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4. Cyberkriminalität: Verfassungsrecht, Regelungsmodelle und Alternativen

4.2. Verfassungsrechtliche Grenzen für das materielle Computerstrafrecht

4.2.2. Verhältnismäßigkeit und weitere prinzipielle Begrenzungen

hier an Stelle staatlicher Regulierung treten, und so staatliche Einflussnahme in weiten Teilen entbehrlich machen. Zweitens – und bedeutender – reicht heutzutage eine Bewer-tung, ob die Pönalisierung eines konkreten Verhaltens oder eine konkrete strafprozessuale Ermittlungsmaßnahme verhältnismäßig ist, nicht länger aus. Erforderlich ist vielmehr auch eine Bewertung, welche legitime Verhaltensweisen durch eine solche Strafdrohung, oder auch nur durch das Gefühl einer (vollständigen) Überwachung zurückgedrängt werden, und damit zu übertriebener Konformität führen (Panoptismus, Foucault, 1994).

Schließlich: Das grundlegende Prinzip der Verhältnismäßigkeit gebietet es bereits, grund-sätzlich nach milderen Alternativen zum Strafrecht zu suchen. Strafrecht ist daher nach wie vor – aber eben nur grundsätzlich und nicht in jedem Falle –ultima ratio.3 Das gesteigerte Bewusstsein für die Schärfe des staatlichen Eingriffs, für die Notwendigkeit verfahrensrechtlicher Garantien, und für die verhaltenssteuernden Auswirkungen in der jeweiligen Gesellschaft erfordert zudem einen erhöhten argumentativen Aufwand für den Einsatz des Strafrechts als Regulierungsmittel, anstatt wie bisher – und oftmals zu apodiktisch – dessen Unerlässlichkeit zur Verhinderung sozialschädlichen Verhaltens zu postulieren (s. auch Katz, 2002; Završnik, 2010).

um ein Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme anreicherte (BVerfGE 120, 274).

Verhältnismäßigkeit, Schuldprinzip, Gleichbehandlungsgrundsatz

Über den verschiedenen, speziellen Grundrechte dominiert im europäischen Rechtsraum das Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Ellis, 1999; Klip, 2009, S. 163, 298 f.). Zwar kann man den Einsatz des Strafrechts – auch zur bloßen Verhaltensregulierung – für legitim erachten und im Vergleich zu anderen Regelungsmodellen auch weithin für erforderlich halten. Da jedoch der Einsatz des Strafrecht auch geeignet sein muss, einen (besseren) Schutz zu gewährleisten, bestehen erstens Bedenken gegen den bloß symbolischen Einsatz des Strafrechts (W. Hassemer, 2001), zweitens aber auch gegen eine auf den Strafrahmen fixierte Betrachtungsweise: Entscheidend für die verhaltenssteuernde und präventive Wirkung des Strafrechts ist nämlich mitnichten die abstrakte Strafdrohung (Robinson &

Harley, 2003), sondern die von potentiellen Tätern wahrgenommene Wahrscheinlichkeit, zukünftig irgendeiner Strafverfolgung ausgesetzt zu sein (Kshetri, 2006).

Ebenfalls europäisch anerkannt ist das Schuldprinzip, demzufolge eine Strafe nur ver-hängt werden kann, wenn ein Verhalten dem Täter persönlich vorzuwerfen ist, da er sich nicht für eine (straffreie) Verhaltensalternative entschieden hat (vgl. Ratsdok. 16542/09).

So wäre eine Strafnorm unzulässig, die allein darauf abstellte, ob eine Person eine Internetseite mit kinderpornographischem Inhalt betrachtet, selbst wenn diese Person eine solche Seite weder aufrufen wollte noch wusste (Vorsatz) oder damit rechnen musste (Fahrlässigkeit), dass er auf eine entsprechende Internetseite gelangt. Für eine solche so genanntestrict liability, also allein objektiv begründete Strafdrohung, die auf Vorsatz-oder Fahrlässigkeitserfordernisse verzichtet, ist im deutschen und auch im europäischen Strafrecht kein Platz.

Noch wenig geklärt ist, ob dem Gleichbehandlungsgrundsatz eine beschränkende Wir-kung für das materielle Strafrecht zukommt. Jedenfalls in krassen Fällen, in denen eine Strafdrohung nur höchst zufällig und damit ungleich durchgesetzt werden kann, ist dies zu diskutieren (vgl. BVerfGE 110, 94: nur normative Ineffektivität); ansonsten dürfte dies jedenfalls als ein die Eignung des Strafrechts reduzierender Abwägungsfaktor bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen sein.

Einzelne Grundrechte

Aus speziellen Grundrechten ergeben sich weitere Vorgaben für das materielle (Compu-ter-)Strafrecht. Von zentraler Bedeutung sind insoweit die in Art. 5 GG gewährleisteten Kommunikationsgrundrechte, aber auch das Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.

Die Kommunikationsgrundrechte schützen nach deutschem Verständnis zunächst nur Meinungsäußerungen. Tatsachenbehauptungen sind nur als Annex hierzu, also weitaus

schwächer verfassungsrechtlich geschützt. Daher kann die Verbreitung von wahren und unwahren Tatsachen in größerem Maße reguliert werden als die Verbreitung von Meinun-gen. Hieraus ergeben sich international Spannungen, soweit sich Akteure im Internet auf das angloamerikanische, weitergehende und grundsätzlich auch Tatsachenbehauptungen erfassende Grundrecht desfreedom of speechstützen (s. hierzu unten 8.4.2., S. 167).

Zweitens ist festzuhalten, dass sich die Medienfreiheit auch auf neuartige Medien wie Internetradios, Nachrichtenportale oder Videocasts erstreckt. Im Internet ist dabei der Übergang von einer privaten Meinungsäußerung hin zu einem an die Allgemeinheit gerichteten Angebot fließend: Was gestern noch ein privates Blog war, kann morgen ein umfänglich beachtetes und verlinktes Blog werden, um übermorgen wieder in der Bedeutungslosigkeit zu entschwinden. Dies ist eine der Chancen des Internets, welche eine Unterdrückung missliebiger Meinungsäußerungen erschwert – zugleich aber auch ein Risiko für diejenigen, die durch solche Äußerungen unbillig betroffen werden.

Auch das Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (Hoffmann-Riem, 2008) zeigt Grenzen für das Strafrecht auf: So ist dieses Grundrecht zu berücksichtigen in Diskussionen, die Verschlüsselung von Daten einzuschränken (»obligatorische Entschlüsselungstechnologien« diskutiert etwa Werthebach et al., 2010, S. 131), oder auch bei staatlichen Zugriffen auf Datenbanken, etwa im Rahmen automati-sierter Auskunftsverfahren (§ 112 TKG sowie Zugriff auf Fluggastdatensätze), die durch flankierende Ordnungswidrigkeiten- oder Strafbestimmungen gewährleistet werden (vgl.

§ 149 Abs. 1 Nr. 31, Nr. 32 TKG).

Fazit

Da die genannten Grundrechte jedoch nicht schrankenlos gewährleistet werden, verbleibt ein erheblicher Spielraum für den demokratisch legitimierten Gesetzgeber, zur direkten oder indirekten Verfolgung sozialschädlicher Verhaltensweisen auf das Strafrecht zurück-zugreifen. Dieser Beurteilungsspielraum überträgt dem Gesetzgeber allerdings zugleich eine Verantwortung, nicht sämtliche Grenzen des verfassungsrechtlich Möglichen auszu-schöpfen und so auch bewusste Entscheidungen hin zur Freiheit zu treffen. Dies ist nicht nur geboten aus Effizienzgesichtspunkten, da der Einsatz des Strafrechts kostspielig ist.

Vielmehr ist es die freiheitliche Grundordnung als solche, die nicht durch übermäßige Re-gulierung angegriffen werden darf, da die Grenze eines solchen schleichenden Prozesses nicht feststellbar ist. Daher ist stets zu erwägen, auf andere, mildere Regulierungsmittel zurückzugreifen, und jedenfalls bei nicht schwerwiegenden, marginalen Beeinträchtigun-gen zu erwäBeeinträchtigun-gen, diese bisweilen auch schlicht hinzunehmen – zur Sicherung des hohen Gutes der Freiheit.

Andererseits ist inzwischen anerkannt, dass die Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte gegenüber dem Staat wirken, sondern zugleich auch als Schutzpflichten des Staates ge-genüber Beeinträchtigungen durch Dritte verstanden werden können. Hieraus können

in besonderen Fällen sogar Pflichten des Staates entstehen, bestimmte Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen (so etwa Schwangerschaftsabbrüche, § 218a StGB, vgl. BVerf-GE 88, 203). Daher erscheint es wenigstens diskutabel, eine Schutzpflicht des Staates auch gegenüber Angriffen auf den Datenschutz oder die Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme zu konstruieren. Da entsprechende Strafnormen jedoch existieren, erübrigt sich eine vertiefte Diskussion über diese Frage.

4.3. Ein Wettbewerb der Regelungsmodelle des Zivilrechts, des Polizei- und Ordnungsrechts sowie des Strafrechts

Nachdem soeben dargelegt wurde, wann der Einsatz des (Computer-)Strafrechts ver-fassungsrechtlich möglich ist und ebenfalls darauf hingewiesen wurde, dass zunächst die Frage zu stellen ist, ob eine Verhaltensweise überhaupt reguliert werden soll, gilt es nunmehr einen Überblick darüber zu geben, wann der Einsatz auch sinnvoll ist, und wann es sinnvoller ist, auf andere Regelungsmechanismen zurückzugreifen. Knapp vorgestellt werden hierzu erstens das Zivilrecht, also das Recht zwischen gleichrangigen natürlichen und juristischen Personen, wie es aus dem Vertragsrecht und dem Schadensersatzrecht auch allgemein bekannt ist, zweitens das Polizei- und Ordnungsrecht, das vom Gedanken der präventiven Gefahrenabwehr dominiert wird, und drittens das Ordnungswidrigkeiten-oder Bußgeldrecht als Zwischenstufe zwischen Ordnungsrecht und Strafrecht. Dabei wer-den exemplarische Vor- und Nachteile der jeweiligen Regelungsmodelle zur Regulierung von Cyberkriminalität aufgezeigt.