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Flucht aus Wien

Im Dokument Josef Eisinger Flucht und Zuflucht (Seite 195-200)

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II. Flucht aus Wien

Ein Epilog zu Papas Erinnerungen

Ich hatte schon lange das Gefühl, dass Papas viel zu kurze Erinne-rungen, die mit der Enteignung seines Geschäfts und der Zerstörung seines Lebensunterhalts endeten, eines Epilogs bedurften. Nachdem es ihm gelungen war, meine Schwester und mich nach England in Si-cherheit zu bringen, waren er und Mutti an der Reihe, aus Wien zu fliehen.

Da Papa ihre beschwerliche jahrelange Fahrt die Donau fluss-abwärts und durch das Schwarze Meer ins Mittelmeer, die mit einem Schiffbruch in Haifa ein Ende fand, nicht erwähnte, habe ich sie im Folgenden rekonstruiert. Mein Bericht beruht auf den Erinnerungen meiner Eltern, die sie mir 1967 erzählt haben und die ich damals auf ein Tonband aufgenommen habe. Ich habe ihre Erzählungen mit Hil-fe von verschiedenen veröfHil-fentlichten Berichten über die „illegalen“

Transporte nach Palästina ergänzt, wobei mir das Buch von William R. Perl besonders nützlich war.41

Die illegalen Palästina-Transporte und Eichmann

William Perl, der Organisator der frühen Transporte, war ein junger erfinderischer Wiener Anwalt, der zusammen mit anderen „revisionis-tischen“ Zionisten und Zionistinnen (Mitglieder der Jugendorganisa-tion Betar) illegale Transporte u. a. von Wien nach Palästina durch-führte. Es war ihre Antwort auf die britische Politik, die Einwanderung

41 Meine Quellen für diesen Anhang umfassen: The Four Front War (1979) und Operation Action (1983) von William R. Perl, ein fesselnder Bericht des wich-tigsten Architekten des Transports; Die Geschichte der Patria von Garson Erich Steiner (1973), ein ehemaliger Passagier; Fluchtwege ins Gelobte Land von der Historikerin Gabriele Anderl (Wiener Zeitung, 1. 5. 1998) und das Transkript von Eichmanns Aussage vor seinem Prozess in Jerusalem 1961.

nach Palästina drastisch zu beschränken, und ihre Bemühungen rette-ten tausende von Juden und Jüdinnen vor ihrer unausweichlichen Ver-nichtung. Die Transporte begannen in kleinem Ausmaß schon vor dem Anschluss 1938 und führten ursprünglich durch den (damals) italieni-schen Hafen Fiume und durch Griechenland. Da es aber unglaublich schwierig war, die notwendigen italienischen und griechischen Tran-sitvisa zu erhalten, fuhren spätere Flüchtlingsgruppen auf Flussschif-fen die Donau hinunter. Für diese Route benötigte man keine Visa, da der Fluss den Status eines internationalen Wasserwegs hatte. In den rumänischen Flusshäfen wurden die Passagierinnen und Passagiere von den Flussschiffen auf vermeintlich seetüchtige Schiffe transfe-riert, die dann in das Mittelmeer fuhren und versuchten nach Palästina zu gelangen, ohne von der britischen Marine abgefangen zu werden.

Obwohl die Verfolgung der österreichischen Juden und Jüdinnen sofort nach dem Anschluss einsetzte, begann die Politik der Deporta-tion und Vernichtung erst im September 1939. Vorher wurde die jü-dische Bevölkerung in die Emigration getrieben, nachdem ihr aller Besitz abgenommen worden war. Immer weniger Länder aber waren bereit, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Tatsächlich wurden jüdi-sche Häftlinge der gefürchteten Konzentrationslager Dachau und Bu-chenwald damals noch oft freigelassen, wenn sie sich für irgendein Land ein Visum beschaffen konnten. Palästina, ein britisches Protek-torat, war das Ziel von vielen, aber die Briten waren streng gegen zu-sätzliche jüdische Einwanderer und Einwanderinnen. Wahrscheinlich buhlten sie um arabische Unterstützung für den Krieg und übten daher starken diplomatischen Druck auf Griechenland und die Türkei aus, den illegalen Flüchtlingen keine Unterstützung zu gewähren. Großbri-tannien setzte zudem die Kriegsflotte (Royal Navy) im östlichen Mit-telmeer ein, um mögliche illegale Immigranten und Immigrantinnen abzufangen. Das ungeheuerlichste Beispiel für die Früchte dieser Po-litik ist die Versenkung der Struma mit fast 800 Flüchtlingen an Bord.

Obwohl das Schiff ein Leck hatte und die Maschinen nicht funktio-nierten, weigerten sich die türkischen Behörden nach langem Hin und Her, es im Istanbuler Hafen zu belassen, und schleppten die Struma durch den Bosporus in die internationalen Gewässer des Schwarzen

Meeres. Dort wurde die Struma torpediert und sank. Ein jüdischer Ru-mäne überlebte, alle anderen, auch die gesamte Besatzung, starben.

Eichmann war der NSDAP und SS 1932 beigetreten und nach einem paramilitärischen Training in Deutschland wurde er dem Si-cherheitsdienst der SS zugeteilt. Nach dem Anschluss wurde er beauf-tragt, die Wiener Juden und Jüdinnen zu vertreiben. Sein Weg kreuzte sich mit dem von William Perl, als dieser verhaftet und von Eichmann verhört wurde, um Informationen über einen anderen Wiener Juden zu bekommen, der der Gestapo entwischt war. Während Eichmann eine Pistole in Perls Rücken setzte, konnte dieser ihn überzeugen, dass er zwar nichts über den Aufenthaltsort des Gesuchten wusste, dass er Eichmann aber behilflich sein könne, Wien „judenrein“ zu machen.

Unter Eichmanns Schutz wäre er in der Lage, jüdische Flüchtlinge ille-gal nach Palästina zu transportieren, was Eichmanns Mission dienlich sein würde und gleichzeitig Großbritannien, das sich bald im Krieg mit Deutschland befinden sollte, in Verlegenheit brächte. Perls Plan war einfach: Mit Mitteln von ausländischen jüdischen Organisatio-nen würde seine Gruppe Flussschiffe chartern und die Flüchtlinge auf der Donau zu einem rumänischen Flusshafen bringen, von wo sie auf seetüchtigen Schiffen nach Palästina geschmuggelt werden würden.

Eichmann ging auf diesen Vorschlag ein und Perl wurde entlassen.

Mit der finanziellen Unterstützung zionistischer Organisationen und mit unglaublich mutigen und genialen Tricks überwand Perl un-zählige Hindernisse und die illegalen Transporte wurden Realität.

Schließ lich retteten sie Tausende Jüdinnen und Juden vor den Natio-nalsozialisten. Nicht alle von ihnen erreichten Palästina: Manche fielen den Nazis wieder in die Hände und wurden ermordet, andere erlitten Schiffbruch und ertranken; die Constanta wiederum wurde mit 350 Flüchtlingen an Bord torpediert und die Überlebenden mit Maschinengewehren getötet. Neueren Forschungen zufolge retteten sich auf verschiedenen Wegen etwa 15.000 jüdische Flüchtlinge nach Palästina.

Ich erfuhr zum ersten Mal von Perls bemerkenswerten Helden taten von meinem alten Freund Paul Roth im Jahr 1990. Er kannte Perl, der damals ein Anwalt in Washington, D. C., war. Paul und ich kannten

einander seit unserer Kindheit, als wir – wie bereits erzählt – mit un-seren Familien die Sommerferien in demselben kleinen Gasthof in den österreichischen Alpen verbracht hatten. Obwohl ich meine Geschich-te über die Flucht meiner ElGeschich-tern gerade erst begonnen habe, werde ich kurz abschweifen, um die Geschichte von Pauls Vater, Aladar Roth, zu erzählen.

Kapitän Roth

Aladar Roth hatte bei mir als Bub einen tiefen Eindruck hinterlassen, nicht nur wegen seiner Statur und seines eindrucksvollen Schnurr-barts, sondern weil er allgemein als Kapitän bekannt war. Er hatte im Ersten Weltkrieg in der österreichisch-ungarischen Marine gedient, bevor Österreich zu dem kleinen Binnenstaat geschrumpft war, in dem ich aufwuchs. Aladar Roth wurde im ungarischen Städtchen Paks am Ufer der Donau, etwa 90 km flussabwärts von Budapest, geboren.

In Sichtweite des Flussverkehrs auf der Donau aufwachsend, war der Bub zum Seemann bestimmt. Als er 16 war, bat er seinen Vater, einen erfolgreichen Anwalt, ihn an die Marinehochschule in Triest gehen zu lassen. Obwohl sein Vater dies vehement ablehnte und sogar einen Be-amten der Akademie bestach, seinen Sohn abzulehnen, wurde Aladar aufgenommen und er schloss sein Studium in der Regelzeit ab. Als er einmal als Bootsmann auf einem Passagierschiff Richtung Alexand-ria arbeitete, fiel der Lenkmechanismus aus, doch das Schiff erreichte trotzdem seinen Hafen – dank einer Nottakelung, die Roth einrich-tete. Zufällig waren die Eigner der Dampfschiffslinie während dieses Missgeschicks an Bord und sie waren so beeindruckt von Roths Fä-higkeiten, dass sie ihm das Kommando über eines ihrer Schiffe anbo-ten. Die ser Umstand überzeugte Aladars Vater, sich mit den maritimen Plänen seines Sohnes anzufreunden. Gemeinsam mit einem anderen Anwalt, dessen Tochter später Aladar heiratete, gründeten sie eine Dampf schiffslinie und schenkten dieselbe ihren beiden Kindern. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, beschlagnahmte die Regierung die drei Schiffe der Linie und Roth wurde für die österreichisch-ungarische

Marine verpflichtet. Im Laufe des Krieges wurden alle drei Schiffe durch alliierte Torpedos versenkt, und als Roth großzügig entschädigt wurde, investierte er diese Mittel in österreichische Kriegsanleihen.

Nach dem verlorenen Krieg waren die Anleihen wertlos, Triest wurde an Italien abgegeben und die Familie verlor ihr prächtiges Haus in Triest und ihr gesamtes Vermögen. Sie übersiedelte in möblierte Zim-mer in Wien und einige Jahre später trafen sich unsere Familien.

In den bangen Tagen nach dem Anschluss traf William Perl einige Zeit nach seinem Verhör durch Eichmann zufällig Aladar Roth auf der Wiener Ringstraße. Er wusste, dass Roth ein erfahrener Seefahrer war, und drängte ihn, einen der illegalen Transporte zu übernehmen. Roth willigte unter der Bedingung ein, dass sein Sohn Paul beim nächsten Transport dabei sein würde. Diese Vereinbarung kam zustande, Pauls Schiff kam durch die Blockade der britischen Marine und lief in der Nähe von Tel Aviv auf Sand. Paul kam letzten Endes nach New York, wo sich unsere Wege wieder kreuzten.

Es ist verständlich, dass Kapitän Roth eine Inspiration für mich gewesen war, als die Nazis Juden stereotypisierten und verleumdeten.

Ich sah in ihm ein Beispiel eines Juden, der ein unkonventionelles und abenteuerliches Leben führte, was mich während meiner Emigrations-jahre tröstete, als ich Knecht, Tellerwäscher, Holzfäller, Zimmermann, Soldat und Seemann war.

Ein knappes Entkommen

Nachdem man ihnen ihren Lebensunterhalt und Besitz genommen hatte, erhielten Papa und Mutti den offiziellen Befehl, sich zur De-portation nach dem „Osten“ zu melden. Obwohl es damals noch nicht allgemein bekannt war, führten die Deportationen schließlich fast ausnahmlos in den Tod.42 Papa wandte sich umgehend an den

42 Die Nazis waren nicht nur als Mörder bekannt, sondern auch als geübte Diebe.

Nur einen Monat nach dem Anschluss mussten alle Juden und Jüdinnen ein For-mular ausfüllen, in dem sie alle ihre Besitztümer anführten („Verzeichnis über

Abwickler seines Geschäfts und bat ihn um einen Brief, in dem er die Notwendigkeit seiner Anwesenheit bei der Liquidierung des Ge-schäftes bestätige. Der Mann antwortete: „Ja, warum nicht?“ Dank dieses Briefes wurde Papas und Muttis Deportation um zwei Wochen verschoben und während dieser Frist gelang es ihnen, zwei Plätze auf einem Donau dampfer, der kurz vor der Abfahrt stand, zu ergattern.

Ende 1939 gingen Papa und Mutti auf das übervolle Donauaus-flugsschiff, begleitet von Spott und Beschimpfungen der versammel-ten Polizei, Gestapo und SS-Männer. Das Schiff kam nicht weiter als bis Preßburg (Bratislava), etwa 80 km flussabwärts von Wien und gerade über die österreichisch-slowakische Grenze, wobei die Slo-wakei damals bereits ein faschistischer Marionettenstaat war. Da die Donau zugefroren war, wurden alle Flüchtlinge in einer verlassenen Munitionsfabrik, die man „Patronka“ nannte, interniert und von der örtlichen jüdischen Gemeinde verpflegt. Sie konnten ihre Reise erst im September 1940 fortsetzen, als sie einen Ausflugsdampfer einer kleinen gecharterten Flotte bestiegen, die die Schiffe Melk, Schön-brunn, Uranus und Helios umfasste. Diese Dampfer waren ursprüng-lich für je 150 Urlauber und Urlauberinnen ausgerichtet, aber auf dieser Fahrt waren alle mit mehr als 1.000 verzweifelten Männern, Frauen und Kindern belegt. Abgesehen von meinen Eltern und an-deren Wiener Jüdinnen und Juden gab es Gruppen zionistischer Ju-gendlicher aus Brünn, Prag und Danzig und auch fünfzig Männer, die gerade aus dem Konzentrationslager Buchenwald entlassen worden waren. Die vier Schiffe führten von Anfang an extrem wenig Essen und Wasser mit, die sanitären Anlagen waren entsetzlich, und als sie die Donau flussabwärts fuhren, wurden sie von Motorbooten mit Gestapoleuten eskortiert. Nachdem sie hunderte Kilometer durch

Un-das Vermögen von Juden“). Ich habe eine Kopie des Formulars meines Vaters erhalten, in dem er sein Geschäft und seinen persönlichen Besitz auflistet, bis zu der goldenen Uhrkette (20 DM) und seinem Ehering (10 DM). Ich erhielt auch eine Kopie von Papas späteren Brief an die Vermögensverkehrsstelle vom Jänner 1939, in dem er ersucht, dass das Original berichtigt werde, da sein Geschäft und sein Auto in der Zwischenzeit konfisziert worden waren.

Im Dokument Josef Eisinger Flucht und Zuflucht (Seite 195-200)