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Bildungstheoretische Zugänge

Im Dokument Schwarzmarkt Lernhilfe. Masterarbeit (Seite 19-24)

2. Bildungsbenachteiligung als soziales Problem

2.1. Bildungstheoretische Zugänge

Nach Groenemeyer lassen sich soziale Probleme im Sinne von

„Funktionsbeeinträchtigungen“ (Groenemeyer 2007: 49) anhand objektiver Kriterien soziologisch feststellen, auch wenn sie unterschiedlich definiert und interpretiert werden (vgl. ebd. 49). So unterschieden sich die Problemdefinitionen der Lernhilfeprojekte vom politischen Standpunkt. Im Folgenden wird das soziale Problem der Bildungsbenachteiligung mithilfe bildungssoziologischer Theorien gefasst.

In der Soziologie der Bildungsungleichheit dominieren heute zwei Theoriestränge. Erstens, Rational Choice mit verschiedenen Varianten eines klassen- und akteursspezifischen Kosten-Nutzen-Kalkül in der Bildungsinvestition. Zweitens, eher konflikttheoretische Ansätze um Pierre Bourdieu. Nach Erler schließen sich die beiden Denkschulen nicht aus, sondern sind einfach unterschiedliche Zugänge. Rational Choice setzt an den Entscheidungspunkten des Bildungsweges an. Konflikttheorie beschäftigt sich stärker mit den Selektionsmechanismen innerhalb des Bildungssystems (vgl. Erler 2007b: 35). Für die Ursachen misslingender Übergangsprozesse finden sich ebenfalls unterschiedliche Erklärungsansätze, von Diskriminierungsansätzen über die These von kulturellen Defiziten und kapitaltheoretischen Argumenten bis hin zu strukturindividuellen Modellen (vgl.

Schlimbach et al. 2015: 99). Im Rahmen dieser Arbeit wird der Bourdieu`sche Erklärungsansatz für Bildungsungleichheit gewählt, da er die Bedeutung fehlender

Ressourcen für den Bildungserfolg der hier untersuchten Zielgruppe gut erklärt. Außerdem ist Bourdieu mit seiner These der verschleierten Funktion des Bildungssystems als Reproduktionsinstrument (vgl. Bourdieu 2012: 241) anschlussfähig an Groenemeyers These, wonach die Funktion politischer Interventionen verschleiert sein können (vgl.

Groenemeyer 2012: 35)

2.1.1 Die Bourdieu`sche Kapitaltheorie

Bourdieu entwickelt ein neues Kapitalkonzept, indem er das ökonomische Kapital um eine kulturelle, soziale und symbolische Dimension erweitert. Das ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und wird in Form von Eigentum angesammelt.

Die kulturelle Kapitalsorte bezieht sich auf den Besitz von legitimer Bildung, Wissen und Geschmack. Das kulturelle Kapital tritt primär als gelerntes inkorporiertes Wissen auf und wird in institutionalisierter Form über schulische Abschlüsse, Titel und Zertifikate zur Schau gestellt. In objektiviertem Zustand begegnet es uns etwa in Form von kulturellen Gütern und Büchern. Genauso wie das kulturelle Kapital ist auch das soziale Kapital unter bestimmten Voraussetzungen in ökonomisches Kapital konvertierbar. Das soziale Kapital beschreibt die sozialen Verpflichtungen oder Beziehungen, die hilfreichen sozialen Netzwerke, auf die jemand schon allein dadurch zurückgreifen kann, indem er oder sie in eine bestimmte Familie hineingeboren wurde. Das symbolische Kapital kann als Prestige oder Renommee bezeichnet werden (vgl. Erler 2007c: 41f.; vgl. Bourdieu 2012: 231). Die Kinder und Jugendlichen der untersuchten Lernhilfeprojekte sind benachteiligt, was die Ausstattung mit ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital betrifft. Die Befragten definieren die Zielgruppe dementsprechend als sozial- beziehungsweise bildungsbenachteiligt (siehe Ergebnisse).

Soziale Ungleichheit (re)produziert sich im sozialen Feld der Bildung vor allem über das kulturelle Kapital. Dahinter steht jedoch immer die Verfügung über ökonomisches Kapital, was die Grundvoraussetzung dafür ist, ob sich eine Familie einen bestimmten Bildungsweg leisten kann oder nicht. In diesem Zusammenhang verweist Erler auf die Kosten privater Nachhilfe (vgl. Erler 2007c: 42f.). Die Lernhilfeinitiativen unterstützen SchülerInnen, deren Eltern sich eben keine private Nachhilfe leisten können (siehe Ergebnisse). Bourdieu vollzieht sich die Übertragung von kulturellem Kapital heimlich, unbewusst und unkontrolliert (vgl. Bourdieu 2012: 241). Die symbolische Herrschaft der

Bildungseinrichtungen zeigt sich in der Ehrfurcht vor den Bildungsinstitutionen, die beispielsweise an Elternsprechtagen beobachtet werden kann (vgl. Erler 2007: 43).

Hinsichtlich der Elternsprechtage berichten die befragten Projektleitungen, dass sie die Eltern oft begleiten, da diese aufgrund von negativen Erfahrungen mit Schule im Hemmungen haben. Außerdem ist es nicht in allen Ländern üblich, dass die Eltern so stark in die Bildung ihrer Kinder eingebunden werden. Auch hier leisten die Projekte Aufklärungsarbeit (siehe Ergebnisse).

Bourdieu versteht das Bildungssystem als Reproduktionsinstrument, das sich durch die spezifische Fähigkeit zur Verschleierung der eigenen Funktion auszeichnet (vgl. Bourdieu 2012: 142). Je besser es dem Bildungssystem gelingt zu blenden, desto stärker unterwerfen sich die SchülerInnen der symbolischen Herrschaft der Bildungsstätten (vgl. Erler 2007c:

43). Die geheime Zirkulation von Kapital in Gestalt der verschiedenen Formen des Kulturkapitals bestimmt die Reproduktion der gesellschaftlichen Struktur umso stärker, je mehr die offizielle Übertragung von ökonomischem Kapital gebremst oder verhindert wird (vgl. Bourdieu 2012: 142).

2.1.2 Der Bourdieu̕ sche Habitusbegriff

Für die Erklärung der ungleichen Wirkung der Inszenierung von Wissen und Bildung zieht Bourdieu das Konzept des Habitus heran, worunter er die jeweils spezifische Art und Weise, zu denken, zu handeln, zu beurteilen und den Alltag wahrzunehmen versteht. Der Habitus bestimmt wiederum den Lebensstil mit (vgl. Erler 2007c: 43f.). Die Lernhilfeinitiativen gehen sehr stark auf die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen ein und setzen niederschwellige Angebote, die keinen bildungsaffinen Habitus voraussetzen. So sieht sich eine Organisation im Bereich Wissenschaftsvermittlung in der Funktion der Zugbrücke zum Elfenbeinturm der Wissenschaft, indem sie Kinder und Jugendliche an die Universität heranführt (vgl. I03 S.5 Z.1-5).

2.1.3 Migrationshintergrund und Schule

Da die Zielgruppe der Lernhilfeprojekte primär Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind, soll der Begriff an dieser Stelle definiert und im Zusammenhang mit Schule betrachtet werden.

Es gibt viele Möglichkeiten, Migrationshintergrund zu fassen, beispielsweise nach dem Geburtsland von Vater oder Mutter und der am meisten daheim oder im Freundeskreis gesprochenen Sprache (vgl.Lachmayr et al. 2011: 6). Diese Arbeit richtet sich nach Reiners Definition, die Migrationshintergrund als soziale Lage beschreibt. Multiple Benachteiligungen legen nahe, dass die ethnische Herkunft in Österreich zu einer Verfestigung von benachteiligten sozialen Positionen führt, wodurch der Migrationshintergrund zu einer sozialen Lage wird, die durch soziale und milieuspezifische Ungleichheitsverteilung von kulturellen und ökonomischen Kapitalen gekennzeichnet ist.

Damit zusammenhängend sind Jugendliche mit Migrationshintergrund bei der Wahl des Schultyps beziehungsweise der Berufsausbildung durch Unkenntnisse der Eltern über das hiesige Ausbildungssystem und die Arbeitsmarktchancen auf sich allein gestellt (vgl.

Reiners 2010: 76-81). Die Projekte reagieren auf dieses Problem mit ihrem Schwerpunkt Bildungs- und Berufsorientierung (siehe Ergebnisse).

Unterwurzacher untersucht begünstigende beziehungsweise hemmende Faktoren beim Zugang zu Bildung auf den drei Ebenen -

1) individueller beziehungsweise biographischer Hintergrund,

2) familiärer Hintergrund – Sozialschicht versus Kultur (ethnisches Milieu), 3) institutionelle Ebene – schulischer Kontext -

und zeigt, dass Migrantenjugendliche aufgrund fehlender familiärer Ressourcen nicht oder nur sehr mangelhaft auf elterliche Unterstützung zurückgreifen können und viele Aufgaben – wie etwa die Vertretung eigener Interessen gegenüber schulischer Instanzen oder auch die Konkretisierung von Bildungszielen – selbst übernehmen müssen. Auf der familiären Ebene werden zwei Ansätze diskutiert: Einerseits gelten sozialstrukturelle Merkmale des Elternhauses – insbesondere die Bildung und berufliche Stellung des Haushaltsvorstands – als ausschlaggebend für den Bildungsweg des Kindes. Den Eltern fehlt oft das Wissen über Möglichkeiten der Einflussnahme, über die Bedeutung der Noten für Übergangschancen oder über die Leistungsanforderungen unterschiedlicher Bildungswege. Während hier also die Sozialschicht als determinierend gilt, werden schulische Probleme auch auf kulturelle Differenzen zurückgeführt. Allerdings lässt sich aufgrund widersprüchlicher Forschungsergebnisse nicht abschließend beurteilen, ob beziehungsweise inwieweit Indikatoren wie die Sprachkenntnisse der Eltern, die im Elternhaus gesprochene Sprache oder die Rückkehr-/Bleibeabsicht den Bildungsweg der Jugendlichen beeinflussen (vgl.

Unterwurzacher 2007: 73-76).

Auf institutioneller Ebene betont Reiners die Bedeutung der Lehrkräfte. Auch die strukturelle Benachteiligung der Wohnsituation spielt eine Rolle. Die Jugendlichen sind stark in lokale Netzwerke und Beziehungen eingebunden, die nur wenig soziales Kapital beziehungsweise soziale Mobilität versprechen (vgl. Reiners 2010: 76-81).

Mahl sieht in den elterlichen Bildungsaspirationen einen zentralen Motor für die Bildungsentscheidungen von Jugendlichen. Diese werden insbesondere dort schlagend, wo institutionell vorgesehene Weichenstellungen individuelle Entscheidungen über den weiteren Bildungsverlauf erfordern, z.B. bei der Statuspassage Schule - Ausbildung, wo die Entscheidung für einen weiterführenden Schulbesuch oder die direkte Aufnahme einer beruflichen Ausbildung getroffen werden muss (vgl. Mahl 2015: 50f.). Trotz der hohen Bildungsaspirationen gehen die Bildungsambitionen nicht mit dementsprechenden Bildungserfolgen einher. Vor diesem Hintergrund werden verschiedene aspirationsbezogene Umsetzungsbedingungen in der Familie diskutiert. Primäre Herkunftseffekte wie eine schwächere Bildungsperformanz von Kindern mit Migrationshintergrund, verbunden mit einem eingeschränkten Unterstützungspotenzial der Eltern, mangelnden Sprachkenntnissen und Informiertheit über das hiesige Bildungssystem, sind hier als nachteilig zu nennen. Nach Barz et al. (2015) fehlt es v.a. in sozial schwachen Milieus an nötigen Kapitalien der Migranteneltern für die Umsetzung von Bildungszielen, wie z.B. finanzielle Ressourcen, ausreichender Informationsstand oder ein spezifischer Bildungshintergrund (vgl. Mahl 2015: 57).

Die relative Bildungsbenachteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu SchülerInnen ohne Migrationshintergrund spiegelt sich unter anderem im Übergangsverhalten wieder. So sind SchülerInnen mit Migrationshintergrund häufiger von Bildungsabstiegen betroffen als SchülerInnen ohne Migrationshintergrund (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 152, zit.n. Scherr/Niermann 2012: 866). Zudem wirkt sich ein Migrationshintergrund negativ auf die Übergangschancen in das duale Ausbildungssystem aus (vgl. Scherr/Niermann 2012: 866). Ein wesentlicher Gradmesser dafür, wie gut es dem österreichischen Bildungssystem gelingt, das Potenzial von SchülerInnen mit Migrationshintergrund zur Entfaltung zu bringen, ist das Sprachverständnis. Bei PIRLS und PISA wird ein wichtiger Teilaspekt des Sprachverständnisses – die Lesekompetenz – gemessen. Die Lesekompetenz von

SchülerInnen mit Migrationshintergrund hat sich im Vergleich zu jenen ohne Migrationshintergrund seit dem Jahr 2000 relativ verbessert (vgl. Salchegger et al. 2015:

67). Jugendliche mit Migrationshintergrund leben im Durchschnitt unter schlechteren sozialen Bedingungen als SchülerInnen der Mehrheitsbevölkerung und ein wesentlicher Teil der Leistungsunterschiede zw. den beiden Gruppen kann durch ihre soziale Herkunft erklärt werden (vgl. Salchegger et al. 2015: 77f.). Studien zeigen, dass sowohl die Übergänge im schulischen Bildungssystem als auch daran anschließend die Bildungs- und Ausbildungswege stark von Einflüssen der sozialen Herkunft geprägt sind. Tatsächlich befinden sich Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status häufiger in Hauptschulen als diejenigen mit einem starken sozioökonomischen Background (vgl.

Schlimbach et al. 2014: 90).

In Hinblick auf die Forschungsfrage bleibt festzuhalten, dass die Lernhilfeprojekte die eben geschilderten Ungleichheitsdimensionen des sozialen Problems der Bildungsbenachteiligung an der Schnittstelle von Bildungssystem und freier Wohlfahrt bearbeiten.

Im Dokument Schwarzmarkt Lernhilfe. Masterarbeit (Seite 19-24)