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Erkenntnisse aus dem Lagerleben

Im Dokument Josef Eisinger Flucht und Zuflucht (Seite 122-129)

Die Erinnerungen an meine Internierung aufzuschreiben war auf-wühlend, vielleicht kann man mir daher die folgenden nachdenkli-chen Zeilen verzeihen. Ich habe die Zeit, die ich hinter Stacheldraht verbrachte, immer als eine „gute Sache“ in meinem Leben gesehen.

Wenn nicht schon die Emigration, dann hat die Internierung mir den Wert der Anpassungsfähigkeit an geänderte Bedingungen vor Augen geführt – eine Lehre, die Charles Darwin verstanden hatte, ganz zu schweigen von meinen Vorfahren, die Umstände meisterten, die selten stabil oder freundlich waren.

Diese Monate der Internierung haben nicht nur mein Leben in eine neue Richtung gelenkt, sondern haben mir auch die große Vielfalt der Menschheit aufgezeigt. Wie sonst würde man Zirkusakrobaten, See-fahrer und Mathematikprofessoren auf Augenhöhe kennenlernen? Si-cher war der Verlust der Freiheit und der Privatsphäre schmerzhaft (nicht einmal unsere Toiletten hatten Türen), aber wir wurden mit Es-sen versorgt und hatten ein Dach über dem Kopf, wir wurden grund-sätzlich menschlich behandelt und waren der Mühe enthoben, unseren Lebensunterhalt zu verdienen oder für andere verantwortlich zu sein.

Wir hatten Zeit miteinander zu reden, zu lesen, neue Fertigkeiten zu erlernen, Freundschaften zu schließen. Während draußen in der Welt der Krieg tobte, fanden wir uns in einer Art klösterlicher Gemeinschaft wieder – gewissermaßen in einem Shangri-La.

Einige Freundschaften, die im Lager geschlossen wurden, dauer ten ein Leben lang. Nach unserer Freilassung teilten Walter Kohn und ich eine Dachkammer im Haus der Mendels in Toronto und wir studierten gemeinsam, durch ein Jahr getrennt, an der Universität von Toronto.

Wir gingen gemeinsam zur Armee und nach unserem Universitäts-abschluss erhielten wir beide ein Stipendium in Cambridge, er an der Harvard University und ich am Massachusetts Institute for Techno-logy (MIT). Erst als Walter nach Kalifornien ging, trennten sich unsere Wege, aber auch danach trafen wir einander oft bei wissenschaftlichen Kongressen und bei den Bell Laboratories, wo er manchen Sommer arbeitete. Auch mit ein paar anderen Ex-Internierten, mit denen mich

die gemeinsame entscheidende Erfahrung verband, blieb ich in Kon-takt: Walter Michel, Martin Ostwald, George Sanger, Eric Koch, Joe Kates, Paul Pfalzner. Helmut Kallman, ein weiterer Ex-Internierter, gab ab 1999 eine Zeit lang einen Newsletter mit Erinnerungen ehe-maliger Insassen in kanadischen Lagern heraus. Die Kommentare, die darin erschienen, zeigten die bedeutende Rolle, die die Internierung in unserem Leben gespielt hatte, und riefen Erinnerungen an das Lager-leben wach – nicht ohne einen Hauch von Nostalgie.

Auf den Holzbänken der Freizeitbaracke im Camp B lernte ich die klassische Musik schätzen. Dort gaben internierte Musiker gele-gentlich Konzerte und dort hörten wir auch die Übertragungen aus New York, über das einzige Radio im Lager, das auf der Bühne der Erholungsbaracke aufgestellt war.26 Als ich später Hertha und Bruno Mendel Mozartsonaten spielen hörte, erwachte in mir der Wunsch, mit anderen zu musizieren. Ich tauschte die Blockflöte, die ich im Camp B gekauft hatte, gegen eine hölzerne Querflöte, die mir die Mendels schenkten, und ein Bekannter von ihnen, der Geiger Eugene Kash, spendierte mir ein paar Stunden Unterricht mit dem ersten Flötisten des Toronto Symphony Orchestra. Ich war gut genug, um (später mit einer Böhm-Silberflöte) im Universitätsorchester und schließlich im MIT-Symphonieorchester zu spielen.

Am MIT führten wir einmal Mendelssohns Oratorium Elias auf, wobei mich ein Cello-Solo („Ich habe genug...“) so rührte, dass ich beschloss, mein Instrument zu wechseln, ein Cello zu kaufen und ein paar Stunden zu nehmen. Als ich ein paar Jahre später nach New York zog, studierte ich bei den Cellisten Rainer und Rosanoff und spielte im Greenwich Village Symphony Orchestra. Wir probten einmal pro Woche, meistens in der Judson-Kirche am Washington Square, und da ich meinte, dass ich noch einige Stunden benötigte, engagierte ich

26 Als eine der wenigen Verbindungen nach außen spielte ein hölzerner Radioappa-rat eine wichtige Rolle im Lagerleben. Das wusste auch der Lagerkommandant, der die Insassen manchmal damit bestrafte, indem er eine der Vakuumröhren entfernen ließ. Am 7. Dezember 1941 wurde das Konzert der New York Phil-harmoniker unterbrochen, um über den Angriff der japanischen Marine auf Pearl Harbor zu berichten.

die Stimmführerin der Cellos – meine geliebte spätere Frau Styra.

Manche sagen, dass dies meine teuersten Cello-Stunden gewesen sind. In den nächsten fünfzig Jahren drehte sich mein Leben ebenso viel um Musik wie um Naturwissenschaft. In unserem Haus fanden zahllose Proben und Kammermusikstunden statt, am bekanntesten wa ren die Neujahrskonzerte, die wir ab den 1960er Jahren in Minetta Banks ab hielten.27 Durch Styras musikologische Beschäftigungen fin-de ich mich seit dreißig Jahren in einer wohligen Ménage-à-trois mit Johannes Brahms.

Ich habe Großbritannien die unangebrachte Internierungspolitik in diesen dunklen, furchterregenden Zeiten kurz nach dem Fall Frank-reichs nie übelgenommen. Andere ehemalige Internierte aber, wie der Nobelpreisträger Max Perutz, den ich 1981 in Cambridge besuchte, waren nach vielen Jahren immer noch darüber erbost. Ob die Inter-nierung positiv oder negativ wahrgenommen wurde, hing vom Cha-rakter und anderen Umständen ab. Eine ganze Nation für verfehlte Entscheidungen ihrer Regierung verantwortlich zu machen, schien mir aber immer sinnlos und ich hüte mich davor. Ich habe zum Bei-spiel mit meinem Freund George Feher in Bezug auf Großbritannien nie übereingestimmt: Er hatte in Palästina unter britischer Herrschaft gelebt und war über die schreckliche Einwanderungspolitik Groß -

27 Minetta Banks war der Name, den Alison unserem Haus, West Houston Street 197, gegeben hat. Als das Haus 1820 gebaut wurde, lag es am Ufer des (jetzt un-terirdischen) Minetta-Bachs, der in den Hudson mündet. Die Hauskonzerte waren ziemlich eindrucksvoll, sowohl im Ausmaß als auch in ihrer Qualität. Die meisten Mitwirkenden waren Berufsmusiker und Berufsmusikerinnen – vermutlich ließen sie mich mitspielen, weil ich der Gastgeber war. In einem Jahr gelang es Styra, all die Instrumentalisten zu versammeln, die für die sechs Brandenburgischen Konzerte benötigt werden – Streicher, Cembalo, Holzbläser, Bachtrompete, Wald horn und Fagott. Wir spielten also die sechs Brandenburgischen Konzerte.

Meistens begannen wir am Nachmittag, wobei sich Wohnzimmer und Küche mit den Musizierenden und Zuhörenden füllten. Im Laufe des Abends sank die Zahl und um zwei Uhr früh schrumpften die Ensembles zu Trios und Sonaten. Wir servierten natürlich auch ein köstliches Buffet (Liptauer und Fleischsalat waren traditionell und sehr beliebt), dazu Bier und Wein, um unsere Gäste zwischen den musikalischen Darbietungen zu erfrischen.

britanniens verbittert,28 während ich Großbritannien bewunderte – das Land, das schließlich fast allein Hitler die Stirn bot und bereit war, 10.000 jüdische Kinder, die vor den Nazis in eigens zusammengestell-ten Transporzusammengestell-ten flüchtezusammengestell-ten, aufzunehmen. Allerdings war ich eines die ser Kinder gewesen.

28 Nach seiner Flucht aus Bratislava über den Balkan und die Türkei nach Palästina hatte George in den letzten Tagen des Britischen Mandats gegen die Engländer gearbeitet, indem er ihre Telephongespräche abhörte und ein sicheres Kommunikationssystem für die Haganah aufbaute.

Das polnische Passagierschiff MS Sobieski, das mich – und ein paar hundert andere – nach Kanada transportierte.

1941 kam ein Fotograf in das Lager und machte diese Aufnahme von sechs eng befreundeten Häftlingen.

1. Reihe (unten von links): Walter Odze, George Sanger, Pepi Weininger

2. Reihe (oben von links): Walter Michel, ich, Walter Kohn

Oben:

Unser Lagerlied (Camp Song): You‘ll get used to it / you‘ll get used to it / the first year is the worst year / then you get used to it. / You can kick and you can shout / they will never let you out / They locked you up / you so-and-so / Why weren‘t you / a naturalized Eskimo? [...]

Rechts:

Die Brücke zwischen unserer Festungsinsel im St.-Lawrence-Fluss und Montreal. Sie war für mich ein Symbol der Freiheit. Bleistiftzeich-nung von mir

Oben:

Der Brief in dem Hertha Mendel mir und Walter Kohn mitteilt, ihre Familie möchte uns sponsern und uns einladen, bei ihnen zu wohnen.

Links:

Hertha Mendel, 1943

4. Student und Soldat

Im Dokument Josef Eisinger Flucht und Zuflucht (Seite 122-129)