung notwendigerweise mit blinden Flecken ausgerüstet ist, damit sie überhaupt funktionieren und Informationen gewinnen kann, und nur externe Beobachter diese blinden Flecken anhand einer anderen Differenz beobachten können, eröffnet für die sozialwissenschaftlichen Disziplinen der Sportwissenschaft ein neues und weites Betätigungsfeld, nämlich sich selbst und andere wissenschaftliche Beobachter zu beobachten“

(Bette, 1999, S. 48).

16 Einem Beobachter ist es prinzipiell freigestellt, wie er die Welt, die er beobachtet, ordnen möchte (vgl. Luhmann, 2009, S. 258). Beobachtung entsprechend einer wissenschaftlichen Theorie impliziert jedoch eine Ordnung, an die

16 Einem Beobachter ist es prinzipiell freigestellt, wie er die Welt, die er beobachtet, ordnen möchte (vgl. Luhmann, 2009, S. 258). Beobachtung entsprechend einer wissenschaftlichen Theorie impliziert jedoch eine Ordnung, an die