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Einleitende Bemerkungen zur englischsprachigen Ausgabe 2016

Im Dokument Josef Eisinger Flucht und Zuflucht (Seite 25-31)

Diese autobiographischen Aufsätze wurden zur Zeit ihrer Nieder-schrift nicht als Kapitel eines Buches konzipiert; die meisten wurden schon vor Jahrzehnten für meine Familie, Freunde und Bekannte, die sich für meine bunte und bewegte Jugend interessierten, geschrieben.

Der Anstoß kam von meiner Tochter Alison, da sie, wie auch ihr Bru-der Simon, schon lange an Bru-der Geschichte unserer Familie interessiert gewesen war. Ich hoffe, dass diese Erinnerungen die verschiedenen Geschichten, die sie und ihr Bruder seit ihrer Kindheit gehört haben, in einen Zusammenhang bringen. Die möglicherweise törichte Idee, diese in einem Buch zu bündeln, kam mir erst viel später.

Den Kindern und Enkelkindern Geschichten zu erzählen, ist die traditionelle Art, Familiengeschichte zu vermitteln, aber da Oral his-tory nach der Weitergabe über Generationen bekanntermaßen sehr un genau ist, stellt eine niedergeschriebene Geschichte einen verläss-licheren Bericht dar. Zudem sind diese Erinnerungen von gewissem historischen Interesse, da sie die tiefgreifenden Veränderungen, die auch in einem so kurzen Zeitspann eines Lebens stattfinden können, illustrieren. Ich habe manchmal versucht mir vorzustellen, wie das Leben meiner Eltern und früheren Vorfahren durch soziale, politische und technologische Veränderungen im Laufe ihres Lebens beeinflusst worden war. Wäre es nicht nett, dachte ich, ihre Memoiren zu lesen, um die Welt, in der sie lebten, besser zu verstehen? Deshalb drängte ich meinen Vater, seine Erinnerungen aufzuschreiben, und obwohl er nur wenige Seiten niederschrieb, als er schon neunzig war, erzählen sie uns einiges über sein Leben und seine Zeit. Seine Worte sind in An-hang I abgedruckt. Weitere Anhänge befassen sich mit den Ursprün-gen der Familie, mit der Flucht meiner Eltern vor den Nazis und mit meinem Berufsleben nach dem Ende meiner jugendlichen Irrfahrten.

Die turbulenten Kriegsjahre und die Emigration, die ich als junger Mensch erlebte, haben den Rest meines Lebens geprägt. Sie haben einen tiefen Eindruck hinterlassen und ich kann mich an viele

Be-gebenheiten dieser Jahre bis heute noch sehr genau erinnern. Es ist kein Wunder, dass die Erinnerungen an die Jahre nach dem Anschluss Österreichs an NS-Deutschland viel deutlicher sind als die an meine friedliche Kindheit.

Was die Vollständigkeit dieser Memoiren betrifft, kommt mir eine Bemerkung Einsteins in den Sinn, auf die ich während meiner Arbeit an Einstein on the Road stieß. Im Gespräch mit einem Freund erwähn-te Einserwähn-tein ein Reisetagebuch, das er geführt haterwähn-te, und fügerwähn-te hinzu, dass er die interessantesten Erfahrungen allerdings ausgelassen habe.

Glücklicherweise musste ich mich beim Verfassen dieser Erinne-rungen nicht ausschließlich auf mein Gedächtnis verlassen: Ich konnte Familienbriefe einsehen, ebenso ein Tagebuch, das ich einige Jahre, kurz nach der Flucht, geführt hatte. Natürlich verwendete ich – neben vorhandener Literatur – auch Erinnerungen meiner Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, besonders die meiner Schwester Lesley Wyle, auch meiner Cousinen Hannah (Hanni) Shermann und Frieda Redlich sowie meines Cousins Erich Eisinger und anderer Verwandter und Freunde.

Zum Glück bin ich obendrein im Besitz einiger Tonbandaufnah-men mit meinen Eltern. Ich machte diese AufnahTonbandaufnah-men 1967, als ihre Erinnerungen noch frisch waren. Diese Gespräche wurden später von Lesley niedergeschrieben und übersetzt und erschienen in ihrer eige-nen schöeige-nen Biographie Preserving the Past. Sie sprachen über ihre Jugend in Skotschau und in Kostel, ihre Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs, ihr Leben in Wien und ihre dramatische Flucht aus dem von den Nazis besetzten Wien zu Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Ich machte diese Tonbandaufnahmen auf einem Uher-Spulengerät, das meine Frau Styra und ich erworben hatten, um 1965 auf einer Bal-kanreise mit unserem SAAB bulgarische Volksmusik aufzunehmen.

Es war eine faszinierende Reise, aber die Beatles hatten den Balkan schon erobert und echte Volksmusik war schwer zu finden.

Die vorliegenden Erzählungen erstrecken sich von meiner Geburt bis zu meinen Studententagen. Die Kapitel über die folgenden 70 Jah-re bleiben ungeschrieben, nicht weil sie eJah-reignislos waJah-ren oder ohne Abenteuer, aber das Leben, das sie beschreiben würden, wäre nicht un-typisch für das eines Akademikers im Amerika des 20. Jahrhunderts.

Einige Vorlieben aus meiner Jugend prägten auch meine späteren Jah-re: So unternahm unsere Familie immer gerne Camping-, Wander-, Segel- und Kajakausflüge; sie ist sehr naturverbunden. Auf unserem fünf Hektar großen Laubholzwald auf dem Musconetcong Mountain in New Jersey, einem Anwesen, das wir Cleehill nennen, stehen, außer dem Holzwohnhaus, einige von mir gebaute Hütten und Schuppen, die auf die Zimmermann- und Holzfällerfertigkeiten zurückgehen, die ich während meiner Internierung in Kanada erworben hatte. Wir hei-zen das Haus immer noch mit Brennholz, das wir jedes Jahr fällen und spalten, und wenn ich unseren Gemüsegarten aufharke, steigen Erin nerungen an meine landwirtschaftliche Tätigkeit in Yorkshire in mir hoch. Aber im Herzen bin ich ein leidenschaftlicher Stadtmensch geblieben, der sich in unserem anderen Familienhaus, Minetta Banks genannt, am meisten zuhause fühlt. Es ist ein gemütlicher Ziegelbau aus dem Jahr 1820 in Greenwich Village, den Styra und ich gewis-senhaft renoviert und in dem wir unsere zwei Kinder großgezogen haben – eine Oase inmitten der Stadt, in der wir seit über 50 Jahren wohnen.

Diese ungeschriebenen Kapitel würden von meiner planlo-sen Suche nach einem Platz in der Neuen Welt berichten, in die ich mich – alleine und noch ein Bub – verpflanzt fand, von der Bewäl-tigung romantischer, manchmal schmerzlicher Episoden der Jugend und vom Auf und Ab meines beruflichen Lebens. Diese Kapitel wür-den auch über mein großes Glück berichten, die unvergleichliche und geliebte Styra als meine Frau und Kameradin gefunden zu haben, mit der ich zwei Zuhause geschaffen und unsere zwei großartigen Spröss-linge großgezogen habe – jedoch ohne jemals meine einzelgängeri-schen Wege ganz aufgegeben zu haben.

Mein Leben als Wissenschaftler, das im letzten Anhang umris-sen wird, hat sicherlich meine Weltanschauung und meine Sicht der menschlichen Gesellschaft, die ich seit jeher interessiert beobachte, beeinflusst. Ich bin ein eingefleischter Skeptiker, der ohne verlässli-chen Nachweis Wenigem Glauben sverlässli-chenkt. Meine und Styras histo-rischen und biographischen Forschungen haben mich tief in das Le-ben faszinierender Persönlichkeiten gezogen, von Albert Einstein und

Johannes Brahms zu Ludwig van Beethoven und Eberhard Gockel, einem obskuren Ulmer Arzt des 17. Jahrhunderts (mehr über ihn in Anhang IV). Alle diese Personen haben einen prominenten Platz in unserem Haus eingenommen, manche von ihnen viele Jahre hindurch.

Aber ich schwenke vom Kern dieser Memoiren ab: wo die Rei-se meines Lebens begann und welche unvorherRei-sehbaren Umstände seinen Kurs beeinflussten. Rückblickend kann ich mich besser an glücklichere Zeiten als an leidvolle erinnern – von denen ich einige erlebt habe. Auch mein Vater hatte eine heitere, optimistische, aber gleichzeitig fatalistische Weltsicht, die in folgenden zwei Geschichten zum Ausdruck kommt: Ein Ehepaar kommt zum Rabbi und bittet ihn, einen Streit zu schlichten. Nachdem er der Frau zugehört hat, gibt der Rabbi ihr Recht; dann hört er die Geschichte des Mannes und sagt ihm, dass er Recht habe. Als daraufhin ein Beobachter fragt, wie er beiden Recht geben kann, spricht der Rabbi: Sie haben auch Recht!

In der anderen Erzählung kommt ein Reisender in ein Gasthaus in Südtirol und nimmt ein Zimmer. Als er zum Abendessen herun-terkommt, beobachtet er die Ankunft eines weiteren Reisenden, der sich wegen eines Zimmers erkundigt. Etwas später fragt der erste Gast den Wirt, warum er für sein Zimmer 100 Kronen bezahlt, während der neue Gast nur 50 Kronen zahlen muss. Der Wirt zuckt mit den Schultern, breitet seine Arme aus und antwortet: „E fortunato!“ (Er hat Glück!)

Auch ich war fortunato: Ich hatte Glück, dass ich und meine un-mittelbare Familie Hitler und den zerstörerischen Krieg überlebten, hatte Glück im Rückblick auf ein erfülltes Berufsleben, das finanzielle Sicherheit brachte und mir gleichzeitig eine befriedigende Einsicht in unsere erstaunliche Welt ermöglichte; Glück, da ich mich nach neun Jahrzehnten relativ guter Gesundheit erfreue und seit über fünfzig Jah-ren von einer liebevollen Familie umgeben bin, die kürzlich durch zwei prächtige Enkelkinder erweitert wurde.

Ich bin An Diels dankbar, dass sie mir geholfen hat, diese Reihe von Aufsätzen in einem Buch zusammenzufassen, und ich danke Alison und Simon Eisinger für ihre Hilfe beim Redigieren und für

viele Diskussionen. Bevor ich es abschließe, nütze ich die Gelegenheit noch ein paar Worte hinzuzufügen.

Meine beiden Enkel, jetzt neun und sieben, haben sich schon zu kleinen Persönlichkeiten entwickelt – und ich bin immer noch da. In den kommenden Jahren werden sie vielleicht noch eine entfernte Erin-nerung an ihren eigenartigen Großvater, den sie Papa nennen, haben, der sie von der Schule abholte, mit ihnen auf seinem 60 Jahre alten Traktor über die bewaldeten Pfade in Cleehill fuhr und der ihnen bei-brachte, wie man Wiener Schnitzel macht.

Mein zweites Buch über Einstein, Einstein at Home, wurde gerade veröffentlicht – es hinterlässt eine große Lücke in meinem täglichen

„Stundenplan“. Die Arbeit an dem Buch brachte mich dem Menschen Einstein und auch den Mendels, mit denen ich eine Zeitlang lebte, noch näher und erinnerte mich an die besondere Rolle, die sie in mei-nem Leben gespielt haben.

Umgeben von einer innig verbundenen Familie und einem schrumpfenden Freundeskreis, bin ich mir zunehmend meiner Rolle im letzten Akt eines Theaterstücks bewusst. Ich genieße diese Rolle immer noch, obwohl die Klänge von Haydns Abschiedssymphonie hinter den Kulissen hörbar sind.

New York, Juni 2016

1. Kindheit in Wien

Im Dokument Josef Eisinger Flucht und Zuflucht (Seite 25-31)