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RALF KOKEMÜLLER, CEO UND PRODUCER MEHR-BB-ENTERTAINMENT, SOWIE MARTIN FLOHR, EXECUTIVE PRODUCER UND KONZEPT

Das Interview wurde im Rahmen der Auditions für die zweite Gastspielserie im Juni 2021 in Köln geführt

nicht genau, wie BERLIN BERLIN konkret aussehen soll. Jetzt bauen wir auf den Erfahrungen der letzten Pro-duktion auf. Wir wollen sie auch nicht jedes Jahr 1:1 spielen. Es sollen eher aktuelle Anlässe und aktuelle Text-zeilen eingearbeitet werden – wir tauchen immer tiefer in die Materie ein. Zudem beeinflusst auch jede Cast, die wir zusammenstellen, die Show. Ob man zum Beispiel einen warmherzigen Conférencier einsetzt, oder einen schmierig-charmanten Trickbetrüger. Die Weltpremiere hat uns generell bereits gezeigt, dass BERLIN BERLIN funktioniert. Jetzt geht es darum, die Show zu verfeinern.

Flohr: Das Schöne ist, dass sich alles immer mehr verdichtet und verzahnt. Wir finden immer mehr Geschich-ten zu den Liedern, die wir mit einbauen können. Das macht es für uns sehr spannend. Dabei können wir nur maximal fünf bis zehn Prozent all dieser Geschichten erzählen. Es gibt da noch so viel mehr: Kunstseitig, zum Beispiel in der Malerei, aber auch im Bereich der technologischen Entwicklung. Und: Die Freude beim Produk-tionsteam von BERLIN BERLIN ist ungebrochen. Als wir sagten, dass es wieder losgeht, waren alle Feuer und Flamme. Wir arbeiten immer weiter an der Show. Parallel zur Musik, den Charakteren und ihren Geschichten aus der Zeit haben wir mit Charleston, Lindy Hop, Tango, Foxtrott und Swing jetzt auch alle Tanzstile der 1920er auf der Bühne. Wir legen nochmal einen großen Fokus darauf, alles so erlebbar zu machen, wie es damals stattge-funden hat! Auch optisch wird alles überarbeitet: An der Bühne werden noch neue Effekte eingebaut, das Licht-design wird geändert. Die Kostüme schauen wir uns noch einmal an und sind mit allen Kreativen im Austausch.

Wir wollen es in diesem Jahr insgesamt noch ein bisschen runder machen.

Warum stecken Sie so viele Mühen in das Casting und Neuerungen in der Show?

Kokemüller: Das Casting ist das A und O jeder Show. Wir brauchen richtige Charaktere, auch den ein oder ande-ren schrägen Vogel. Das macht die Authentizität aus. Für uns als Produzent und Ausfühande-renden ist es interessan-ter, wenn wir mit der Haltung herangehen, dass diese Show nie stillstehen wird. Sie ist unser Baby, welches wir jedes Jahr pflegen und hegen müssen, damit wir zusehen können, wie es gedeiht.

Biermeier: Es ist uns auch immer wichtig, dass wir nicht ausschließlich aus der Zeit von 1920 heraus erzäh-len, sondern auch aus unserer Gegenwart. Sie soll immer der Ausgangspunkt sein. Bei der ersten Version gab es gerade das hundertjährige Jubiläum der 20er Jahre. Da fing es an, mit dieser Freiheit, aber auch mit der Erkenntnis, dass die Gesellschaft gefährdet ist und es eine Form der Spaltung gibt. Jetzt starten wir eher von dem Gedanken aus, dass es nach einer schlechten, bösen Zeit, also dem Ersten Weltkrieg oder der Spanischen Grippe, endlich wieder ein großes Freiheits- und Lebensgefühl gibt. Und wenn man gerade bei schönem Wetter zum Beispiel durch Köln läuft, ist ersichtlich, dass es auch heute die Menschen wieder raus drängt, wie damals.

Jetzt wäre ein guter Aufhänger, dass wir alle endlich wieder durchatmen und unsere Freiheit genießen können.

Sie haben für die kommende Produktion wieder sehr breit in der Zeitgeschichte recherchiert. Warum?

Biermeier: Generell ist unser Ziel, mit der Revue immer weniger fiktional zu sein: Wir versuchen immer mehr Zeitdokumente und Originalzitate einzuarbeiten, um noch authentischer zu werden, was die 20er Jahre betrifft.

Und komischerweise ist es so: Je authentischer man in den 20ern wird, umso mehr spiegelt sich das in unserer Zeit. Die Parallelen sind schon sehr deutlich geworden. Wir verwenden für die Medleys mit den deutschen Liedern und Szenen zum Beispiel bis zu 95 Prozent Originalzitate aus der Zeit: Von Liedzitaten, über Texte bis hin zu Interviews. Ich finde es erstaunlich, wie gut das funktioniert.

Flohr: Es wird auch immer klarer, welch geniale Zeit es damals war. Abseits von den großen Musikern, den Show-talenten gab es gerade in Berlin eine Form der Verdichtung. Hier gingen damals Künstler wie der Schriftsteller Kurt Tucholsky oder der Maler Heinrich Zille alle hin: Berlin war der „Place to be“! Das ist auch ein Grund, warum sich die Show immer weiterentwickeln wird: Wir finden einfach immer mehr Informationen und Zeugnisse der 1920er Jahre!

Biermeier: Ich habe mich immer gefragt, wie es damals gewesen wäre, hätte es schon Twitter, Facebook oder Snapchat gegeben. Und dann wurde mir klar, dass es auch damals so etwas bereits gab – damals nannte man es den „Salon“, zu dem man einlud. Jeder, der etwas auf sich hielt, hat einen solchen Salon unterhalten, und dann wurde in der Nacht von einem zum anderen gewandert. Man hörte zum Beispiel, dass Josephine Baker abends nackt bei XY tanzen würde. Also sind alle dahin. Das war ein richtiges Netzwerk von allen, die sich irgendwie kannten, sich gegenseitig beäugten, liebten und hassten. Harry Graf von Kessler zum Beispiel war Diplomat, aber in der damaligen Künstlerszene beheimatet. Er hat Tagebuch geschrieben. Total spannend zu lesen! Da saß an einer Stelle die nackte junge Baker in einer Ecke und aß die ganze Zeit Bockwurst. Weil sie immer dachte, das seien Hot Dogs. Und die Enttäuschung war riesengroß… Aber dennoch fanden sie alle natürlich auch ganz beeindruckend: Graf von Kessler wollte direkt ein Libretto für sie schreiben, und Max Rheinhardt erklärte gleich, er führe es auf im Deutschen Theater. Und die Baker zuckte mit den Schultern, meinte lapidar, das sei aber so langweilig...

Im zweiten Teil der Revue tauchen dann auch die Nationalsozialisten auf. Wie sehr wurde um diese Sequenzen gerungen?

Biermeier: Das war gar nicht so einfach: Macht man so etwas in einer kommerziellen Show? Und wenn ja, wie stark? Wie intensiv? Da fand ich es außergewöhnlich, dass Produzent Ralf Kokemüller entschieden hat, das durchzuziehen. Und dies war auch der absolut richtige Instinkt. Den Nazi, der Josephine Baker vom Bühnen-rand aus anpöbelt, gab es tatsächlich. Ihn haben wir in einem Münchener Polizeibericht gefunden. Die Macht-ergreifung der Nationalsozialisten haben wir durch den Aufzug der Hakenkreuzfahne, hinter der die Darsteller als Schattenrisse verschwinden, symbolisiert. Bei der ganzen Ausgelassenheit, die in BERLIN BERLIN steckt, haben diese Szenen der Revue einen wichtigen Dreh gegeben, haben für eine nahegehende Ernsthaftigkeit gesorgt.

Dieses abrupte Ende von alledem, was in den 20ern war und was sie ausgemacht haben. „Unterhaltung mit Haltung“, haben das einige Medien treffend genannt.

Kokemüller: Wir ließen an dieser Stelle bewusst die Show aber nicht enden. Nach dem Krieg entwickelte sich Berlin wieder Schritt für Schritt zurück in eine blühende Metropole. Und genau mit dieser positiven Botschaft – am Ende siegen Toleranz, bunte Vielfalt und Zwischenmenschlichkeit – wollen wir das Publikum nach Hause schicken.

Waren die „Goldenen 20er Jahre“ eigentlich nicht viel kürzer? Ihre Show geht bis 1933.

Flohr: Für uns wäre die Geschichte dann aber nicht zu Ende erzählt gewesen. Nur mit dem Börsencrash kann man diese Zeit, die für uns ja vor allem künstlerisch geprägt war, nicht beenden. Deshalb sind wir bis zur Macht-ergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 gegangen. Da hat der Exodus der freien Kulturszene begonnen.

Aber auch danach ging es mit dem Leben weiter: Deshalb haben wir auch versucht, zum Schluss von BERLIN BERLIN dem Publikum eine Brücke ins Heute zu schlagen.

Warum wählen Sie für BERLIN BERLIN die Form der Revue? Warum nicht die des Musicals?

Biermeier: Bereits Johann Wolfgang von Goethe sagte, es gäbe eine Form-Inhalt-Entsprechung. Ein gutes Stück ist eines, in dem Form in Inhalt und Inhalt in Form überspringt. Das musikalische Unterhaltungstheater der 20er Jahre war ganz stark geprägt von der Revue. Sie hat die Operette des 19. Jahrhunderts abgelöst. Somit ist die Revue historisch gesehen genau die richtige Erzählweise für die 1920er Jahre.

Flohr: Mit Leonard Bernsteins West Side Story (Anmerkung: Uraufführung am 26.09.1957) hat die internationale Geschichte des Musicals eigentlich erst angefangen. In den 1920er Jahren war man davon noch weit entfernt.

Wie transportiert man dieses Lebensgefühl der 1920er Jahre, diese Zeit des Aufbruchs und der wieder gewonnenen Freiheit ins Heute?

Kokemüller: Wir sind – wie alle anderen – von der Corona-Pandemie mächtig ausgebremst worden. Aber die große Faszination für die 1920er Jahre ist nicht verloren gegangen.

Biermeier: Die seelische Andock-Station an BERLIN BERLIN könnte jetzt wieder die Freiheit sein. Eine dunkle Zeit jetzt langsam hinter sich zu lassen. 2019 funktionierte die Revue über das 100-jährige Jubiläum der 1920er Jahre und die Analogien. Die gibt es jetzt auch wieder: Den Drang nach Freiheit, den Drang nach vorne, in eine Unbeschwertheit.

Was kann Kultur bewirken? Wie wichtig ist es, dass die Kultur jetzt wieder Fahrt aufnimmt?

Biermeier: Kultur ist Grundnahrungsmittel! Eine Gesellschaft verständigt sich immer auch über die Kultur. Sie ist der Kitt, der uns zusammenhält.

Kokemüller: Wenn man über ein Jahr nur Netflix gesehen hat, weiß man auch, was die Streamingdienste nicht können: Menschen zusammenbringen, Künstler auf Augenhöhe live zu erleben, einfach „Quality time” zu verbringen!

Wie ist die Idee für BERLIN BERLIN geboren worden?

Martin Flohr: Das Thema lag in der Luft! Die 1920er Jahre sind inzwischen hundert Jahre her, die Begeisterung für die Mode, die Tänze, die Musik und die Stars lodert weiter. Im Admiralspalast hatten wir die Möglichkeit, am Originalschauplatz in den Strudel dieser aufregenden Zeit einzutauchen.

Herr Kokemüller, warum haben Sie sich als CEO und Produzent der Mehr-BB-Entertainment für diese Show entschieden?

Ralf Kokemüller: Für mich sind Zeitgeist und Relevanz entscheidend. Bei BERLIN BERLIN hat uns das Thema gleich gepackt – das künstlerische Konzept war sehr überzeugend. Und Martin Flohr als ausführender Produzent und Konzeptentwickler hat mit großem Enthusiasmus ein tolles internationales Kreativteam rund um Regisseur Christoph Biermeier, Musical Arrangeur Richard Morris, Musical Supervisor Gary Hickeson und Choreograph Matt Cole zusammengestellt.

In welchem Moment fällt die Entscheidung für eine Show? Wie war das bei BERLIN BERLIN?

Kokemüller: Die Entscheidung fällt während der ersten Besprechung des Skripts, einer Leseprobe, bei Work-shops. Hier erkennt man die Stärken und die Schwächen, kann die Ideen des Regisseurs und die geplante Umset-zung einschätzen. Bei BERLIN BERLIN konnte man das Potenzial schon bei einem szenischen Reading erkennen.

Die Showtreppe, die Revuetanzgruppen, die großen Stars, die zum Leben erweckt werden – das hat sich gleich vor unseren Augen aufgebaut wie ein Film.

Herr Flohr, wenn Sie von BERLIN BERLIN erzählen, spürt man sofort Ihre Begeisterung für die 20er Jahre Woher kommt die?

Flohr: Die 20er werden als die Goldenen 20er Jahre bezeichnet, auch wenn damals wenig wirklich Golden war.

Ich glaube, was uns bis heute daran fasziniert, ist das Lebensgefühl und die Aufbruchsstimmung. Es war das Jahrzehnt der Entdecker, Abenteurer und Erfinder. In Bonn entwickelte Hans Riegel die Gummibärchen. In Berlin brachte Hans Schwarzkopf das Haarshampoo auf den Markt. Albert Einstein erhielt den Nobelpreis für Physik, Marie Curie forschte an der Sorbonne über das Röntgenlicht und die Weltenbummler Clärenore Stinnes und Carl-Axel Söderström umrundeten den Globus in einem Automobil. Alles schien möglich und Freiheit war ein großes Thema. Ich finde es interessant, dass wir 100 Jahre später mit vielen ähnlichen Themen konfrontiert werden – und wie wir damit umgehen.

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