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Internationale Migration

Im Dokument Neue Medien (Seite 27-38)

2 Theoretische Grundlagen

2.1 Internationale Migration

Ausgehend von den Erkenntnissen der Migrations- und Mobilitätsforschung ist festzuhalten, dass die Ursachen, Formen und Intensität sowie Folgen der räumlichen Bewegungen der Menschen entsprechend der jeweiligen Kontext-bedingungen äusserst komplex und vielfältig sein können. Als Folge davon liegt in der Migrationsforschung – je nach der Disziplin und der Perspektive sowie dem zu beobachtenden Aspekt und der zu berücksichtigenden Dimen-sion – eine genauso breite Spannweite von theoretischen Ansätzen wie auch Begrifflichkeiten zu Migration vor. Unabhängig von der in der Migrations-forschung herrschenden terminologischen Komplexität manifestiert sich eine Einigkeit jedoch darüber, dass die Sesshaftigkeit ein in der Menschheitsge-schichte sehr spät aufgetretenes Phänomen, hingegen Wanderung bzw. die räumliche Bewegung des Menschen ein historisches Kontinuum ist. So wurde die Kulturgeschichte der Menschheit verschiedentlich als eine Geschichte der Wanderungen bezeichnet und umgekehrt (Hoffmann-Nowotny 1970; Bade 2010; Düvell 2006). Dennoch erscheint es als sinnvoll, eine knappe Darlegung des Begriffs Migration und einer Auswahl von Ansätzen sowie Typologien, die in Bezug auf die vorliegende Studie Relevanz besitzen, überblicksartig zu präsentieren, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

2.1.1 Begrifflichkeit

Ungeachtet der divergierenden Auffassungen des Phänomens Migration, ist allen Definitionen gemeinsam, dass generell Aspekte der räumlichen Mobi-lität essenziell sind oder mit Hoffmann-Nowotnys (1970: 53) Worten, «dass sie ‹Migration› als Subkategorie einer allgemeineren Oberkategorie ansehen, die man etwa als ‹Bewegung von Einzelpersonen oder Gruppen im Raum›

definieren könnte». Bade (2010: 4) schlägt vor, «zwischen der Bewegung in geographischen und sozialen Räumen» zu unterscheiden. William Petersen (1961: 53) sieht etwa kulturelle Differenzen der gesellschaftlichen Systeme des Abstammungs- und Ziellandes als Voraussetzungen einer Migrations-definition. Samuel N. Eisenstadt (1954: 1) und J. E. Ellemers (1964: 43) definieren Migration “as the physical transition of an individual or a group from one society to another” bzw. “a more or less permanent transition from one socio-cultural environment to another”, während Everett S. Lee (1966:

49) schon “a permanent or semi-permanent change of residence” als Migra-tion bezeichnet (zitiert in Hoffmann-Nowotny 1970: 51 f.). Nach Annette Treibels (1999: 21) Definition ist Migration «der auf Dauer angelegte bzw.

dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen» (vgl. auch Haug 2000: 1;

Han 2000: 7 ff.).

2.1.2 Theoretische Ansätze zur Erklärung internationaler Migration Zur theoretischen Erklärung internationaler Migrationsbewegungen liegt mittlerweile ein faktisch undurchschaubarer Literaturbestand vor, so dass ein vollständiger Überblick über die diesbezüglichen theoretischen Ansätze äusserst erschwert ist (vgl. Kalter 2000: 438). Dennoch lassen sich die bis Ende letzten Jahrhunderts dominierenden Ansätze klassischer Tradition unter zwei Hauptkategorien, nämlich die Makro- und die Mikro-Ansätze, subsumieren. Makrotheoretische Argumentationen stützen sich zur Erklä-rung internationaler Migrationsphänomene auf wandeErklä-rungsverursachende strukturelle Push-/Pull-Faktoren der betreffenden Gesellschaften. In dieser Kategorie sind vornehmlich bevölkerungsgeographische (Ravenstein 1972 [1885]), makroökonomische (Todaro 1969), systemtheoretische Ansätze (Massey et al. 1993; Sassen 1996) und die Segmentationstheorie – Theorie des dualen Arbeitsmarktes (Piore 1979) anzutreffen. Mikrotheoretische Erklä-rungskonzepte richten hingegen den Blick in erster Linie auf die Präferenzen, Erwartungen und Motivation sowie das vornehmlich auf eine ökonomisch orientierte Kosten-Nutzen-Kalkulation basierende Entscheidungsverhalten der Akteure. Zu nennen sind vor allem die Neoklassische Mikroökonomie (Sjastaad 1962), die «New Economics of Migration» (Stark 1991) und mehrere Versionen der Entscheidungstheorien (Gardner/Fawcett 1981; Esser 1980).

Den Ausgangspunkt der neueren theoretischen Konzepte der letzten zwei Dutzend Jahre zur Erklärung internationaler Migrationsphänomene bilden dagegen nicht direkt ökonomische Aspekte, sondern Migrationsnetzwerke (Fawcett 1989) bzw. das Sozialkapital (Portes 1995; Haug 1997) und der eng mit diesen beiden letztgenannten Ansätzen korrespondierende Begriff Kettenmigration (Fawcett 1989) sowie die transnationale Migration (vgl.

Haug 2000; Faist 1997).

Makro- und mikrotheoretische Ansätze

Ernest Georg Ravenstein (1972 [1885]) gilt in der Geschichte der Migrati-onsforschung als Wissenschaftler, der mit seinem bevölkerungsgeographischen Gravitationsmodell einen ersten Versuch unternommen hat, das komplexe Phänomen der Binnen- und internationalen Wanderungen zu analysieren.

Auf der Basis der Datensätze zur Bevölkerungsentwicklung im England des 19. Jahrhunderts formulierte er als Erster bestimmte «Gesetzmässigkeiten»

respektive entwarf er ein Modell zur Erörterung von Wanderungsprozessen.

Dabei unterstreicht Ravenstein neben den Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften, die geographische Distanz und die unter-schiedlichen Bevölkerungsgrössen zwischen der Herkunfts- und Zielregion als die Richtung und die Intensität der Wanderungsbewegungen bestimmende Faktoren. Unabhängig der Tatsache, dass Ravensteins Gesetzmässigkeiten bzw.

ihre «empirische Gültigkeit für andere Zeiten und Regionen» (Faist 1997:

65) längst in Frage gestellt werden, bilden Ergebnisse seiner Studie für die nachfolgende Migrationsforschung bzw. Entwicklung weiterer theoretischer Erklärungsansätze, zumal für die neoklassischen und ökonomischen Ansätze, eine wichtige Basis. Nicht zuletzt deshalb, weil seiner Analyse die Annahme zugrunde liegt, dass die Hauptmotivation der Menschen zur Wanderung in ihren Wünschen nach möglichen Verbesserungen ihrer materiellen Lebens-bedingungen liegt (vgl. Kalter 2000: 440 f.). So wurde in Anlehnung an Ravensteins Modell zunächst eine erste Reihe makrotheoretischer Ansätze zur Erklärung des Migrationsgeschehens entwickelt. Diese ersten Theorien waren interessiert, zusätzliche Faktoren, welche «für die Höhe und Struk-tur der Migrationsbewegungen» (Haug/Sauer 2006: 17 f.) von Bedeutung waren, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zu identifizieren. Den Ansätzen dieser Tradition liegt generell ein Push- und Pull-Paradigma2 (Lee 1966) zugrunde. Sie interpretieren Migrationsphänomene auf der Basis gesellschaft-licher Opportunitätsstrukturen (Piore 1979) und vorwiegend aus ökonomi-schen – teilweise auch aus politiökonomi-schen und bevölkerungsdemographiökonomi-schen Perspektiven. Dies jeweils unter der Prämisse, dass in den Herkunfts- und Zielländern diesbezüglich asymmetrische Verhältnisse herrschen (Düvel 2006). Es werden strukturelle Bedingungen einer nationalen Volkswirtschaft, Differenzen betreffend Lohn- und Arbeitslosigkeitsniveau und das Angebot an/die Nachfrage nach Arbeitskräften (Todaro 1969; Piore 1979) sowie die politischen Systeme in den jeweiligen Ländern berücksichtigt (Han 2006).

Eine qualitative Erweiterung erfuhren diese, vor allem auf Herkunfts- und Zielland-Paradigma bezogenen theoretischen Erklärungen durch den Beitrag von Vertretern der weltsystemtheoretischen Ansätze, welche Mig-ration als ein Teilsystem des gesamtkapitalistischen Weltmarktes, überdies als eine Folge interner Dynamik zwischen Peripherien und Zentrum des Weltsystems interpretierten (vgl. Massey et al. 1993; Sassen 1996). Aus der Perspektive der Weltsystemtheorie betrachtet, ist die Arbeitskräftewanderung einerseits auf die regional unterschiedlichen ökonomischen Wachstumsra-ten bzw. ungleiche Verteilung von Reichtum und Ressourcenausnutzung,

2 Als Push-Faktoren werden generell Faktoren in den Herkunftsgesellschaften bezeichnet, welche die Bürger zur Auswanderung motivieren oder nötigen. Analog dazu werden die Konstellationen der Aufnahmegesellschaften, welche Menschen anziehen, unter den Pull-Faktoren zusammengefasst.

andererseits auf die ungleiche regionale Verteilung der Weltbevölkerung zurückzuführen. Somit determinieren die Disparitäten zwischen Ländern bezüglich Über- und Unterangebot an Arbeitskräften die Richtung jeweiliger internationaler Arbeitsmigration. Insofern wird dabei die Bedeutung der globalen Marktmechanismen hervorgehoben, bei gleichzeitiger Relativierung der Rolle der Nationalstaaten (vgl. Düvell 2006: 94 f.). So formulierte Mas-sey die These, dass «internationale Migration typischerweise nicht aufgrund individueller Kosten-Nutzen-Rechnungen entsteht, sondern im Rahmen umfassender sozialer, ökonomischer und politischer Umwälzungen, die mit dem Übergreifen kapitalistischer Märkte auf nicht marktwirtschaftlich oder vormarktwirtschaftlich organisierte Gesellschaften einhergehen» (Massey 2000: 55; zitiert nach Haug/Sauer 2006: 21).

Hans Joachim Hoffmann-Nowotny (1970) entwickelt seinen Ansatz zur Untersuchung der Migrationsprozesse in Anlehnung an die Theorie struktureller und anomischer Spannungen von Peter Heintz. Dem Ansatz (1970: 35), der in der Literatur generell dahingehend interpretiert wird, dass er einen kausalen Zusammenhang zwischen den strukturellen Faktoren der Makroebene und den individuellen Faktoren der Mikroebene herzustellen versucht (vgl. Nauck 1988). Demnach liegen die Ursachen der Herausbildung individueller Motive für Migration vor allem in den Makro-Determinanten wie den Rahmenbedingungen des jeweiligen Landes, in dessen sozialen Strukturen, innerhalb derer sich die sogenannten strukturellen Spannungen bilden (vgl. Hoffmann-Nowotnys 1970: 33). Diese Überlegung geht von der grundlegenden Annahme aus, «dass in ‹modernen› sozietalen Systemen Macht und Prestige tendenziell nicht übereinstimmen» (ebd.: 35), sondern eine differenzielle Verteilung bzw. Zugänglichkeit von Macht und Prestige3 vorherrsche. Zudem bestehe in sozietalen Systemen «eine Tendenz zur Anglei-chung von Macht an Prestige» (Nauck 1988: 20). Dem Konzept nach kann ein Macht-Prestige-Ausgleich generell durch verschiedene Formen anomischen Verhaltens erreicht werden. Eine der möglichen Optionen wäre eine Auswan-derung als eine spezifische Form der Mobilität. Diese Wahl wird insbesondere dann relevant, wenn eine hohe Gesamtspannung in einem System, verbunden mit dem Bestreben nach der Erhaltung des internen Status quo, vorliegt.

Folglich interpretiert Hoffmann-Nowotny (1970: 98) die Migration als ein Instrument, mit dessen Hilfe anomische «Spannungen transferiert, d. h. im Emigrationskontext abgebaut, im Immigrationskontext aufgebaut werden»

3 Im theoretischen Konzept von Hoffmann-Nowotny (1970: 26) wird Macht als «der Grad, zu dem ein Anspruch des Akteurs auf Teilhabe an zentralen sozialen Werten durchgesetzt werden kann», definiert und Prestige als «der Grad, zu dem der Anspruch von Akteuren auf Teilhabe an zentralen sozialen Werten oder ihr Besitz als legitim angesehen wird».

(ebd.: 34 f.), was auch bedeutet, dass «sozietale Einheiten ihre Positionen auf Statuslinien verändern, also eine vertikale Mobilität erfahren». Bezogen auf Individuen, heisst dies, dass diese ihre bisherige Mitgliedschaft in einem spannungsreichen Kontext aufgeben, in der Hoffnung, einem spannungs-ärmeren Kontext beitreten zu können. Dadurch wird die räumliche Mobili-tät zu einer von möglichen Strategien des Spannungsabbaus/-transfers (vgl.

Treibel 1999: 87 ff.).

Hierauf Bezug nehmend ist die Erwähnung des 1970 erschienenen Konzepts des US-amerikanischen Nationalökonomen Albert Hirschman Exit, Voice and Loyality von Bedeutung. Hirschman (1974: 3 ff.) entwickelte sein Konzept zur Darlegung möglicher reaktiver Handlungsszenerien der Akteure auf eingetretene Leistungsverschlechterungen, ihre unerfüllten Erwartungen oder ihre Unzufriedenheit mit den Unternehmungen, aber auch mit Organi-sationen oder Staaten. Wie der Titel des Konzeptes bereits verrät, subsumiert der Forscher mögliche reaktive Handlungsweisen der Akteure unter drei Kategorien: Abwanderung, Widerspruch und Loyalität. Übertragen auf das Phänomen Migration würde die Reaktionsweise Abwanderung etwa dem Spannungsabbau (durch Auswanderung) bei Hoffmann-Nowotny entsprechen.

Die Handlungsweise Widerspruch (in Form von Protest- oder Widerstandsver-halten) charakterisiert dagegen Versuche der Akteure, ungünstige Zustände zu ihren eigenen Gunsten zu verbessern, anstatt ihnen auszuweichen. Während die Möglichkeit einer Abwanderung als Reaktionsweise die Wahrscheinlich-keit eines bedeutsamen und wirkungsvollen Widerspruchs stark dezimieren kann, kann die Existenz von Loyalität bei den Individuen (bspw. dem Staat, der Herkunft gegenüber) die Neigung zur Abwanderung schwächen – dies gilt unter Umständen auch für die Reaktionsweise Widerspruch, wobei die Handlungsweise Widerspruch auch als Ergänzung zur Abwanderung wirksam in Erscheinung treten kann (vgl. Hirschman 1974: 25 ff., 65 ff.).

Im Gegensatz zu den Ansätzen der Makroebene stellen Ansätze der Mikroebene das handelnde Individuum – hier den potenziellen Migran-ten – in den Mittelpunkt ihrer Modellierungen. Die Grundannahme dieser theoretischen Modelle der Rational-Choice-Linie ist, dass soziale Prozesse resp. Phänomene generell auf rationale Entscheidungen und interessengelei-tetes bzw. nutzenmaximierendes Handeln der Akteure zurückzuführen sind.

Demzufolge basieren Entscheidungen der Individuen jeweils auf eigenen Präferenzordnungen und rationalen Kosten-Nutzen-Überlegungen. Hierzu können mit Kalter (2000: 452 ff.) speziell zwei Ansätze als mikrotheoretische Modellierungen in der Migrationsforschung hervorgehoben werden, die eine Grundlage zur Entwicklung der Ansätze dieser Tradition liefern: Die Theorie von Wanderung (Lee 1966) als eine individualistische Interpretation des Push-Pull-Paradigmas und das Humankapitalmodell (Sjaastad 1962). So

dienten diese beiden Ansätze sowohl bei der Entwicklung des Wert-Erwar-tungsansatzes als auch des SEU-Modells – SEU steht für Subjective Expected Utility – (De Jong/Fawcett 1981) als Grundlage. Die beiden letzteren Ansätze interpretieren Migrationsentscheidungen der Akteure als Summe der Werte ihrer mit einer Auswanderung verknüpften Erwartungen. Dabei basieren die Entscheidungen «auf einer Kalkulation subjektiv evaluierter Faktoren in Relation zu den Zielen der Akteure» (Haug/Sauer 2006: 16) und die Migrationsentscheidungen bzw. -kalküle müssen sich – im Gegensatz zu den ökonomischen Theorien – nicht unbedingt auf vollständige Informationen stützen, es reichen subjektive Einschätzungen. Die Wert-Erwartungskonzepte berücksichtigen zusätzlich zu den Faktoren in der Herkunfts- und Zielregion (nach dem Push- und Pull-Paradigma) auch sogenannte intervenierende Faktoren sozialer, kultureller und politischer sowie soziodemografischer Art.

Dabei wird einkalkuliert, dass zum einen einbezogene Faktoren individuell unterschiedliche Wirkungen zeigen können, zum anderen nicht die Faktoren als solche für die Wanderung relevant sind, sondern ihre Perzeption durch die Akteure (vgl. Haug/Sauer 2006: 16; Kalter 2000: 452 ff.). Im Unterschied zum Wert-Erwartungsansatz unterstreicht das SEU-Modell die Subjektivität des erwarteten Nutzens einer Migration besonders. Weitere theoretische Beiträge (Stark 1991) berücksichtigen soziale Einheiten wie Familien und Haushalte als kollektive Entscheidungsinstanzen mit (vgl. Haug 2000; Faist 1997; Massey et al. 1993).

Stellt man die Argumente der hier kurz aufgeführten klassischen Erklärungsansätze der Wanderung zusammen, wird ersichtlich, dass sie zur Erklärung der internationalen Migration fraglos wertvolle theoretische Bei-träge liefern. Dennoch wird ihnen gegenüber verbreitet der Einwand erhoben, sie seien reduktionistisch. Diese Kritik formuliert, dass Modelle besagter Traditionslinie das Migrationsgeschehen nicht als Ganzes, mitsamt seinen gesellschaftlichen Zusammenhängen, betrachteten, sondern sich meist auf bestimmte Teilaspekte des Phänomens konzentrierten und den Blick «auf die punktuellen Ereignisse von Abwanderung (Abmeldung/Abreise) bzw. Zuwan-derung (Ankunft/Anmeldung) […]» lenkten (Bade 2010: 6). Nichtzuletzt deshalb betont Bade die Notwendigkeit einer kontextuellen Betrachtung der Migration, die «als soziales und kulturelles Phänomen verstanden, […]

ein[en] ganzheitliche[n] Entwicklungs- und Erfahrungszusammenhang» (ebd.) darstellt. Zudem gehen die besagten klassischen Modelle – geleitet von den transatlantischen Wanderungen der letzten zwei Jahrhunderte – generell von der Prämisse der linearen und bipolaren Migration aus, dass Menschen von einem politisch-geografisch definierten Raum zu einem anderen migrieren und zwar dauerhaft, was jedoch mit der Einwanderungsrealität im konti-nentalen Europa ab den 1950er Jahren kaum übereinzustimmen scheint

(vgl. Kokot 2002: 99). Zudem können klassische Ansätze zur Erklärung des Migrationsphänomens bspw. nicht erklären,

warum nicht alle oder viele mit – theoretisch – denselben Bedingun-gen ausgestattete Menschen eine Auswanderung antreten (können), sondern nur ein sehr minimaler Teil unter ihnen;

warum Personen aus bestimmten Regionen emigrieren – und sich dies meist zu einer Kettenmigration entwickelt –, aber Bewohner aus den benachbarten Ortschaften, die ebenso als potenzielle Migranten betrachtet werden können, sich für einen Verbleib entscheiden.

Insofern sind die betrachteten klassischen Migrationstheorien zur Erklärung des Phänomens Wanderungen als Ganzes als notwendig, aber kaum als hin-reichend zu bezeichnen. Folglich ist die in den letzten Jahrzehnten in der Migrationsforschung zu beobachtende Tendenz zu einem Paradigmenwechsel vorwiegend auf zwei Bündel von Ursachen bzw. Entwicklungen zurück-zuführen: zum einen auf die erwähnte Argumentationsbeschränktheit der klassischen Migrationstheorien, zum anderen auf die beschleunigten Glo-balisierungsdynamiken auf unterschiedlichen Ebenen, insbesondere jedoch die Entwicklungen im Bereich der modernen Transport- sowie digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien der letzten Jahrzehnte, die nicht nur die grenzüberschreitenden Kommunikation und Interaktionen sowie die Mobilität bedeutend erleichtern, sondern diesen neue Intensität, Formen bzw. Qualität verleihen. So ebnete sich der Weg für Erweiterungen und Verschiebungen in den Fragestellungen und zugleich für die Entwick-lung alternativer Ansätze zur Erklärung bzw. Erfassung neuerer Tendenzen internationaler Wanderungen. Dabei richten neuere Perspektiven ihren Blick speziell auf die relationalen Einheiten der Mesoebene wie soziale Netzwerke und transnationale Strukturen. Zudem stellen neuere Theorieperspektiven im Gegensatz zu den klassischen Ansätzen insbesondere prozesshafte Aspekte der Migration in den Vordergrund der Betrachtungen. Es wird etwa gefragt:

Was verleiht den Migrationsbewegungen Kontinuität? Wie kommt es zur Selbstreproduktion der Wanderungen? Welche Umweltbeziehungen und Art der Bewegungen sowie Positionierungen von Migranten entwickeln sich in sozialen Räumen? (vgl. Bade 2010; Pries 1997; Han 2006; Parnreiter 2000).

2.1.3 Neuere Ansätze der Migrationsforschung

Innerhalb des Theorienspektrums zur Erklärung des gesamten Migrations-prozesses, inklusive der Inklusion der Migranten in die unterschiedlichen Sphären der jeweiligen Zielgesellschaften, wird den sogenannten neueren Ansätzen der Migrationsforschung wie den sozialen Netzwerken und dem

Sozialkapital (Massey et al. 1993; Faist 1997; Haug 1997) sowie den mit den beiden zuletzt erwähnten Begriffen eng korrespondierenden Ansätzender Kettenmigration (Fawcett 1989) und der transnationalen Migration zunehmend eine zentrale Bedeutung zugewiesen (Glick Schiller et al. 1997; Goldring 1997; Pries 1997; Portes 1995).

Die Möglichkeit des Eingebettet-Seins in ein Migrationsnetzwerk wie freundschaftliche und verwandtschaftliche oder institutionelle Verbindungen und des Rückgriffs auf Netzwerkressourcen spielen gemäss Studien sowohl bei der Migrationsentscheidung als auch bei der Bestimmung der Wande-rungsdestination der potenziellen Migranten sowie im Migrationsprozess generell eine bedeutende Rolle. Dabei werden die positiven Effekte der Mig-rationsnetzwerke generell darauf zurückgeführt, dass diese, zusätzlich zu den nach dem Push- und Pull-Paradigma identifizierten migrationsauslösenden Faktoren, weitere, nicht nur wanderungsmotivierende (Ermutigungshypothese, Hugo 1981), sondern auch wanderungserleichternde (Erleichterungshypothese, Ritchey 1976) Anreize bieten. So können durch Netzwerke etwa notwendige Informationen eingeholt (Informationshypothese, Ritchey 1976), der gesamte Migrationsverlauf organisiert sowie Kosten und Risiken minimiert werden (vgl.

Haug 2007: 90 ff.). Ebenso evident ist der positive Effekt der existierenden Netzwerke für den Verlauf und die Kontinuität resp. Selbstreproduktion der Migration (vgl. Massey et al. 1987). Bereits William Thomas und Florian Znaniecki (1958), die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die transatlantischen Wanderungen am Beispiel der Einwanderer aus Polen erforschten, unterstri-chen die wichtige Rolle der Netzwerke der besagten Gruppe (vgl. Haug 2010;

Portes 1995; Fawcett 1989). In diesem Zusammenhang von Bedeutung sind insbesondere soziale Beziehungen der migrierten und in unterschiedlichen Ländern lebenden Personen untereinander zum einen und zwischen diesen und den (potenziellen) Migranten in den Herkunftsländern zum anderen (vgl. Haug/Sauer 2006; Massey et al. 1987).

Den empirischen Erkenntnissen folgend, liegt eine hohe Wahrschein-lichkeit einer (Nach-)Migration vor, die durch einmal erfolgte Wanderungen bzw. dank der mittlerweile aufgebauten Netzwerke, insbesondere durch fami-liäre oder persönliche Netzwerkstätigkeiten, in Gang gesetzt wird. Folgt man Haug (2000: 25), ist Migration «ein sich selbst erhaltender Prozess, der über soziale Netzwerke funktioniert» und so gesehen kann sie sich durch Schnee-balleffekte von Netzwerken relativ autonom von wirtschaftlichen Faktoren reproduzieren und aufrechterhalten. Auf ähnliche Verhältnisse stossen Massey et al. (1987: 170) in ihrer Untersuchung über die Migration aus Mexiko in die USA: “Migrant networks tend to become self-sustaining over time because of the social capital that they provide to prospective Migrants.” Mit jedem neuen Migranten können wiederum neue Netzwerkverbindungen zustande kommen,

was – den empirischen Erkenntnissen nach – dem Migrationsprozess in der Art einer sogenannten Kettenmigration Kontinuität verleiht (vgl. Haug 2000:

19 ff.). Fuhse weist kritisch darauf hin, dass der Ansatz Migrationsnetzwerke die Rolle der existierenden Netzwerkstrukturen von Migranten teilweise überbewertet (vgl. Fuhse 2009: 56). Demnach birgt eine Überbewertung der sozialen Netzwerke etwa die Gefahr in sich, die migrationsfördernden/

-auslösenden Faktoren wie «strukturelle Transformationen der Ausreise- und Einreisegesellschaften» (Haug 2000: 24.), die jeweiligen Kontextbedingungen zu vernachlässigen. Ungeachtet dessen finden in der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, darunter bei der Untersuchung der Wanderungsprozesse, Sozialkapitalansätze als Analyseinstrument verbreitet Anwendung. Dabei geht es vornehmlich um die Ermittlung möglicher Einflüsse der sozialen Beziehungen auf den gesamten Migrationsprozess und die Erläuterung der Fragen, wie welche Umstände eine Wanderung überhaupt auslösen sowie welche Richtung sie einschlägt und welche Folgen diese Entscheidungen für die Integrationsprozesse haben (vgl. auch Parnreiter 2000; Düwell 2006;

Haug 2000).

Ein weiterer Aspekt bzw. Ausgangspunkt der neueren Perspektiven der Migrationsforschung ist, dass Migrationen nicht nur als ein- oder zweimaliger Wechsel der Akteure zwischen Herkunfts- und Ankunftsregion vorkommen.

Sie umfassen einen immer häufigeren Wechsel und eine intensivere Austausch-beziehung der Akteure zwischen den betroffenen Regionen, selbst wenn Akteure sich in der Zuwanderungsregion dauerhaft niederlassen. Ansätze dieser Linie gehen gnererell von der Prämisse aus, grenzüberschreitende Migranten bauten ihr Leben über mehrere geographische Räume hinweg auf (vgl. Glick Schiller et al. 1992, 1997). Dadurch würden die sozialen Räume der Transmigranten ihre ausschliessliche Bindung an einen Ort verlieren und sich stattdessen über mehrere Örtlichkeiten verteilen. Demnach sind Transmigranten in zwei oder mehr Staaten angesiedelt und leben in undzwischen verschiedenen Ländern.

Sie pflegen multidimensionale Beziehungen sowohl zu ihrem Herkunftsort als auch zu ihrem Zuwanderungsort. Ihr Leben – transnational life (Smith 1997) – spielt sich einerseits weder gänzlich am Zielort (hier) noch vollständig am Herkunftsort (dort) ab, andererseits jedoch sowohl hier als auch dort (vgl.

auch Glick Schiller et al. 1997), in den sogenannten transnational communities (Goldring 1997) oder transnationalen sozialen Räumen (Pries 1998). Diese letzte Perspektive neuerer Migrationsforschung, die Transnationale Migration, wird später ausführlicher diskutiert.

Nachfolgend sollen, um das Kapitel Begrifflichkeiten und Theorien der Migration abzurunden, die vielfältigen konjunkturell und kontextual bedingten Erscheinungstypen des Phänomens Migration überblicksmässig dargestellt werden. Dies ist ein notwendiger Schritt, weil nach Erkenntnissen

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