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8. Schutz »im Großen«: Strafverfolgung und Transnationalität

8.4. Extraterritoriale Strafverfolgung

8.4.2. Kompetenzkonflikte

Besteht zu mehreren Staaten ein genuine link, so führt dies nahezu zwangsläufig zu Kompetenzkonflikten: Welche Rechtsordnung ist zur Entscheidung darüber berufen, ob strafbares Verhalten vorliegt? Welche Rechtsordnung ist zur Strafverfolgung berufen oder gar verpflichtet? Drei verschiedene Arten von Kompetenzkonflikten lassen sich dabei differenzieren:

• Das Strafrecht von mindestens zwei Staaten ist anwendbar, daher schicken sich zwei oder mehr Staaten an, einen Beschuldigten strafrechtlich zu verfolgen (positiver Kompetenzkonflikt).

• Das Strafrecht von mindestens zwei Staaten ist anwendbar, keiner dieser Staaten möchte jedoch die Strafverfolgung übernehmen (negativer Kompetenzkonflikt).

• Das Recht zweier oder mehrerer Staaten ist anwendbar. Während ein Staat einen Sachverhalt einer Strafnorm unterwirft und den Verstoß auch verfolgen möchte, ist derselbe Sachverhalt im anderen Staat straflos, verfassungsrechtlich geschützt oder sogar rechtlich geboten (hier alsDivergenzkonfliktbezeichnet).

1 Als Ausnahme sei zugestanden, wenn sich einprimärzuständiges Kriminaljustizsystem als unfähig oder unwillig erwiesen hat, eine Strafverfolgung durchzuführen, vgl. Art. 17 Abs. 1 lit. a Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs.

Positive Kompetenzkonflikte

Führt ein positiver Kompetenzkonflikt zu einer gleichzeitigen oder nacheinander erfol-genden Doppelverfolgungen durch zwei oder mehr Staaten, so ist dies eine für den Beschuldigten überaus belastende Situation: Erstens muss er sich mehrfach gegen den-selben Vorwurf zur Wehr setzen; nationale Verbote der Doppelbestrafung (ne bis in idem, Art. 103 Abs. 3 GG) stehen dem nicht entgegen. Zweitens stehen den Ermitt-lungsbehörden die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten mehrerer Kriminaljustizsysteme offen, die sich auch zu Lasten des Beschuldigten und auch zu Lasten Drittbetroffener miteinander kombinieren lassen (forum shopping): Die Strafverfolger wählen für die jeweilige Ermittlungsmaßnahme die Rechtsordnung, welche diese im weitesten Umfang zulässt, und wählen sodann für die Anklageerhebung diejenige Rechtsordnung, welche die Beweisverwertung im weitesten Umfang zulässt. So lässt sich ein austariertes System an Beschuldigten- und Verteidigungsrechten ohne Weiteres umgehen. Drittens setzt sich die härtere der ausgeurteilten Strafen durch: Es wird auf die in Deutschland ausgeurteilte Strafe die bereits vorher verbüßte ausländische Strafe angerechnet (§ 51 Abs. 3 StGB), wenn aber die deutsche Strafe härter ist als die ausländische Strafe, so hat der Verurteilte die Strafdifferenz noch zu verbüßen.

Positive Kompetenzkonflikte sind allerdings auch für die beteiligten Staaten wenig zweck-dienlich: Zur Schonung der begrenzten Ressourcen der Kriminaljustizsysteme ist allein aus Effizienzgesichtspunkten grundsätzlich darauf hinzuwirken, dass nur ein Staat die Strafverfolgung durchführt.

Zur Lösung positiver Kompetenzkonflikte werden innerhalb der Europäischen Union – und weniger weiterer Staaten – zwei Ansätze verfolgt: Erstens wurde durch Art. 54 Schen-gener Durchführungsübereinkommen ein europäisch-transnationaler Strafklageverbrauch eingeführt, der inzwischen auch justizgrundrechtlich in Art. 50 Charta der Grundrechte der Europäischen Union abgesichert ist (Burchard & Brodowski, 2010). Eine Verurteilung innerhalb der Europäischen Union und der weiteren Staaten des Schengenraums sperrt daher eine weitere parallele oder sequenzielle Strafverfolgung wegen derselben Tat. Bis zu einer ersten Verurteilung sind parallele Ermittlungs- und Strafverfahren jedoch nicht gesperrt, so dass das Problem desforum shoppingverbleibt.

Zweitens wurde institutionell durch Eurojust und regulatorisch durch einen Rahmen-beschluss zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren (AblEU 2009 L 328 vom 15.12.2009, S. 42) ein Mechanismus geschaffen, Parallelver-fahren in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu vermeiden. Die jeweils betroffenen Mitgliedstaaten sollen hierzu untereinander klären, welcher Staat die Straf-verfolgung durchführen solle. Die Rechtswissenschaft kritisiert daran zu recht, dass es sich weder um eine gerichtlich überprüfbare, justiziable Lösung noch um eine wirkliche Vermeidung von Doppelverfolgungen und desforum shoppinghandele.

Negative Kompetenzkonflikte

Laut informellen Angaben der Strafverfolgungsbehörden soll das praxisrelevantere Pro-blem allerdings darin liegen, dass sich zwei an sich zur Strafverfolgung berufene Staaten jeweils mit einem eigenen Ermittlungs- bzw. Strafverfahren zurückhalten unter dem Hin-weis darauf, dass der andere Staat diese Strafverfolgung vornehmen könne und auch solle.

Die Gründe hiervon sind mannigfaltig und reichen von der individuellen Arbeitsersparnis bis hin zu auch politisch sensiblen Fällen, mit denen keiner der beiden betroffenen Staaten befasst sein möchte.

Erneut ist auf die Lösungsansätze in der Europäischen Union zu verweisen, die über Eurojust und die Konsultationspflichten des Rahmenbeschlusses zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten explizit auch der Vermeidung negativer Kompetenz-konflikte dienen. Rein national ist auf das Legalitätsprinzip und die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Aufnahme von Ermittlungen betreffend aller verfolgbaren in- und ausländischen Straftaten hinzuweisen.

Divergenzkonflikte

Auf den wohl bekanntesten Fall eines Divergenzkonflikts wurde bereits zuvor hingewie-sen: Ein Australier wurde in Deutschland wegen Volksverhetzung bestraft, obschon er allein in Australien unter Zuhilfenahme australischer Internet-Dienstleister gehandelt hatte, und obwohl seine Äußerungshandlung zum damaligen Zeitpunkt in Australien nicht nur straflos war, sondern deren Straflosigkeit auch durch australisches Verfassungsrecht garantiert wurde.

Mag man dieses Ergebnis bei einer Volksverhetzung – auch angesichts der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands – auch billigen, doch stellen sich eine Vielzahl von Folgeproblemen, die freilich bislang noch keine praktische Relevanz erlangten: Ein Lehrbuchbeispiel handelt etwa davon, dass die Werbung für alkoholische Getränke in einem islamisch geprägten Land strafbar sei – und nun ein deutscher Bierbrauer, der für seine Produkte im Internet wirbt, sich auf Urlaubsreise in dieses Land begebe. Fischer (2011, § 9 Rdn. 8a) weist zutreffenderweise darauf hin, »dass Pornographie keinen, Hetze gegen australische Juden . . . einen ‚besonderen’ Bezug zu Deutschland hat . . . , mag hier mit guten Gründen so gesehen werden, könnte dem australischen Neonazi in Australien aber ebenso einerlei sein wie zB dem deutschen Erotikfreund die Ansichten arabischer Fachleute für Sittlichkeit«.

Manches deutet darauf hin, dass drei erhebliche, auch wirtschaftlich und politisch bedeut-same Divergenzkonflikte bereits bald Kopfschmerzen bereiten werden:

• Erstens bezüglich der Legalisierung und strafrechtlichen Ahndung von Glücksspiel im Internet (s. bereits Spindler, 2004),

• zweitens zwischen einerseits Wirtschaftsregulierung und den damit verbundenen Offenlegungspflichten, insbesondere im angloamerikanischen Raum, und anderer-seits dem deutschen und kontinentaleuropäischen Verständnis des Datenschutzes, sowie

• drittens zwischen staatlichem und betrieblichem Geheimnisschutz und Presse-, Meinungs- und Informationsvermittlungsfreiheit (etwa bei WikiLeaks).

Aus völkerrechtlicher Sicht ist diesbezüglich festzuhalten, dass eine extra-territoriale Anwendung von Strafrecht bislang geduldet wird, wenn erstens ein legitimer völker-rechtlicher Anknüpfungspunkt besteht und zweitens die Exterritorialität von bestimmten Hoheitsträgern wie Botschaftern gewahrt bleibt (vgl. §§ 18–20 GVG in Deutschland).

Allerdings stellt sich bei einem Divergenzkonflikt regelmäßig das faktische Problem, dass sich der mutmaßliche Täter in dem Land aufhält, in dem das relevante Verhalten straflos ist. Das klassische Rechtshilferecht beschränkt die Auslieferung jedoch durch das Erfordernis, dass die Tat in beiden Staaten strafbar sein muss – dies führt zu einer gewis-sen Vorhersehbarkeit einer strafrechtlichen Ahndung. Moderne Rechtshilfeinstrumente, insbesondere innerhalb der Europäischen Union, verzichten aber weitgehend auf dieses Kriterium. Hieraus erklärt sich eine Literaturauffassung, die bei Internetsachverhalten grundsätzlich eine beiderseitige Strafbarkeit am Handlungs- und Erfolgsort verlangt, damit eine Straftat verfolgt werden kann.

In gewissem Maße zur Lösung von Divergenzkonflikten nützlich sind erstens die bereits angesprochenen nationalen Reduktionsansätze des Strafanwendungsrechts. Allerdings ist eine Eindämmung der extraterritorialen Anwendung des Strafrechts politisch we-nig erfolgversprechend. Zweitens liefert ein »strafrechtliches Herkunftslandprinzip«

einen interessanten Ansatz (s. hierzu Kudlich, 2004; Dannecker, 2005, S. 714 ff.): Die Rechtmäßigkeit von Daten, von Internet-Auftritten usw. solle sich danach beurteilen, in welchem Staat sie eingegeben wurden. Sodann wäre das in Australien verfügbar ge-machte volksverhetzende Material – angesichts der damaligen Rechtslage in Australien – weltweit geschützt und eine Strafverfolgung in Deutschland unzulässig gewesen.

Ein solches Herkunftslandprinzip setzt allerdings ein weit reichendes Vertrauen in eine ausländische Rechtsordnung voraus, dass diese erheblich sozialschädliche Verhaltenswei-sen auch dann unter Strafe stellt, wenn die schädlichen Wirkungen im Ausland eintreten.

Ein solches Vertrauen – unter Umständen untermauert durch eine Harmonisierung des materiellen Strafrechts – ist aber zugleich Grundlage europäischer Instrumente betreffend die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. In diesem europäischen Rahmen erscheint daher ein Herkunftslandprinzip auch für Daten und Internet-Angebote ein diskutabler Ansatz.

Über die Stärkung gegenseitigen Vertrauens kann eine Harmonisierung des materiellen Strafrechts sich als nützlich erweisen, um einen gemeinsamen Mindeststandard zu

defi-nieren, bei dessen Verletzung man überall mit Strafverfolgung zu rechnen hat (vgl. hierzu bereits oben 8.3., S. 156).

Darüber hinausgehend ist es aber auch dringend geboten, einen gemeinsamen Mindest-standard zu definieren, innerhalb dessen Rahmen man sich überall auf die Straflosigkeit seines Verhaltens verlassen kann (safe harbours). Ob es ausreicht, diesen Mindeststandard straflosen Verhaltens allein aus den internationalen Grundrechtskatalogen zu erschließen, erscheint dabei zweifelhaft: Diese eröffnen einen weiten Wertungs- und Beurteilungs-spielraum und weite Schrankenbestimmungen, sind nur unzureichend an die Herausforde-rungen einer modernen Kommunikationsgesellschaft angepasst, und taugen eher für eine ex post-Beurteilung, ob eine strafrechtliche Verurteilung menschenrechtswidrig war. Dies zeigt, dass explizite, international Gültigkeit erlangendesafe harbour-Bestimmungen sich nicht länger auf so exotische Rechtsgebiete wie das Wertpapierhandelsrecht beschränken sollten (vgl. dort § 14 Abs. 2 WpHG), sondern etwa auch für den Journalismus, für die IT-Sicherheitsforschung und für die Informationsfreiheit formuliert werden müssen.