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Italienischer Evangelismus und Heterodoxie

Im Dokument Lutherische Metaphysik im Streit (Seite 41-45)

A. Der Sozinianismus – Gestaltwerdung und Lehrbegriff 1. Italien im Reformationsjahrhundert

2. Voraussetzungen des Sozinianismus

2.1 Rückbindung an theologische und allgemein-geistesgeschichtliche Strömungen

2.2.3 Italienischer Evangelismus und Heterodoxie

Die Vielzahl der theologischen Motive, die sich im Sozinianismus identifizieren lassen, erlauben es nicht, ihn in gerader Linie aus dem Evangelismus italienischer Prägung abzuleiten159. Nach der durch Williams repräsentierten Forschung wird der Sozinianismus der Radikalen Reformation (radical reformation) zugerechnet. Als deren drei Bestandteile gelten das Täufertum, der Spiritualismus und zuletzt der rationalistische Evangelismus - eine spezifische Ausprägung im italienischen Evangelismus160 - , der den eigentlichen Nährboden des Sozinianismus abgibt161.

Im Umfeld jener Gemengelage des Evangelismus, so ist Williams Analyse zu verstehen, finden sich auch heterodoxe Lehren. Die Grenzen und

154 Es gibt in der Forschung eine Diskussion über die Frage, ob der Evangelismus besser als undogmatisch oder als dogmatisch vielfältig zu bezeichnen sei. Bei aller dogmatischen Divergenz darf jedoch nicht übersehen werden, dass der Bewegung das klassische humanistische Postulat 'in dogmaticis minimum' eigentümlich ist, welches zu einer Geringschätzung der Dogmen bei gleichzeitiger Hochschätzung der christlichen Praxis führt (Welti (Italien), S. 20f.). Vgl. in dieser Frage Weltis Diskussion der grundlegenden Merkmale des Evangelismus (Welti (Italien) S. 18-23 passim) im Anschluß an Jung (Evangelism).

155 Welti (Italien), S. 18.

156 Man besitzt heute wieder zwei Ausgaben des 'Beneficio'; über Jahrhunderte galten sämtliche Exemplare als von der Inquisition vernichtet. Einen Überblick über den Forschungskonsens hinsichtlich der Entstehung des 'Beneficio' gibt Welti (Italien), S. 19.

157 Welti (Italien), S. 20.

158 In der neuesten Forschung ist es wiederum grundsätzlich umstritten, ob es überhaupt zutreffend ist, von einem Phänomen 'Evangelismus' zu sprechen. Vgl. dazu Welti (Italien), S. 26.

159 Cantimori (Häretiker), S. 25.

160 Williams (Radical Reformation), Preface S. XXIV. Zu diesem rationalistischen Schwerpunkt vgl.

S. 31f. und S. 39 (Padua).

161 Williams (Radical Reformation), Preface S. XXI.

Übergänge zwischen diesen 'Bewegungen' sind allerdings fließend. In persona bestätigt dies der anfangs dem Evangelismus zugehörende radikale Reformer Camillo Renato in Graubünden162, mit dessen Positionen Täufertum und Spiritualismus auf den italienischen Evangelismus zurückwirken.

Für die Ausbildung des italienischen Häretikertums, dem das theologische Denken der Sozzini in seiner Frühform zugehört, sind die im Folgenden angeführten Lehrelemente und Denkrichtungen von Bedeutung.

2.2.3.1 Rationalistisch-humanistisches Gedankengut

1. Anthropologisch herrscht ein spezifisches Vernunftverständnis vor: Die Vernunft des Menschen ist göttlich, und sie ist mit seiner Würde gleichzusetzen (Giorgio Siculo; Curione). Die Betrachtung der eigenen göttlichen Natur vermag den Menschen dazu anzuleiten, würdig, und das bedeutet, Vernunft, Moral und Religion gewiss zu leben. Die Erbsünde wird nivelliert wenn nicht gar völlig negiert163.

2. Soteriologisch geht damit eine Mystik der Erlösung und des göttlichen Erbarmens einher. Der Mensch vermag die christliche Vollkommenheit zu erreichen, wenn er sich nur anstrengt, die mystische Leiter, die zur Vereinigung mit Gott führt, emporzusteigen164. Über die Annahmen des italienischen Platonismus hinaus werden diese Lehren durch (allerdings spekulativ schwer beladene) Schriftbegründungen gestützt. Die Sittlichkeit wird im Gefolge auf das Stärkste betont165. Eine Fixierung der 'Heilsordnung' qua Prädestination ist diesem Erlösungsverständnis wesensfremd.

3. Die Religion ist von spiritueller Natur. 'Religionslehren' können nie den Status von Dogmen erhalten. Das innere Leben der Religion steht unter dem Primat der "Forderung der 'Freiheit', d.h. der Möglichkeit individueller Erforschung der religiösen Fragen und der Geltendmachung eigener Überzeugung in der Diskussion auf den Grundlagen der Vernunft und der Heiligen Schrift"166; allein auf diesem Weg könne die in den Tiefen der Gottheit verborgene Wahrheit gefunden werden. Diese Forderung führt in einer konfessionell einheitlichen, Abweichungen bestrafenden Gesellschaft in den Nikodemismus167; eine seiner Spielarten besteht in der Praxis, die eigene Lehre "in der Form von Problemen und Fragen zur Diskussion zu stellen."168

Die Träger dieser Religion wurden selber oft von spiritualistischen Energiequellen angetrieben: "die Energie und kritische Leidenschaft ...

gründeten sich ... auf einen beweglichen Boden von Visionen, Prophezeiungen, Inspirationen"169.

4. Sofern Diskrepanzen zwischen der theologischen Offenbarung und der philosophischen Begründung bestanden, wie etwa in der Frage der

162 Zu Renato s. unten S. 47f.

163 Cantimori (Häretiker), S. 63.

164 Dazu Cantimori (Häretiker), S. 60-62 und S. 102.

165 Cantimori (Häretiker), S. 63. Zu diesem Kennzeichen der Hochschätzung der Ethik vgl. auch noch Cantimori (Häretiker), S. 118.

166 Cantimori (Häretiker), S. 63. Dazu auch Cantimori (Häretiker), S. 41.

167 Zum Begriff vgl. unten den Exkurs S. 42f.

168 Cantimori (Häretiker), S. 66.

169 Cantimori (Häretiker), S. 109.

Auferstehung des Fleisches, wurden die Lösungsversuche dann innerhalb des philosophischen Rahmens des paduanischen Aristotelismus gesucht170. Wohlgemerkt: Täuferische Lehren wie die Kritik an den Sakramenten oder an der Trinitätslehre finden sich hier nicht; dies gilt, obwohl auch im humanistischen Raum, und zwar bei Valla und Ficino171, wie erwähnt, Kritik an der Trinitätslehre geäußert wurde172.

2.2.3.2 Einfluss des Erasmus

Erasmus war nicht nur der Patron des italienischen Evangelismus, sondern auch der Patron des italienischen Häretikertums173, und zwar durch seine Bibelausgabe: Darin ließ er etwa in der lateinischen Übersetzung das Comma Johanneum fort; er vertrat die Ansicht, Gott bezeichne im NT allein 'Gott den Vater'; in Joh 1 übersetzte er für verbum 'sermo'. Auch seine Textkritik hat Einflüsse ausgeübt. Für die Führer der radikalen Reformation gab es überdies Anknüpfungspunkte im Sakramentsverständnis, durch den Pazifismus, sowie die Konzeption des liberum arbitrium; auch das Konzept der dritten Kirche, einer Kirche zwischen korruptem Renaissance-Papsttum und prädestinatianischem und kriegstreiberischem Calvinismus, gehörte zu den Überzeugungen des Evangelismus in Italien.

Der Stellenwert des Erasmus für das italienische Dissidententum läßt sich daran belegen, dass noch in den 1560er und 1570er Jahren, als der Evangelismus in Italien schon erstickt war174, sich mit Fausto Sozzini und Giorgio Biandrata zwei große Repräsentanten des italienischen Exilprotestantismus, "in Dankbarkeit zu ihm (bekannten) und (ihn) lobten ...

als Verteidiger der Willensfreiheit (Sozzini) und als einen der Väter des Unitarismus (Biandrata)."175

2.2.3.3 Nährboden des Täufertums und Einfluss Servets

Das italienische Täufertum war überwiegend im Norden des Landes, besonders im Venezianischen, verbreitet. In ihm sammelten sich verschiedene kritische und auch häretische Überzeugungen und Lehren.

Seinen spezifischen Charakter hat es zum einen in der Forderung nach einer grundlegend neuen christlichen Gemeinschaft, die nicht durch eine gegenständliche Struktur bestimmt sein sollte, in welcher der Amtsträger qua character indelebilis Charismen und Sakramente objektiv übertrug;

vielmehr sollte sie durch die überzeugte Zustimmung zur Lehre und die ethische Aufrichtigkeit im Befolgen der Gebote konstituiert werden. Zum anderen waren in ihm verschiedene Momente der 'humanistischen Religiosität' lebendig: das spekulative Bedürfnis; die Forderung nach

170 Williams (Radical Reformation), S. 24.

171 Dazu bereits oben S. 19f.

172 Man muss natürlich in Rechnung stellen, dass eine Kontinuität besteht zwischen mittelalterlichen ketzerischen Meinungen und häretischen Ansichten der Reformationszeit. Zu nennen sind joachimitische Einflüsse und der des philosophischen Schulpantheismus; für die antitrinitarische Häresie im besonderen die Kritik des Nominalismus und der 'via moderna', die, lange innerhalb der Grenzen der Orthodoxie gehalten, "mit dem Zerfall der kirchlichen Autorität in der Renaissance kühner geworden war" (Cantimori (Häretiker), S. 28).

173 Cantimori (Häretiker), S. 4; Williams (Radical Reformation), S. 8f. Vgl. auch Williams (Radical Reformation), S. 11-16; Valdès 'Brüder' beispielsweise galten als Erasmianer.

174 Zur Periodisierung vgl. Welti (Italien), S. 17 und 25f.

175 Welti (Italien), S. 23.

intellektueller Redlichkeit, also die Forderung, eine jede 'Wahrheit' zu prüfen, zu erforschen und, sofern sie begründet war, auch zu vertreten; und schließlich jener Gestaltungsdrang, welcher im Vertrauen auf die Möglichkeiten der menschlichen Individualität danach strebte, die erkannten Wahrheiten unmittelbar praktisch umzusetzen176.

Einen nachweisbar starken Einfluss besaß Servet, dessen beide ersten Bücher, 'De Trinitatis erroribus libri septem' von 1531 und 'Dialogorum de Trinitate libri duo. De justitia regni Christi, capitula quatuor' von 1532, unter den Täufern verbreitet waren177. Seine Grundaussagen waren unter den Täufern bekannt und haben dem italienischen Täufertum seinen besonderen Charakter gegeben178.

Das Miteinander von Antitrinitarismus und Täufertum von Anfang an ist eine Besonderheit der reformatorischen Strömung in Norditalien. Der Ausgangspunkt für die Kritik an der Trinitätslehre lag dabei nicht "in einer rationalistischen oder abstrakt theoretischen Stimmung, sondern in dem Bedürfnis, ... mit allen Konsequenzen in sittlicher Hinsicht jenen Begriff der 'Imitatio Christi' zu erfassen, der in den verschiedensten Gesellschaftsschichten (sc. Italiens) so weit verbreitet und so wirksam geworden war."179 Dass die "volle Erlösungsmacht Christi" in seiner Vorbildlichkeit liege, löste sich als Lehre vom "Motiv der 'Devotio moderna'" und wurde als "exklusives Prinzip" verstanden. Damit nun aber das grundlegende Verständnis "von der Vorbildlichkeit Christi volle Wirksamkeit entfalten könne, mußte man den Erlöser als ein ... sehr reines Ideal der Humanität auffassen: als die Blüte der Menschheit ..., auf den die Strahlen des göttlichen Wortes hinweisen, aber als etwas rein und ausschließlich Menschliches."180 Von diesem Ansatz her wurden alte dogmatische 'Spekulationen' negiert; er ließ aber auch neue metaphysische Spekulationen entstehen.

Seine Spitze hatte jenes extreme Verständnis von der imitatio Christi in der

"Entwertung der Heiligen Schrift zugunsten des inneren Wortes, der innersten Eingebung. Dieser letztern gegenüber verlor alles Äußerliche seinen Wert; weder die Predigt noch das geschriebene Wort noch die Sakramente behielten irgendeinen Wert."181

Die neueste Forschung hat Cantimoris Erkenntnis über das Miteinander von Antitrinitarismus und Täufertum insofern erweitert, als man nachgewiesen hat, dass der Glaube an die Alchemie bisweilen als drittes Element hinzukam. Der gemeinsame Nenner von Antitrinitarismus, Täufertum und alchemistischer Beschäftigung liege in einem unspezifischen Spiritualismus182; vermutlich habe die "rationalistische() und philologisch-biblizistische() Kritik an der traditionellen Trinitätslehre"183 ein "Vakuum im Verhältnis von Gott und Mensch"184 geschaffen, das dann durch den Spiritualismus gefüllt wurde.

176 Vgl. Cantimori (Häretiker), S. 28.

177 Zu Servet vgl. Cantimori (Häretiker), S. 33-44. Beispielsweise wurde auch eine Sammlung an Scholastikerzitaten Servets bei Biandrata in Polen aufgefunden (Cantimori (Häretiker), S. 37).

178 Cantimori (Häretiker), S. 32f. und S. 43.

179 Cantimori (Häretiker), S. 30.

180 Alle Zitate Cantimori (Häretiker), S. 30.

181 Cantimori (Häretiker), S. 31.

182 Welti (Italien), S. 88.

183 Welti (Italien), S. 81.

184 Welti (Italien), S. 82.

Für die weitere Beschäftigung mit den italienischen Wurzeln des Sozinianismus ist auf die landessprachliche Forschung zu verweisen, welche dem Thema stetige Aufmerksamkeit widmet. Zu nennen sind besonders die Untersuchungen von Stella185 und Rotondò186. Stellas Studien behandeln die Entwicklung vom norditalienischen Täufertum zum Sozinianismus.

Rotondò untersucht u.a. die (philosophischen) Wurzeln des italienischen Antitrinitarismus; er kommt zu dem Ergebnis, dass das antitrinitarische Denken der Italiener primär nicht 'neuplatonisch-emanatistisch' gewesen sei wie bei Servet, sondern 'humanistisch-philologischer' Natur war.

Im Dokument Lutherische Metaphysik im Streit (Seite 41-45)

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