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„Feindlicher Ausländer“

Im Dokument Josef Eisinger Flucht und Zuflucht (Seite 97-101)

Obwohl sich Großbritannien und Frankreich seit Hitlers Einmarsch in Polen im September 1939 mit Deutschland im Krieg befanden, blieb die Westfront – durch die „unüberwindbare“ französische Maginot- Linie gesichert – unheimlich ruhig. Das änderte sich dramatisch, als die deutschen Truppen im April 1940 Dänemark und Norwegen be-setz ten und im darauf folgenden Monat die Niederlande und Belgien einnahmen und somit die französische Armee und die britischen Ex-pedi tionsstreitkräfte (BEF) am Flügel umgingen. Die BEF wurden iso liert und an der Küste in Dunkerque umzingelt. Nur dank der Royal Navy und einer eilig zusammengestellten Flottille kleiner Schiffe und Boote jeder Art gelang es dem Großteil der BEF, über den Kanal in Sicherheit zu entkommen – also sozusagen in meinen Fußstapfen.

Nach dem Fall Frankreichs kursierten in Großbritannien berech-tigte Ängste einer unmittelbar bevorstehenden deutschen Invasion und es gab Gerüchte über die Existenz einer „Fünften Kolonne“ von Nazi-saboteuren, die als Flüchtlinge und Touristen getarnt ins Land gekom-men wären. In dieser Atmosphäre beschloss die britische Regierung, kein Risiko einzugehen, und befahl die Internierung aller „feindlichen Ausländer“ (enemy aliens – genauer: „Ausländer aus Feindstaaten“) zwischen 16 und 60 Jahren, die im Radius von 50 Meilen von der Küste entfernt lebten. Das galt für jeden mit einem deutschen Pass und es wurde nicht versucht, zwischen jüdischen oder politischen Flücht lingen sowie anderen deutschen Staatsbürgern zu unterschei-den. Churchill autorisierte diese Operation mit den unvergleichlichen Worten: „Collar the lot“ (in etwa: „Schnappt sie alle“).18

18 Die Geschichte der Internierung von „Ausländern aus Feindländern“ wurde von meinem Freund Eric Koch erforscht und in dem Buch Deemed Suspect be-schrieben (1980); siehe auch: Collar the Lot von Peter und Leni Gillman (1980), A Bespattered Page? The internment of His Majesty’s „Most Loyal Enemy Aliens“ von Ronald Stent (1980), Auf Sie haben wir gewartet von E. Sarton-Saretzki (1997) und Both Sides of the Wire (Vol. 1) von Ted Jones (1988), das

Ich war gerade 16 geworden und arbeitete in der Abwaschkam-mer neben der Küche des Park Royal Hotel in Brighton. Ich wurde als Hotel lehrling angestellt, eine Stelle, die mehr Zukunft versprach als die eines Bauernburschen; den Wechsel machte ich mit Hilfe von Lesley und beraten von Dr. Stefan Kimmelmann, unserem ehemaligen Nach barn in Wien, der in Brighton lebte und mich in loco parentis, anstelle meiner Eltern, betreute.

Meine Hauptaufgabe war das Abwaschen von Geschirr und Töp-fen eines ziemlich großen Hotels, das vier Mahlzeiten am Tag an über hundert Gäste servierte. Geschirrspüler waren noch nicht erfunden und ich musste den ganzen Tag mit meterhohen Stößen schmutziger Teller und Schalen kämpfen, die sich nach jeder Mahlzeit ansammelten, sie mit der Hand waschen, abspülen und trocknen. Außerdem musste ich in einer Kammer Tee in silbernen Kannen für die Gäste zubereiten.

Die Kellner benutzten einen Klingelcode, um mir zu signalisieren, welchen Tee (indisch oder chinesisch) und in welcher Teekannen größe ich den Tee zubereiten sollte. Meine anderen Pflichten waren das Zu-bereiten von Toast Melba19 und das Putzen von Gemüse, wenn der Chef Marcel, ein temperamentvoller Franzose, es anordnete. Marcel hatte viele laute Wortwechsel mit „Madam“, der Inhaberin des Hotels, die meistens damit endeten, dass er mit sofortiger Kündigung drohte, demonstrativ seine Messer einpackte, aber doch nie wirklich ging.

Mein Gehalt betrug beeindruckende 10 Shilling (etwas mehr als 2 Euro) pro Woche und ich schlief auf einem Feldbett in dem fens-terlosen Heizraum im Keller des Hotels. Theoretisch hatte ich einen Nachmittag in der Woche frei, wenn Pat, der Gepäckträger des Ho-tels, ein großer bulliger Ire, mich vertreten würde. An meinem ersten freien Nachmittag besuchte ich die Kimmelmanns und die de Costas, die im nahegelegenen Hove wohnten. Als ich in das Hotel zurück-kehrte, war das schmutzige Tee- und Essgeschirr auf dem Boden der

die Geschichte sowohl aus der Sicht der Gefangenen als auch aus der der Wärter erzählt.

19 Um einen Toast Melba herzustellen, schneidet man (vorsichtig) den weißen Toast durch die Mitte und röstet die Innenseiten.

Kammer gestapelt. Ich protestierte bei Pat, der mich mit einem kurzen

„Fuck off!“ abkanzelte. Da Madam Pat für unentbehrlicher als mich hielt, wollte sie sich nicht in die Kontroverse einmischen. So blieb mir nichts anderes übrig, als meine freien Nachmittage zu vergessen. Ab-gesehen von ein paar glücklichen Stunden zwischen dem Mittags- und dem Teegeschirr verbrachte ich jeden Tag von 6 Uhr früh bis 9 Uhr abends in der Abwasch- und Anrichtekammer.20

Die Familie Kimmelmann hatte in Wien im selben Haus wie wir gewohnt und ihr Sohn Hans und ich waren schon lange befreundet.

Zur Zeit des Anschlusses besuchte er eine Privatschule in England und seinen Eltern gelang es, ihm bald nach England zu folgen. Die ersten Tage meines Englandaufenthalts wohnte ich bei ihnen in London. Der Vater war in Wien Anwalt gewesen. Er recherchierte intensiv, welche Berufe die besten Aussichten in der verwirrenden neuen Welt boten, mit der wir konfrontiert waren. Er beschloss, dass die Landwirtschaft die besten Zukunftsperspektiven offerierte, und schickte Hans in eine Landwirtschaftsschule. Freundlicherweise schlug er mir vor, dasselbe für mich zu tun, wenn ich vorher ein Jahr auf einer Farm arbeiten würde. Obwohl die Aussicht, eine Schule zu besuchen, für mich sehr attraktiv war, war es die Rückkehr auf eine Farm, die ich gerade ver-lassen hatte, nicht. Hans aber studierte Landwirtschaft, änderte seinen Namen in John Keeble und wurde ein Spezialist für die künstliche Be fruchtung von Vieh.

Hans und ich trafen uns in Brighton zum ersten Mal nach unse-rer Flucht aus Wien und plauderten viele Stunden. Das war zu der Zeit, als der Krieg in England noch wenig spürbar war, und meinen Tagebuchaufzeichnungen entnehme ich, dass wir Pläne machten, ge-meinsam nach Wien zurückzukehren – sobald der Krieg vorbei war.

Offensichtlich ahnte keiner von uns, was für ein schwieriger Weg vor uns lag.

20 Wenn Pat frei hatte, musste ich seine Dienste als Gepäckträger übernehmen. Als ich das erste Mal das Gepäck eines Gastes in sein Zimmer getragen hatte, lehn-te ich das angebolehn-tene Trinkgeld ab, da man mich gelehrt hatlehn-te, kein Geld von Fremden anzunehmen. Was mag sich der Gast wohl gedacht haben?

Angesichts meiner zweifelhaften Aussichten im Hotelgewerbe war ich verständlicherweise nicht sonderlich unglücklich, als eines Tages zwei Polizisten zu mir kamen und mich höflich baten, sie zur Polizeistation zu begleiten. Ich nahm an, dass ich wieder einmal ein Formular bezüglich meines Status als „feindlicher Ausländer“ ausfül-len sollte. Ich trocknete meine Hände, ließ die Abwasch voll Geschirr und war bereit mitzukommen, als einer der Polizisten vorschlug, eine Zahnbürste mitzunehmen. Es war der 16. Mai 1940, kurz nach der Eva kuierung von Dunkerque, und es wurde mir bewusst, dass mein Leben erneut eine radikale Wendung nehmen würde. Am Weg zur Polizeistation gingen mir viele Gedanken durch den Kopf, aber an einen erinnere ich mich mit großer Befriedigung, nämlich, dass der verhasste Pat an dem Abend das Geschirr abwaschen musste. Godʼs in His Heaven / All’s right with the world.

Auf der Polizeistation waren ein bis zwei Dutzend andere „feind-liche Ausländer“, die verhaftet worden waren, fast alle von ihnen jü-dische Flüchtlinge. Später an dem Abend brachte uns ein Polizeiwagen zum Pferderennplatz von Brighton, dem ersten von mehreren impro-visierten Internierungslagern, die ich in den nächsten Monaten bewoh-nen sollte. Wir wurden in eibewoh-nen großen Raum mit einem Zement boden gebracht und bekamen Leinwandsäcke, die wir mit Stroh füllten, das in einer Ecke hoch aufgetürmt war. Wenn man sie mit der richtigen Menge Stroh füllte, waren sie ganz akzeptable Matratzen.

Lesley war kurz vor meiner Verhaftung von Madam entlassen worden und arbeitete nun als Assistentin der Hausmutter in einem pri-vaten Mädcheninternat in Brighton. Sie erhielt die Erlaubnis, am Tor des Rennplatzes ein Paket mit Kleidung und Essen für mich zu hinter-lassen, aber wir sahen uns erst nach Kriegsende wieder.

Ich war überrascht, als ich Dr. Kimmelmann im Lager in Brighton traf. Für mich war die Internierung eine interessante neue Erfahrung, für ihn aber war sie äußerst schmerzlich. Meine bisherigen Erfahrun-gen gaben mir das Selbstvertrauen, mit allen kommenden Fährnissen der Gefangenschaft zurechtzukommen. Ich vergaß nie den Unter-schied zwischen einem britischen Internierungslager und einem Nazi- Konzentrationslager – und war glücklich, mich in Ersterem zu

befin-den.21 Aber für Dr. Kimmelmann bedeutete die Internierung einen inakzeptablen Verlust an Würde und die Trennung von seiner wunder-baren Frau Anni. Er hatte in Wien immer ein väterliches Interesse an mir gezeigt – ich erinnere mich gut an folgende Begebenheit: Ich war damals 10 Jahre alt und hatte soeben im renommierten Akademischen Gymnasium begonnen. Dr. Kimmelmann war gerade am Nachhause - weg, als er mich auf meinem Roller in die andere Richtung zum Greißler am Ende der Straße fahren sah. Er hielt mich an und ermahn-te mich, dass es für einen Gymnasiasermahn-ten unziemlich wäre, mit einem Roller zu fahren – ein wohlgemeinter Rat in einem klassenbewussten Wien. Er versuchte auch meine Bildung und mein Benehmen in der Öffentlichkeit zu verbessern, indem er mich (mit begrenztem Erfolg) in die Schriften von Nietzsche und Schopenhauer einführte. Als wir uns am Pferderennplatz in Brighton trafen, konnte ich ihm seine Lie-benswürdigkeit vergelten, indem ich seinen Strohsack füllte.

Im Dokument Josef Eisinger Flucht und Zuflucht (Seite 97-101)