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Institutionalisierung von Problemdiskursen

Im Dokument Schwarzmarkt Lernhilfe. Masterarbeit (Seite 26-30)

2. Bildungsbenachteiligung als soziales Problem

2.2 Soziologie sozialer Probleme

2.2.1 Institutionalisierung von Problemdiskursen

Problemdiskurse sind erfolgreich, wenn sie institutionalisiert sind, also in Organisationen oder Institutionen auftreten, und „im alltäglichen Handeln der Problembearbeitung“ (ebd.

6) reproduziert werden. Die „Frage nach den gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Bedingungen der Institutionalisierung von Problemdiskursen“ (ebd. 6) ist damit ein zentrales Thema der „Soziologie sozialer Probleme“ (vgl. ebd. 6). Allerdings ist die erfolgreiche Organisierung und Institutionalisierung sozialer Probleme nicht stabil, sondern durch mögliche Gegenorganisationen und -diskurse gefährdet. Deutungsmuster routinisieren sich, müssen aber immer neu reproduziert werden, weshalb sie sich stetig wandeln (vgl. ebd.

15). Der Prozess von „claims-making activities“ ist also ein offener (vgl. ebd. 16). Hier besteht ein Hoffnungsschimmer für die politische Überzeugungsarbeit der Lernhilfeszene,

denn nach Groenemeyer zeigt sich die Institutionalisierung von Problemdiskursen in der Begründung und Wirkung staatlicher Institutionen und Organisationen (vgl. ebd. 14).

Allerdings gibt es außer der „Förderung 2.0“ noch keine Lernhilfeprojekte, die (direkt) staatlich gefördert werden.

Der Staat ist aber als zentraler Akteur von Deutungsmustern und Diskursen gleichzeitig Adressat von „claims-making activities“ (ebd.14) und eine zentrale Instanz der Problembearbeitung (vgl. ebd. 14), dem es obliegt, Förderstrukturen für außerschulische Lernhilfe zu schaffen. Sozialpolitische Forderungen wohlfahrtsstaatlicher Institutionen sind daher hochrelevant (vgl. ebd. 15).

Zentral für das Forschungsthema ist, dass soziale Probleme Groenemeyer zufolge nicht immer gelöst werden wollen. Hinter politischen Maßnahmen können sich andere Funktionen oder Ziele verbergen, als in der Bearbeitungsprogrammatik angegeben. Soziale Probleme können demnach „zu einem Objekt strategischer Politik werden, um Zuständigkeiten zu markieren und Kompetenzen zu sichern“ (Groenemeyer 2012: 35). Die Symbolik und Rhetorik des politischen Diskurses sind daher bedeutend für die Analyse sozialer Probleme (vgl. ebd. 35). Zudem kann die Problematisierung sozialer Probleme innerhalb des politischen Systems auch Funktionen erfüllen, „die nichts mit der direkten Problemlösung zu tun haben und eher zu ,symbolischenʼ Formen der Politik führen, die signalisieren, dass etwas getan wird“ (ebd. 91). Vor diesem Hintergrund sind die fehlende Förderstruktur für außerschulische Lernhilfe sowie die „Förderung 2.0“ als große politische Nachhilfeoffensive kritisch zu sehen.

Die spezifischen Definitionen sozialer Probleme sind administrativ oder rechtlich abgesichert, was Ansprüche und Ressourcen absichert, aber auch Eingriffe und Kontrollen legitimiert. So dokumentiert das Aufgreifen von Problemkategorien in Hilfsmaßnahmen und Angeboten Zuständigkeiten und stellt den professionellen ProblembearbeiterInnen und Betroffenen einen „abgesicherten Sinn- und Interpretationsrahmen für [...] vorher eher diffus als problematisch wahrgenommene Zustände“ (ebd. 35) zur Verfügung. Dieser Rahmen fehlt den untersuchten Projekten. Wie die Ergebnisse zeigen werden, gibt es keinen Rechtsanspruch auf eine Förderung außerschulische Lernhilfe und keine politische Stelle fühlt sich zuständig.

Die selektiven Strukturen und Mechanismen des politischen Systems bestimmen, ob bestimmte Interessen und Werte als soziales Problem etabliert werden. Die Etablierung politischer Problembearbeitung bedingt die Ressourcenverteilung und entscheidet, wie kostenintensiv die Lösungen sind oder ob neue (Re-)Organisationen nötig sind.

Groenemeyer betont, dass die bürokratische Organisationsform selbst schon nach Problemartikulationen und Interessen selektiert, wobei Macht nicht nur „über direkte Entscheidungsbeeinflussung, sondern tiefgreifender über Nichtbearbeitung, fehlende Zuständigkeiten oder die Unmöglichkeit der Formulierung von Issues in bürokratisch zu verarbeitende Formen“ (ebd. 34) ausgeübt werden kann. Diese „non-desicions“

(Bachrach/Baratz 1976 [1970], zit.n. Groenemeyer 2012: 34) sind für die Analyse der strukturellen Rahmenbedingungen außerschulischer Lernhilfe bedeutsam (vgl. ebd. 34).

Problemkategorien erlangen über politische Entscheidungen in Form von Gesetzen, Programmen und der Verteilung von Ressourcen einen anerkannten, offiziellen Status. Mit diesem müssen sich dann alternative Problemkonstruktionen auseinandersetzen. Politische Entscheidungen können etwa auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene getroffen werden, wodurch manche Kategorisierungen Deutungsmacht und einen hegemonialen Legitimationsanspruch erlangen (vgl. ebd. 89). So werden im Ergebnisteil die Förderstrukturen auf den Ebenen der Europäischen Union, des Bundes, der Stadt Wien sowie der Bezirke analysiert. Nach Groenemeyer wird das Fundament für eine stabile Institutionalisierung von Problemkategorien über politische Entscheidungen gelegt, was mehrere Funktionen erfüllt -

- Festlegung des rechtlichen Rahmens für Organisationen, - Ausstattung der Organisationen mit Ressourcen und Personal, - Festlegung der allgemeinen Problembearbeitungsprogrammatik

und damit verbundener Zuständigkeiten (vgl. ebd. 89).

Angesichts der Förderlandschaft von außerschulischer Lernhilfe fällt auf, dass nach Groenemeyer selbst bei Institutionalisierung, die nicht direkt über politische Entscheidungen, sondern durch private Initiativen entsteht, das politische System zumindest den rechtlichen Rahmen vorgibt (vgl. ebd. 89).

Organisiertes Handeln ist in bestimmte Organisations- und Machtstrukturen eingebunden, wobei für das Forschungsthema insbesondere „politische Gelegenheitsstrukturen“ (ebd. 13) relevant sind. Diese Gelegenheiten können etwa durch öffentliche Diskurse entstehen,

welche die Einrichtungen mit Legitimation und Reputation für ihre Angebote versorgen, wobei die MitarbeiterInnen durch ihre öffentlich sichtbare Arbeit direkt in diese Diskurse involviert sind (vgl. ebd. 89). In diesem Sinne wirken von den Medien rezipierte Studien wie die AK Nachhilfestudie (IFES 2014) legitimierend für Lernhilfeprogramme. Wie die Ergebnisse zeigen werden, entsteht dadurch ein gewisser Handlungsdruck für die Politik, der sich scheinbar im Startschuss der „Förderung 2.0“ entladen hat.

Soziale Probleme werden in spezialisierten Feldern – „political domains“ (ebd. 90) – bearbeitet. Das impliziert nicht nur eine „organisatorische Arbeitsteilung von Zuständigkeiten in den Organisationen des politischen Systems (Ressorts Abteilungen u. ä.)“

(ebd. 90), sondern deutet auch auf „mehr oder weniger institutionalisierte Netzwerke von an einem Problem interessierten und als kompetent angesehenen Akteuren innerhalb und außerhalb des politischen Systems“ (ebd. 90) hin. Neben den politischen Instanzen gehören Wohlfahrts- und Interessensverbände zu diesen Netzwerken (vgl. ebd. 91). Die untersuchten Projekte haben keine gemeinsame Interessensvertretung, sind kein beständiger Teil politischer Netzwerke auf lokaler Ebene und tauschen sich auch nicht routinemäßig mit den politischen Institutionen aus (vgl. ebd. 90f.), was weniger auf mangelnde Ressourcen (vgl.

ebd. 90) als auf fehlende politische AnsprechpartnerInnen zurückzuführen ist. Diese fehlen Groenemeyer zufolge, „wenn es für ein soziales Problem keine Zuständigkeit in Form etablierter Domains gibt“ (ebd. 91) gibt (vgl. ebd. 91). In Anbetracht der sozialpolitischen EntscheidungsträgerInnen im Bereich außerschulischer Lernhilfe stellt sich nicht nur die Frage, ob sich die Stadt Wien überhaupt zuständig fühlt, sondern auch welches Magistrat.

Nach Groenemeyer können soziale Probleme daher als „Struktur- und Funktionsproblem sozialer Systeme“ (ebd. 46) aufgefasst werden. In einer funktionalistischen Sichtweise besteht die Gesellschaft aus Teilsystemen, die miteinander agieren und spezielle Funktionen im gesellschaftlichen System erfüllen (vgl. ebd. 47). Soziale Probleme sind eine „soziale Desorganisation sozialer Systeme im Sinne einer fehlenden Abstimmung verschiedener Teilsysteme oder -einheiten des sozialen Systems“ (ebd. 48). Diese Nicht-Abstimmung von Rollen und Positionen kann in oder zwischen Systemen auftreten (vgl. ebd. 49).

Die fehlende Abstimmung politischer Instanzen hinsichtlich außerschulischer Lernhilfe ist dabei aber keineswegs endgültig, denn Groenemeyer zufolge sind Problemdiskurse in gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen eingebunden (vgl. Groenemeyer 2007: 9) und verweisen auf die „Pfadabhängigkeit der Thematisierung sozialer Probleme“ (ebd. 11).

Im Rahmen gesellschaftlicher Entwicklungen entstehen neben problematisierbaren

Sachverhalten auch Konfliktlinien. Als Beispiel für eine sich verändernde Sozialstruktur nennt Groenemeyer den Wandel zur Wissensgesellschaft. Gesellschaftliche Entwicklungen sind von neuen Risiken, Ambivalenzen, Unsicherheiten und Konfliktlinien begleitet und es tauchen neue kulturelle Problemwahrnehmungsmuster auf. Zudem treten neue Gruppen hervor, welche die sozialen Probleme thematisieren (vgl. ebd. 12). So ist die Gründung der Lernhilfeinitiativen in den letzten Jahren auf die verschärfte Relevanz von Bildung (vgl.

Bolay, Walther 2014: 370) als strategische Ressource in der Wissensgesellschaft (vgl. Erler 2007a: 7) zurückzuführen.

Trotz unterschiedlicher politischer Kontexte und dementsprechender Pfadabhängigkeiten bei der Institutionalisierung von sozialen Problemen stellt Groenemeyer tendenziell einheitliche Entwicklungen fest. So führen organisationale Eigeninteressen dazu, dass sich die Problemdiskurse neben der Steuerung sozialer Verhältnisse nun auch auf die organisationsinterne Mobilisation beziehen (vgl. Groenemeyer 2007: 15): „Soziale Probleme werden [...] als Risiko oder als Ressource für Organisationen wahrgenommen“

(ebd. 15). Angesichts fehlender Förderstrukturen tragen die Lernhilfeprojekte zwar das (finanzielle) Risiko, sehen das Angebot aber wohl auch als Ressource, zum Beispiel was künftige politische Aufträge und damit Geschäftsfelder betrifft.

Es bleibt festzuhalten, dass soziale Probleme sozial konstruiert sind und mit diesen Konstruktionen politische Programme legitimiert werden. Die (Nicht-)Institutionalisierung von Problemdiskursen ist daher sehr folgenreich (vgl. Groenemeyer 2007: 8f.) für die Lernhilfeprojekte.

Im Dokument Schwarzmarkt Lernhilfe. Masterarbeit (Seite 26-30)