• Keine Ergebnisse gefunden

5. Die indigene Bewegung in Bolivien

5.1. Von der Knechtschaft zum Streit um die Macht: die Bewegungen und

5.1.1. Andenregion: der mühsame Weg der CSUTCB

5.1.1.2. Hin zum Indianismus

Inmitten dieser Krise der bolivianischen Gewerkschaftsbewegung begann bei den indigenen Bewegungen eine Phase intensiver Debatten über die eigene Struktur, ihre Beziehungen zu den übrigen Gesellschaftsbereichen des Landes und ihr Verhältnis zum Staat (Patzi 1999).

Hauptdiskussionspunkt innerhalb der CSUTCB war die Frage nach der Zukunft der indigenen Völker und ihrer Organisationen. Die zwischen Campesinismus und Proletarisierung pendelnden Postulate (siehe Kap. 2) der Linken wurden drastisch in Frage gestellt, da sie die ethnisch-kulturelle Dimension des Problems nicht berücksichtigten. Unter diesen Umständen gewann der "indianistische" Entwurf immer mehr an Gewicht, der sich für Selbstbehauptung und Selbstbestimmung der indigenen Völker stark machte. Als

Ideologie war der Indianismus bereits in den 60er Jahren entstanden, damals rief er zum radikalen Kampf der Indios gegen die Weißen auf. Auch wenn der indianistische Diskurs in den späten 80er Jahren erheblich moderater geworden war, hielt er im Wesentlichen doch an der Notwendigkeit fest, den kolonialen Staat durch einen Indio-Staat zu ersetzen. Folge dieser Diskussionen war eine Spaltung der Kataristen in ein Lager, das sich für die Veränderung der bestehenden, immer noch kolonialen Staatsstrukturen aussprach und ein anderes, klar indianistisches, das wirkliche indigene Selbstbestimmung nur für möglich hielt, wenn die bestehenden Strukturen zerstört würden, um anstatt ihrer einen eigenen Andenstaat nach dem Muster des Tawantinsuyu zu errichten.

Zu den größten Erfolgen jener Fraktion der Kataristen, die eine Veränderung des Staates

"von innen heraus" befürworten, zählte die Erarbeitung eines "Grundlegendes Agrargesetz"

genannten Gesetzentwurfs 1983, der einen multikulturellen Staat postulierte und (ohne Erfolg) das alte, gleichmacherische Gesetz zur Agrarreform von 1953 ersetzen sollte94. Eine weitere, erfolgreichere Initiative war die Gründung der Bäuerlichen Agrar-Gewerkschaft (Corporación Agraria Campesina, CORACA), die als "wirtschaftlicher Arm" der CSUTCB dienen sollte, und deren Bedeutung die Regierung würdigte, indem sie ihr Rechtsper-sönlichkeit zuerkannte. Wichtigster Erfolg dieser Fraktion war aber sicherlich die Erlangung der Vizepräsidentschaft des Landes durch den kataristischen Führer und Ideologen Víctor Hugo Cárdenas, der eine umstrittene Allianz mit dem Bergbauunternehmer Gonzalo Sánchez de Lozada einging. Als Vizepräsident unterstützte Cárdenas die Verfassungsreform zur Veränderung der Artikel 1 und 171 der bolivianischen Charta Magna95.

94 Der Gesetzentwurf wurde dem Präsidenten im Rahmen einer andinen Zeremonie zur Weiterleitung an die Legislative übergeben, von dieser aber niemals beraten.

95 Durch die Verfassungsänderung wurde das Land neu definiert. Artikel 1 der Staatsverfassung (Constitución Política del Estado, CPE) bestimmt seit dem 6. Februar 1995:

“Bolivien, frei, unabhängig, souverän, multiethnisch und multikulturell, als Einheitsrepublik verfasst, nimmt für seine Regierung die Staatsform der repräsentativen Demokratie an, gegründet auf die Einheit und Solidarität aller Bolivianer." (Bolivia, Congreso Nacional 1995: Art. 1) (Kursive Hervorhebung von uns).

Außerdem erweiterte und spezifizierte die geänderte Verfassung die Anerkennung der bäuerlich-indigenen Organisationen:

„I. Im Rahmen des Gesetzes werden die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte der im nationalen Territorium lebenden indigenen Völker anerkannt, geachtet und geschützt, insbesondere was ihre ursprünglichen, gemeinschaftlichen Ländereien betrifft, nachhaltiger Gebrauch und Nutzung der natürlichen Ressourcen werden gewährleistet, ebenso Identität, Werte, Sprachen, Bräuche und Institutionen.

II. Der Staat erkennt die Rechtspersönlichkeit der indigenen und bäuerlichen Gemeinden an, ebenso die der bäuerlichen Gewerkschaften und Vereinigungen.

III. Die natürlichen Autoritäten der indigenen und bäuerlichen Gemeinden können Aufgaben der Verwaltung und der Anwendung eigener Normen zur alternativen Konfliktlösung übernehmen im Einklang mit ihren Bräuchen und Verfahrensweisen, vorausgesetzt, sie widersprechen nicht dieser

Die andere, indianistische Fraktion entwickelte sich in radikaler Opposition zum System der repräsentativen Demokratie. Sie befürwortete den bewaffneten Kampf und organisierte sogar Guerrillagruppen, um den Sturz der von Criollos beherrschten Regierung voranzutreiben.

Die Ursprünge dieser Richtung sind, wie bereits erwähnt, in den Thesen Fausto Reynagas zu finden, der in den 60er Jahren den Kampf auf Leben und Tod gegen die Weißen predigte und die "Indiopartei Boliviens" (Partido Indio de Bolivia, PIB) gründete, die wegen der Radikalität ihrer Forderungen nicht von Bestand war (Albó1991, Barre 1988, Bonfil 1981, Ibarra 1999). 1978 gründeten prominente Aymara-Führer auf dieser ideologischen Grundlage die "Indiobewegung Tupaj Katari" (Movimiento Indio Tupaj Katari, MITKA) und nahmen mit ihr an den allgemeinen Wahlen 1979 teil. Mit gleicher politischer Orientierung, jedoch unabhängig von der MITKA stellte sich Ende der 80er Jahre, im Verlauf der internen Debatten der CSUTCB, eine "Rote Ayllus" benannte Gruppe vor mit dem Vorsatz, den bewaffneten Kampf zu organisieren. Kurz darauf, 1991, nahm dieses Vorhaben Form an mit der Aufstellung des "Guerrilleroheeres Tupaj Katari" (Ejército Guerrillero Tupaj Katari, EGTK), dessen Aktionen unter den Bürgern Boliviens Aufsehen erregten. Die Sprengstoffanschläge auf Hochspannungsmasten und Versorgungsleitungen, die Überfälle auf staatliche Geldtransporte etc. wurden jedoch als kriminelle Taten und nicht als Aktionen eines politischen Kampfes wahrgenommen. Die Guerrillaorganisation bestand nicht lange; sie wurde Anfang 1992 von den Ordnungskräften zerschlagen. Ihr Führer Felipe Quispe, der "Mallku", wurde inhaftiert und gefoltert und erst 1997 unter Auflagen freigelassen; während der 5 Jahre seiner Haft war es den Rechtsorganen nicht gelungen, überzeugende Beweise seiner Verantwortung für die vom EGTK angerichteten Schäden beizubringen. Ein Jahr danach, im November 1998, wurde er zum Exekutivsekretär der CSUTCB gewählt. Diese außergewöhnliche Tatsache bestätigte zum einen die Führerschaft des Mallku, insbesondere unter den Aymaras, zum anderen zeigte sie der öffentlichen Meinung, dass sich die indigene Bewegung zu diesem Zeitpunkt für den Indianismus entschieden hatte. Die radikale Position dieses Aymaraführers erneuerte den Kampfgeist seines Volkes und erreichte ihre spektakulärste Wirkung im April und im Oktober 2000, als seine Leute mehrwöchige Straßenblockaden errichteten und dem Heer mehr als einmal die Stirn boten. Trotz dieser Härten zeigte die spätere Entwicklung, dass es sich dabei um einen reichlich moderaten Indianismus handelte, denn im November 2000 gründete "Mallku" die

Verfassung und den Gesetzen. Das Gesetz wird für die Vereinbarkeit dieser Aufgaben mit den Befugnissen der staatlichen Organe sorgen." (a.a.O.: Art. 171).

Wenn auch diese Verfassungsänderungen Zeichen der "Öffnung" des heutigen bolivianischen Staates sind, so bleiben sie doch im Rahmen dessen, was die indigenen Organisationen als "Kolonialpolitik" anklagen.

politische Partei "Indiobewegung Pachakuti" (Movimiento Indio Pachakuti, MIP), mit der er 2002 an den Präsidentschaftswahlen teilnahm. Diese Kandidatur für die Präsidentschaft des seinen Aussagen nach zu bekämpfenden kolonialen Staates wurde als Zeichen der

"Bekehrung" des wichtigsten indianistischen Führers gewertet, und seiner stillschweigenden Annahme der Spielregeln der parlamentarischen Demokratie.

Diese Entwicklungen vollzogen sich zwar innerhalb der CSUTCB, sie hatten jedoch Auswirkungen auf die übrigen indigenen Organisationen der Andenregion, unter ihnen die Nationale Siedlerkonföderation, die Nationale Föderation Bolivianische Bauernfrauen

"Bartolina Sisa", den Nationalverband der Quinuaproduzenten, den Verband Andiner Kamelidenzüchter, die Organisation Originärer Autoritäten und etliche andere.

In der Reihe dieser andinen indigenen Verbände darf die Organisation der Produzenten von Coca-Blättern nicht unerwähnt bleiben, die zwar der CSUTCB angeschlossen ist, jedoch ihr eigenes, besonderes Gewicht auf nationaler und sogar internationaler Ebene hat. Der kämpferischste Teil der Coca-Pflanzer ist in der Koordinierungsbewegung der Sechs Föderationen der Tropen von Cochabamba organisiert, deren wichtigster Führer Evo Morales Ayma ist. Grundsätzliches Anliegen der Organisation ist, "unnachgiebig das Cocablatt als Teil der andinen Kultur zu verteidigen." Ihrer herausragenden Bedeutung auf nationaler Ebene bewusst, haben sich die Cocapflanzer auf ihrem Kongress im Juni 2003 vorgenommen, nicht nur ihre wichtigste Einkommensquelle zu verteidigen und über die effiziente Anwendung alternativer Entwicklungsprogramme zu wachen, sondern auch "die natürlichen Ressourcen wie Erdöl und Erdgas zu verteidigen und zurückzuholen, für Land und Territorium zu kämpfen, den Verkauf von Erdgas an die USA zu verhindern, den Beitritt zur ALCA [Area de Libre Comercio de las Américas; Free Trade Area of the Americas -FTAA-] zu verzögern, die Bewegung zum Sozialismus (MAS) zu unterstützen, die neoliberalen Parteien bei den Wahlen zu schlagen und zur Einlösung ihrer Forderungen den Dialog zu suchen" (Contreras 2003). Seine besondere Zusammensetzung und der Zustand dauernder Konfrontation mit den Ordnungskräften hat dazu geführt, dass dieser Sektor einen anti-kapitalistischen und in letzter Zeit auch anti-neoliberalen und anti-globalisierenden Diskurs entwickelte, der sich in den Beschlüssen seines Kongresses ausdrückt. So gesehen erscheint die militante Unterstützung einer linksorientierten Partei wie der MAS folgerichtig, im Hinblick auf die indigenen Forderungen jedoch bedeutet sie eine Neuauflage der politischen Versuche, die indigenen Belange mit den klassenorientierten zu verschmelzen.

Vom überraschenden Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Juni 2002 ermutigt, bemüht

sich Evo Morales, wie auch Víctor Hugo Cárdenas, ebenso um die Wiederherstellung der Rechte der indigenen Einwohner wie auch um die Forderungen des übrigen Volkes und wird so zu einer Gestalt von landesweiter Bedeutung, nicht ohne damit Unruhe bei der nordamerikanischen Botschaft und den herrschenden Kreisen Boliviens hervorzurufen.