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6. Ch’apisirka: Szenario intensiver Veränderungen

6.4 Gesellschaftspolitische Aspekte

Es ist keine Übertreibung, zu behaupten, die vor 1953 bestehenden Haciendas seien ein Feudalsystem gewesen, in dem der Besitzer, der "Patron", auch Besitzer der auf seiner Liegenschaft wohnenden Indios war und "Häuptlinge" und "Majordomi" einsetzte, denen er jegliche Verfügungsmacht über sie erteilte.

Als die Mobilisierungen zur Agrarreform begannen, beteiligten sich die "Häuptlinge" und einige Majordomi daran, besonders die, die aus denselben Gemeinden stammten. Die Ch’apisirkeños erinnern sich an 15 Häuptlinge der gesamten Region, die Rafael Gumucio, Ehemann der Erbin Raquel Salamanca, unter der Beschuldigung der Agitation polizeilich

129 Übereinstimmend betrachten die Gemeindemitglieder ihre Schafe als eine Art Sparvermögen, das ihnen aus finanziellen Notlagen helfen kann; wenn erforderlich, verkaufen sie ein Schaf oder eine Ziege und erhalten Bargeld.

verfolgen und einige von ihnen festnehmen ließ. Letzte Zuflucht der Großgrundbesitzer war der Versuch, ihre besten Böden zusammengefasst als "mittelgroßes Eigentum" (was in Cochabamba einen Grundbesitz von 80 Hektar bedeutete) zu deklarieren. Die "Häuptlinge"

von Ch’apisirka kämpften dafür, dass das Land der Hacienda Salamanca als Ganzes, als Großgrundbesitz behandelt würde und in den Besitz der indigenen Gemeinden überginge.

Am Ende des zähen Ringens gab die Agrarjustiz den Gemeinden Recht.

Nach Auflösung des Haziendasystems wählten die Gemeinden ihre "Führer" nach dem Vorbild der in den Talgemeinden von Ucureña gegründeten und von der Regierung der

"nationalen Revolution" amtlich bestätigten Agrar-Gewerkschaften. Seither sind die Gewerkschaften die Organisationen, die die Gemeinden nach außen vertreten und auch ihre innere "Regierung" darstellen. Eine Gewerkschaft hat ungefähr 14 Ressorts:

Generalsekretär

Sekretär für Beziehungen Sekretär für Urkunden Sekretär für Wirtschaft

Sekretär für gewerkschaftliche Verteidigung Sekretär für Konfliktlösung

Sekretär für Organisation

Sekretärin für die Fortbildung der Frauen Sekretär für Presse und Propaganda Sekretär für Sport

Sekretär für Direktion der ASP (erst seit 1995) Stimmberechtigtes Mitglied 1

Stimmberechtigtes Mitglied 2 Stimmberechtigtes Mitglied 3

In gleicher Weise sind die Unterzentralen und die Regionalzentrale strukturiert.

Unterstrichen werden muss die Flexibilität der Gewerkschaften hinsichtlich Anzahl und Bezeichnung der Ressorts. Je nach Bedarf kommen Funktionsträger hinzu (z.B. Sekretär für Erziehungsfragen, Sekretär für Menschenrechte etc.) oder die genannten tragen andere Bezeichnungen (z.B. Sekretärin für Einbindung der Frauen statt Sekretärin für Fortbildung der Frauen, Sekretär für Land - Territorium statt Sekretär für Direktion der ASP etc.).

Zurzeit besteht die CRCh aus zehn Gewerkschaften, die auf drei Unterzentralen verteilt sind:

Unterzentrale Cuatro Esquinas (Titiri, Monte Wayq’o, Cuatro Esquinas), Unterzentrale Ch’apisirka (Ch’apisirka, Rumi Korral, Jatun P’ujru, Chachakomani), Unterzentrale Torreni (Torreni, Dobledero, Totolima).

Wie bereits erwähnt gehört die CRCh amtlich zum dritten Abschnitt der Provinz Quillacollo, nach den Karten des Instituto Geográfico Militar aber liegt Totolima im zweiten Abschnitt (Villa Tunari) der Provinz Chapare und Dobledero und Torreni im zweiten Abschnitt (Morochata) der Provinz Ayopaya. Noch konfuser wird die Angelegenheit dadurch, dass die Fachleute des Nationalparks Torreni und Dobledero (somit auch Totolima, jedoch außerhalb der Grenzen des PNT) in den Munizipalbereich von Villa Tunari verlegen (siehe Karte 6).

Offenbar handelt es sich um ein Interpretationsproblem bei den Grenzen, da diese in den letzten Jahren keine gesetzliche Änderung erfuhren, es zeigt aber auf jeden Fall die großen Unterschiede zwischen fachmännischer Einschätzung und der Lebenswirklichkeit der Indio-Bauern. Für sie ist die Zugehörigkeit von Totolima, Dobledero und Torreni zur CRCh eine Selbstverständlichkeit wegen der schon immer bestehenden Beziehungen, und es ist auch nicht daran zu zweifeln, dass die zehn Gewerkschaften eine geographische und kulturelle Einheit bilden, selbst unter Berücksichtigung der Besonderheiten Totolimas130.

Die von den Massenmedien am stärksten beachtete Aktion der CRCh in den letzten Jahrzehnten war die Unterbrechung der Wasserversorgung der Stadt Cochabamba, deren Hauptspeicher die bereits erwähnte Lagune Escalerani ist. Mit der Maßnahme wurde die Freilassung von verhafteten Bauernführern des Bezirks erreicht. Anfang 1995 war wegen einiger Protestkundgebungen der Exekutivsekretär der FSUTCC Alejo Veliz, damals wichtigster Führer des Bezirks, zusammen mit anderen Bauernführern festgenommen und inhaftiert worden. Zusätzlich zu der radikalen Maßnahme, die Lagune zu besetzen, blockierten die Bauern den einzigen Zugangsweg zur Region von Tiquipaya aus. In der kollektiven Erinnerung ist diese "Großtat" als regelrechter Kampf verzeichnet, denn als Polizei und Militär sich anschickten, den Weg frei zu machen und die Lagune wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, drohten Hunderte von Indigenen, die in ihre unverwechselbaren schwarz-roten Ponchos gekleidet auf dem Bergkamm postiert waren, sie unter Tonnen von Gestein zu begraben. Es reichte, einige Dutzend Steine den steilen Hang herunter rollen zu

130 Die Gewerkschaft Totolima besteht in Wirklichkeit aus drei kleinen Gemeinden: Totolima, Porvenir und Carmen Pampa, die am linken Ufer des Flusses Totolima kurz vor seiner Einmündung in den Altamachi liegen und wegen ihrer geringen Größe keine eigenständigen Gewerkschaften bilden. Trotz ihrer Lage in den Tropen betrachten sie sich als Quechuas und unterhalten enge Beziehungen zu den Gemeinden auf der Puna.

lassen, um die Ordnungskräfte von der Entschlossenheit der Indios zu überzeugen. Die Uniformierten nahmen Abstand von ihrem Vorhaben und zogen sich schneller zurück, als sie gekommen waren. Der Regierung blieb nichts Anderes übrig, als Veliz und die anderen Verhafteten freizulassen, um größere soziale Unruhen in der Stadt wegen des Wassermangels zu vermeiden.

Diese Erfahrung führte den Ch’apisirkeños die Verletzbarkeit des Staates vor Augen und stärkte ihr Bewusstsein für Selbstbestimmung. Die Resolution, die uns in dieser Arbeit beschäftigt, ist eine, und sicher nicht die einzige, Auswirkung dieses Selbstbewusstseins, das die Gemeindemitglieder nach und nach gewonnen haben. Tatsächlich hat seit diesem Datum ihre Präsenz im politischen und Gewerkschaftlichen Leben der Region beträchtlich zugenommen, wie aus folgenden Ereignissen zu entnehmen ist:

a) An den Munizipalwahlen 1996 nahm zum ersten Mal in der Geschichte Tiquipayas ein Ch’apisirkeño als Kandidat für den Stadtrat teil. Ein Mitglied der Gemeinde Ch’apisirka Alto war einer der fünf Kandidaten auf der Liste der Asamblea por la Soberanía de los Pueblos (ASP) für das Amt eines Stadtrates; die Partei erzielte zwar kein sehr gutes Wahlergebnis, aber schon allein die Tatsache, sich um ein normalerweise "ordentlichen Leuten" vorbehaltenes Amt beworben zu haben, war ein großer Gewinn für das indigene Selbstbewusstsein.

b) 1997 billigte der Munizipalrat von Tiquipaya die Schaffung des Gemeindebürger-meisteramtes (Sub-Alcaldía) Ch’apisirka und bat die CRCh, einen ihrer Führer für das Amt des Gemeindebürgermeisters zu benennen. Die Wahl fiel auf Don Marcelino Nogales von der Gewerkschaft Cuatro Esquinas. Die bereits angesprochene Unbestimmtheit dieses Amtes ist auch den Gemeindemitgliedern bewusst, die schon 1998 forderten, dem Gemeindebürgermeister ein Büro in Ch’apisirka einzurichten und die Gelder, die das Bürgermeisteramt Tiquipaya vom Staat im Rahmen des "Gesetzes für Volksbeteiligung“131 erhält, direkt vom Gemeindebürgermeister verwalten zu lassen.

131 Im Zusammenwirken mit anderen Gesetzen wie dem zur Dezentralisierung der Verwaltung bestimmt dieses Gesetz, dass die Gemeinden Mittel aus der Steuernumlage entsprechend ihrer Einwohnerzahl erhalten. Es sollen so die Ungerechtigkeiten bei der Verteilung des Staatsetats unter den Provinz- und Sektionsgemeinden und den Hauptstädten der Bezirke ausgeglichen werden. Mehr noch, es soll auch das Ungleichgewicht zwischen städtischen und ländlichen Zonen innerhalb der einzelnen Gemeinden abgebaut werden, da üblicherweise die staatlichen Gelder nur in die städtischen Bereiche investiert wurden.

c) Im Jahre 2001 wurde der Genosse Emilio Espinoza, ehemaliger Generalsekretär der CRCh und Aktivist von Ch’apisirka bei den Mobilisierungen von 1995, zum Generalsekretär der Provinzzentrale Quillacollo gewählt. Führer von Ch’apisirka sind in dieser Zentrale zwar seit ihrer Gründung immer präsent gewesen, es ist jedoch das erste Mal, dass einer von ihnen das höchste Führungsamt auf Provinzebene ausübt. Der dauernde Kontakt dieses Führers mit den Mitgliedern der CRCh bewirkt einen Informationsfluss aus erster Hand und regt das politische Bewusstsein der jungen Generationen an, die sich profilieren und die Führung ihrer Gemeinden ohne die Ängste und Befürchtungen angehen, die vor 50 Jahren die ersten Führer vor diesen Verantwortungen hatten.

Sicherlich ist der Veränderungsprozess, den die Quechuas von Ch’apisirka erleben, viel komplexer als hier geschildert, ebenso sicher ist aber die erwachende Kraft, die sie in ihren Aktionen beweisen, und diese "aufrührerische" Vitalität lässt aufs Neue nach den Grundmotiven fragen, die die Hefe, die treibende und orientierende Kraft der Kämpfe, Hoffnungen und Utopien dieses traditionell an den Rand gedrängten Teils der Gesellschaft sind. Der Erforschung dieser wenig bekannten, verborgenen, aber kraftvoll wirkenden Beweggründe soll sich das folgende Kapitel widmen.