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Das Ende der Internierung

Im Dokument Josef Eisinger Flucht und Zuflucht (Seite 118-122)

Viele wohlmeinende Personen und Organisationen erfuhren von un-se rer kafkaesken Situation und bemühten sich, unun-seren Status von Kriegs gefangenen auf „Flüchtlinge vor der Naziunterdrückung“ zu ändern. Ein Jahr nach unserer Ankunft in Kanada trugen ihre Bemü-hungen Früchte und die Entlassung aus der Internierung rückte in greifbare Nähe. Diese wohltätigen Vereinigungen versorgten auch die Lagerschule mit Büchern, und als sich herausstellte, dass die Mat-ric-Prüfung innerhalb der Stadtgrenze von Montreal abgehalten wer-den musste, konnten sie wer-den Lagerkommandanten zur Mithilfe bewe-gen: Er ließ Dr. Heckscher und seine 20 Schüler mit einem Bus und unter Bewachung in das Camp S, ein italienisches Internierungslager, bringen, das sich zufälligerweise in Montreal befand. Daher wohnten wir während der Prüfungswoche in diesem Lager.

Camp S befand sich in einer alten Festung auf St. Helen’s Island (Île Sainte-Hélène) mitten im St.-Lawrence-Strom. Die Brücke über den Fluss wird von einem massiven Steinpfosten getragen, der auf der Insel verankert ist. Einige hundert Italiener, die in England interniert worden waren, wohnten in Schlafsälen, deren über ein Meter dicke Wände durch kleine Fensterschlitze durchbrochen waren. Die Wände und Gebäude der alten Festung umschlossen einen unregelmäßig ge-formten Hof, der mit Steinen gepflastert war, und dort, dem einzigen freien Platz im Lager, spielten die italienischen Internierten Fußball mit interessanten Regeln: Das Spielfeld hatte keine Begrenzung und Bälle, die an den Wänden abprallten, blieben im Spiel. Das Lager hat-te eine faschistische Führung, aber die zivilen Insassen – viele von ihnen Eisverkäufer und Kellner, die in London gearbeitet hatten – wa-ren durch die Ablenkung, die unser Besuch brachte, sehr erfreut. Als wir ankamen, begrüßten sie uns mit einer riesigen Torte, auf deren Glasur „Viva il Duce“ geschrieben war. Die Italiener luden uns auf ein Fußball-Freundschaftsspiel nach Camp-S-Art ein, und wie vor-auszusehen war, schlugen sie uns vernichtend. In meinem Tagebuch beschrieb ich, was sonst noch während unseres Aufenthalts in Camp S passierte:

[Montreal, 21. September 1941]

Aber es begann so richtig am Mittwoch um 3:30, als wir mit dem Bus zu einem exquisiten Club in Montreal fuhren. Nach einer in-ter essanten Fahrt durch Montreal gelangten wir zum Montefiore- Club und alle unsere Erwartungen wurden übertroffen, als wir dort Mädchen antrafen. Wir hatten einen wunderbaren Abend, aus gezeichnetes Abendessen auf Tischtüchern und Porzellantel-lern und -schalen. Wir wurden von Kellnern, ButPorzellantel-lern und Dienst-mädchen bedient und alles schien für uns wie ein Traum. Es gab dort auch einige Damen vom Komitee und einige Glückliche fan-den Sponsoren. Ich traf viele nette Leute und tanzte ein- oder zwei-mal. Schließlich mussten wir den Club verlassen und begleitet von netten Worten der Gäste und Gesten unserer betrunkenen Wär-ter gingen wir wie Hühner zurück in den stacheldrahtumzäunten Stall. Brr … Zurück im „A“ am nächsten Tag war ich ziemlich niedergeschlagen und ich habe mich noch nie so sehr danach ge-sehnt, freigelassen zu werden […] Montreal ist eine hübsche Stadt und McGill eine wunderschöne Universität. Vielleicht werde ich einmal dort sein, aber es ist zu schön, um wahr zu sein.

Für Schüler war es jetzt möglich, aus der Internierung entlassen zu werden, wenn ein kanadischer Staatsbürger oder eine kanadische Staatsbürgerin die finanzielle Verantwortung übernahm, was für die meisten von uns eine rein theoretische Möglichkeit war. Einen Mo-nat nach unserem Ausflug zum Camp S aber schrieb ich Folgendes in mein Tagebuch:

[22. Oktober 1941]

Gestern erhielt ich den wunderbarsten Brief, den ich erhal-ten könnte, nämlich von Frau Mendel, die versprach, mich und Rappa25 [Walter Kohn] zu sponsern. Ich war gerade beim

Zahn-25 Der Spitzname für Walter Kohn kam von seinem Onkel, der nach Brasilien emigriert war und dort seinen Namen von Rappaport in Rappa da Porto

arzt und George [Sanger] mischte Amalgam, als Odizetti [Walter Odze] den Brief brachte, und ich fiel fast vom Sessel.

Bruno und Hertha Mendel, beide Mitglieder einer angesehenen deutsch-jüdischen Arztfamilie (sie waren Cousins ersten Grades), hat ten die Gefahr, die Hitlers Aufstieg darstellte, sehr früh erkannt.

Mit ihren drei Kindern Gerald, Ruth und Anita und Herthas Mutter Toni hatten sie Berlin schon 1933 verlassen und sich schließlich in Toronto niedergelassen, wo Bruno am Banting-Institut der Universi-tät medizinische Forschung betrieb. Als die Mendels vom Dilemma der jüdischen Flüchtlinge in den kanadischen Lagern hörten, bürg-ten sie insgesamt für fünf ihnen unbekannte Studenbürg-ten und befreibürg-ten sie somit von der Internierung. Die Familie hatte ein Extrazimmer in ihrem Haus und sie luden Walter und mich ein, bei ihnen zu woh-nen. Sie hatten uns gewählt, da ein schon früher entlassener Internier-ter, Charles Kahn, ihnen erzählt hatte, dass Walter und ich gelegent-lich Blockflötenduette spielten. Selbst Musikliebhaber, dachten die Mendels offenbar, dass jemand, der gerne Musik macht, nicht durch und durch schlecht sein könne. Es war das erste, aber nicht das letzte Mal, dass Musik mein Leben grundlegend verändern sollte. In mein Tagebuch notierte ich in jenen Tagen:

[3. November 1941]

In den letzten Tagen war ich sehr deprimiert und habe kaum ge-lernt. Ich bin sehr ungeduldig geworden und fürchte, sollte ich nicht entlassen werden, dass ich verzweifeln würde.

[10. November 1941]

Heute ist der Jahrestag des 10. November (Kristallnacht) und man beschloss, für deutsche Juden zu sammeln […] und den ganzen Tag zu fasten. Das ist heute der 5. Tag des Fastens dieses Jahr für mich. George [Sanger] wurde am Samstag, den 8. XI entlassen […]

änderte. Walter wurde ein erfolgreicher theoretischer Physiker und erhielt 1998 den Nobelpreis für Chemie.

Ich hatte Nachricht von Mummy, aber sie war nicht sehr erfreulich und ziemlich bedrückt. Es machte mich krank, den Brief zu lesen.

Es tut mir leid, dass sie noch immer interniert ist.

Obwohl wir jetzt offiziell geflüchtete Nazigegner waren und einige Internierte tatsächlich entlassen worden waren, brodelte es im-mer noch im Camp. Der Lagerkommandant verzweifelte an den po-litischen Konflikten zwischen den Internierten und wir begegneten seinen harten Maßnahmen mit Arbeitsniederlegungen. Als er sieben

„Unruhestifter“ in ein anderes Lager verlegte, traten die meisten von uns aus Protest in einen Hungerstreik. Der Streik endete nach drei Tagen, als der befehlshabende Offizier drohte, alle zukünftigen Ent-lassungen zu stoppen. Da meine Entlassung unmittelbar bevorstand, dachten meine Freunde, dass ich einen Spitznamen brauchte, der für kanadische Ohren besser klang als Pepi oder Bubi, wie ich im Lager genannt wurde. Sie berieten sich und nachdem sie ein Comic-Heft zu Rate gezogen hatten, wählten sie Terry, nach dem Helden in Terry and the Pirates, ein Spitzname, der mir lange geblieben ist. Erst in meinem fortgeschrittenen Alter bin ich ihn losgeworden.

Während ich auf die Entlassungspapiere wartete, löste ich mich allmählich vom Lagerleben und die Wochen des Wartens vergingen sehr langsam. An einem frostigen frühen Morgen im Januar 1942 fuhr ich schließlich mit einem Armeelastwagen durch die Doppeltore aus dem Lager zum Bahnhof von Farnham. Man gab mir $ 15 in kana-dischem Geld – das den Mendels verrechnet wurde – und ich kaufte eine Fahrkarte nach Toronto. Ich stand allein – schon das ein seltsames Gefühl – am Bahnsteig und genoss meine Freiheit nach 20 Monaten Gefangenschaft. Ich trug einen dunkelblau gefärbten Militärmantel, womit ich mich unauffällig unter gewöhnlichen Männern und Frauen bewegen konnte – als ob das eine ganz normale Handlung wäre: ein Gefühl, das mich seither nie ganz verlassen hat.

Der Zug fuhr in die Station ein, und als ich die Stufen in den Wag-gon hinaufkletterte, war ich mir sehr bewusst, dass ein neues Kapitel in meinem Leben begann.

Im Dokument Josef Eisinger Flucht und Zuflucht (Seite 118-122)