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3 Theoretische Grundlagen der Hypothesen

3.3 Kollektives Handeln

Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens des Dilemmas ist dabei eine Funktion der Grup-pengröße (Größen-Hypothese). Olson (1992, S. 48f.) unterscheidet dabei drei Arten von Gruppen:

• Privilegierte Gruppen: Jedes Mitglied dieser Gruppe ist grundsätzlich bereit, das Kollektivgut auch auf eigene Kosten bereitzustellen.

• Mittelgroße Gruppen: In dieser Gruppe erhält kein einzelner einen genügend großen Anteil am Gewinn, um das Kollektivgut auf eigene Kosten bereitzustellen.

Gleichzeitig bleibt es jedoch nicht unbemerkt, ob ein Mitglied zur Bereitstellung des Kollektivguts beiträgt oder nicht.

• Latente Gruppen: Im Gegensatz zur mittelgroßen Gruppe ist hier kein Mitglied fühlbar betroffen, wenn irgendein Mitglied zur Bereitstellung eines Kollektivgu-tes beiträgt oder nicht.

Während in privilegierten Gruppen das Kollektivgut eigentlich immer bereitgestellt wird, ist dies bei mittelgroßen Gruppen nur durch geeignete Gruppenorganisation zu erwarten. In latenten Gruppen fehlen die Anreize, das Kollektivgut bereitzustellen.

Daher ist in gesellschaftlichen Situationen, wo große auf kleine Gruppen treffen, zu er-warten, dass kleine Gruppen große ausbeuten. Die kleinen Gruppen nutzen dabei aus, dass sie sich schnell organisieren und ihre Interessen bündeln können, während mittel-große Gruppen zunächst eine geeignete Gruppenorganisation bereitstellen müssen. Da in großen, also latenten Gruppen, die Anreize fehlen, ein Kollektivgut bereitzustellen, können diese sich nicht gegenüber privilegierten Gruppen durchsetzen. Das Kollektivgut wird nicht bereitgestellt – und sei es nur die Durchsetzung gegenüber der kleinen Grup-pe. Somit wird ‚das Feld der kleinen Gruppe überlassen’, da den einzelnen Mitgliedern der Anreiz fehlt, sich für die Gruppe ‚zu opfern’. (Vgl. Olson, 1992, S. 3, 28 und 34).

Mittelgroße und latente Gruppen können dabei nur durch selektive Anreize in Form von Zwang oder Belohnung mobilisiert werden (Zwang-Hypothese). Zwang weist dabei Vor-teile auf und wird „als Strafe definiert, die eine Person auf eine niedrigere Indifferenz-kurve als die versetzt, auf der sie sich befinden würde, wenn sie ihren Anteil an den Kos-ten des Kollektivgutes ohne Zwang bezahlt hätte.“ (Olson, 1992, S. 50)

Die Relevanz von Olsons Logik für kollektives Handeln für die Corporate Governance

Es zeigt sich, dass eine mögliche Wirkung der Corporate Governance – und damit die Bereitstellung des Kollektivgutes – sowohl von der Größe der Gruppe als auch ihrer Struktur abhängen kann.

Betrachten wir zunächst einmal die Dilemma-Hypothese: Hierbei spielt es zunächst kei-ne Rolle, ob eikei-ne gute Corporate Governance für Unterkei-nehmen von Vorteil ist oder nicht.

Das Ziel des DCGK ist nämlich etwas enger gefasst. Es besagt, das Vertrauen internatio-naler und natiointernatio-naler Anleger, Kunden, Mitarbeiter und der Öffentlichkeit in die Leitung und Überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften zu fördern (vgl.

Regierungskommission DCGK, 2010, S. 1). Damit ist das Kollektivgut eindeutig benannt:

gesteigertes Vertrauen der Anleger in deutsche börsennotierte Gesellschaften. Je kleiner die jeweilige Gruppe der deutschen börsennotierten Gesellschaften ist, desto höher die Chance, dass das Kollektivgut bereitgestellt wird (Größen-Hypothese). So könnten zum Beispiel die Unternehmen, die im DAX 30 notiert sind, eine Gruppe darstellen. Hierbei handelt es sich um die 30 größten42 und umsatzstärksten43 Unternehmen – eine Gruppe, bei der jedes Unternehmen allein schon aufgrund seiner Größe bereit wäre, das Kollek-tivgut bereitzustellen und die klein genug ist, sodass es auffällt, wenn ein Unternehmen nicht dazu beiträgt. Da das Kollektivgut aber alle deutschen börsennotierten Gesell-schaften betreffen soll, handelt es sich hierbei um eine latente Gruppe. Eine Möglichkeit, ein Kollektivgut auch in einer latenten Gruppe bereitzustellen, ist durch einen selektiven Anreiz, unter anderem in Form von Zwang. Einen solchen Zwang stellt zum Beispiel ein Gesetz zur besseren Corporate Governance dar.

Kritische Masse des kollektiven Handelns

Damit die Befolgung der freiwilligen Corporate Governance-Verpflichtungen zu einem Reputationsgewinn in den Augen nationaler und internationaler Anleger führt und so-mit ein Kollektivgut wird, muss eine ‚kritische Masse’ an Unternehmen den DCGK

42 Free Float-Marktkapitalisierung zu einem bestimmten Stichtag (letzter Handelstag im Monat)

43 Orderbuchumsatz in Xetra und am Parkett Frankfurt (in den vorangegangenen zwölf Mona-ten)

sprechend befolgen. Der Begriff der ‚kritischen Masse’44 kommt dabei ursprünglich aus dem Gebiet der Kernphysik und bezeichnet dort die Menge eines spaltbaren Materials, ab der eine Kettenreaktion einsetzt und sich der Prozess der Kernspaltung aus sich selbst heraus erhält (vgl. Handbuch Naturwissenschaften, 2005, S. 145f). Übertragen auf kollektives Handeln bedeutet dies nach Schelling (1978, S. 91ff.), dass das Verhalten von Akteuren davon abhängen kann, wie viele andere sich auf eine bestimmte Art verhalten bzw. wie stark sie dies tun. Dabei kann der Auslöser die tatsächliche Anzahl z. B. von Teilnehmern sein, der Effekt einer bestimmten Anzahl (z. B. wenn eine genügend große Gruppe sich auf eine bestimmte Art verhält, fällt das eigene Handeln in der gleichen Art nicht mehr auf) oder die Häufigkeit der Interaktion (so kann z. B. fehlende Größe einer Gruppe durch häufige Interaktion mit anderen Akteuren ausgeglichen werden) sein.

Oftmals reicht auch schon die Erwartung über die zuvor genannten Auslöser aus, eine entsprechende Reaktion hervorzurufen.

Im Gegensatz zur Kernphysik kann dabei der Schwellenwert bei ‚sozialen Reaktionen’

von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein. Auch können die ‚sozialen Reaktionen’ un-terschiedlicher Natur sein: Sie können regelmäßig und umkehrbar sein, irreversibel, die Intensität und Frequenz einer Handlung beeinflussen oder eine Auswahl verschiedener Alternativen bzw. Binärentscheidungen sein. Dabei sagen die Beobachtungen zur kriti-schen Masse zunächst nichts darüber aus, welches Resultat wünkriti-schenswert ist. Es wird zunächst nur festgestellt, ob es einen Grenzwert gibt und wo dieser liegen kann.

Auch muss eine Reaktion nicht erfolgreich sein, nur weil sie ausgelöst wurde. So kann z.

B. das Vertrauen der Investoren in eine bestimmte Branche zwar aus sich selbst heraus ansteigen, sobald genügend Unternehmen sich guter Corporate Governance verschrei-ben. Ob sich dadurch z. B. auch die Nachfrage nach Aktien dieser Branche erhöht, ist nicht automatisch gewährleistet.

44‚Kritische Masse’ ist sowohl in der Kernphysik als auch im weiteren Verlauf dieses Kapitel exemplarisch für ‚kritische Masse’, ‚kritische Dichte’, kritisches Verhältnis’ usw. zu verstehen.

Grundsätzlich geht es darum, dass ein bestimmter Schwellenwert überschritten wird.

Die Relevanz des Modells der kritischen Masse von Schelling für die Corporate Governance Unter Berücksichtigung der Theorie der kritischen Masse kann also der Außeneffekt von Corporate Governance im Allgemeinen und des DCGK im Speziellen, das Vertrauen in-ternationaler und nationaler Anleger, Kunden, Mitarbeiter und der Öffentlichkeit in die Leitung und Überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften zu fördern, und damit auch die Bereitstellung dieses Kollektivgutes davon abhängen, wie viele Unter-nehmen einer Gruppe sich einer guten Corporate Governance verschreiben und es ent-sprechend kommunizieren. Hat sich eine gewisse Anzahl an Unternehmen einer Gruppe (privilegierte, mittelgroße oder latent) dazu entschieden, sich guter Corporate Gover-nance zu verschreiben und dies auch entsprechend zu kommunizieren, steigert sich das Vertrauen der Anleger in diese Gruppe und alle profitieren davon. Gleiches gilt aber auch umgekehrt: So kann es sein, dass schlechtere Corporate Governance nicht unbe-dingt seitens der Anleger abgestraft wird, solange die durchschnittliche Corporate Governance der entsprechenden Gruppe keine bestimmte Güte erreicht. Erst wenn das Corporate Governance-Niveau der Gruppe entsprechend hoch ist, fällt die schlechtere Corporate Governance einzelner Unternehmen ins Gewicht und wird entsprechend be-straft.