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2.8 Abgrenzung inadäquat aggressiven Verhaltens gegenüber „echten“, Verhaltensstörungen - Ethopathien

2.8.1 inadäquat aggressives Verhalten

Von inadäquat aggressivem Verhalten wird gesprochen, wenn das Verhalten der jeweiligen Situation nicht mehr angemessen auftritt. Angemessen heißt nach SCHÖNING (2012a, 2012b) nur, dass das Verhalten für den Hund bzw. aus seiner Sicht einen Nutzen hat, nicht unbedingt aber eine Akzeptanz beim Menschen. Einen Nutzen hat das Verhalten für den Hund, wenn es sich in der jeweiligen Situation bezüglich Ressourcenerhalt bzw. –sicherung erfolgreich erwiesen hat (SCHÖNING 2012a, 2012b). Der Situation angemessen heißt ferner, wenn die Mehrzahl der Hunde mit ähnlicher Erfahrung und Erziehung in der gleichen Situation ähnlich reagieren würde. So liegen beispielsweise die Bereitschaft zu aggressivem Verhalten und das Reaktionsniveau beim Foxterrier höher als beim Golden Retriever und ist damit für ersteren in der „Norm“, für den Retriever hingegen nicht (ALOFF 2011). Ebenfalls hierunter zu zählen ist „unangemessenes Jagdverhalten“ (siehe unter 2.5).

35 2.8.2 zur Gefährlichkeit von Hunden

Die Gefährlichkeit von auffällig gewordenen Hunden ist vielfach nicht oder kaum vorhersagbar, da das Aggressionsverhalten so multifaktoriell beeinflusst und zudem situativ stark geprägt wird (FEDDERSEN-PETERSEN 2004). Laut FEDDERSEN PETERSEN (1992) liegen hundlichen Angriffen auf Menschen hauptsächlich folgende Genesen zugrunde:

(1) Angst und soziale Unsicherheit und unzureichende Umweltangepasstheit

Aufgrund unzureichender oder infolge verpasster Sozialisierungsphasen oder fehlender Bindung an einen Sozialpartner fehlt dem Hund Sicherheit im Umgang mit Hunden und Menschen. Die kritischen Phase hierfür stellt, wie erwähnt, die Sozialisierungsphase dar, die zum Teil stark in die Zeit beim Züchter fällt. Bei einer Aufzucht, die weitgehend isoliert vom Menschen abläuft, wie dies der Fall in Massenzuchten oder überwiegender Zwingeraufzucht bei wenig Menschenkontakt darstellt, sind laut FEDDERSEN PETERSEN (1992)

„zwangsläufig die Weichen für schwierige Hund-Mensch-Beziehungen gestellt.“

(2) Nicht rassegerechte Haltung von Hunderassen mit besonderen Umweltansprüchen

Jagdhunde, Schlittenhunde, Schutzhunderassen sowie Wachhunde benötigen laut FEDDERSEN-PETERSEN (1992) besonderen Freiraum und körperliche Auslastung. Für die Ausübung angeborener zielorientierter Verhaltensweisen, wie beispielsweise das Laufen und Stöbern eines Jagdhundes, bedarf es Möglichkeiten das Appetenzverhalten (Änderung des momentanen Aufenthaltsortes für eine neue Reizsituation) und Erkundungsverhalten auszuleben. Fehlen diese infolge Einengung, kommt es zu Ersatzhandlungen, um die Bedürfnisse zu befriedigen, die sich beispielsweise in Stereotypien äußern können. Hierbei ist die Anpassungsfähigkeit des Tieres überfordert und es kommt zu einer Entkopplung von Ziel und Funktion des Verhaltens (FEDDERSEN-PETERSEN 1992). Sowohl von restriktiv aufgezogenen, als auch von reizarm gehaltenen Hunden geht nach FEDDERSEN-PETERSEN (1991a) immer eine potentielle Gefährlichkeit aus.

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(3) Sozial expansive Hunde mit unklarem Rangverhältnis zu ihrem Besitzer

Hunde, die in einer labilen Rangordnung leben und eigentlich einer klaren Rangeinweisung bedürften, beißen nicht selten Kinder oder vermeintlich Subdominante der eigenen Familie oder Bekannte der Familie, sobald die Grenzen aus Sicht des Hundes überschritten sind. In der Regel ereignen sich derartige Übergriffe auf dem eigenen Territorium (FEDDERSEN-PETERSEN 1991a, 1991b, 1992)

(4) fehlgelenkte Zuchtauslese mit Fehlentwicklungen im Sozialverhalten und “Kampfhunde“

Gemeint sind Hunde, die bewusst auf Kampfverhalten und Angriffsbereitschaft selektiert worden sind und keiner Rasse zuzuordnen sind, da sie äußerlich sehr variabel sind. Häufig zeigen diese Tiere schwere Ausfallserscheinungen im Sozialverhalten (FEDDERSEN-PETERSEN 1990, 1991b, 1996, 1998), bedingt durch Negativauslese mit gestörter Jugendentwicklung. Es ist in diesen Fällen auch nicht mehr möglich, genetische Dispositionen von erworbenen zu trennen.

(5) „Schutzhunde“

Das Gefahrenpotential geht hier vor allem von Hunden aus, die im Rahmen des Hundesports infolge fehlerhafter Ausbildung „auf den Menschen“ abgerichtet werden. Vor allem, wenn diese Hunde die „Ausbildung“ nicht abgeschlossen haben, liegt hierin ein erhöhtes Gefahrenpotential (FEDDERSEN-PETERSEN 1991b, 1996, 1998, 2008).

2.8.3 „echte“ Verhaltensstörungen

Jegliches Verhalten im Rahmen des Normalverhaltens ist zweckgebunden nach dem Bedarfsdeckungs- und Schadensvermeidungsprinzip nach TSCHANZ (1993). Diese Grundmotive tierischen Verhaltens verhindern Energieverschwendung im Sinne der Kosten-Nutzen-Rechnung, wenn sich ein Verhalten nicht lohnt. Folgt ein Verhalten in seiner Ausprägung oder Art und Weise diesem Prinzip nicht mehr, wird es als Verhaltensstörung

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bezeichnet. Die andere Form der Verhaltensstörung läge vor, wenn ein Verhalten gezeigt würde, welches gar nicht Bestandteil des normalen Verhaltensrepertoires der jeweiligen Tierart ist (SCHÖNING 2001). Für eine Beurteilung eines Verhaltens als Verhaltensstörung bedarf es also zunächst der Definition einer Vergleichsnorm, dem Normalverhalten.

FEDDERSEN-PETERSEN (2004, 2008) weist auf die Schwierigkeit der Beurteilung von Normalverhalten hin. Nicht nur rassebedingt sollte ein anderes Beurteilungsschema gelten, sondern abhängig von der Umwelt, in welcher der Hund lebt. Demzufolge verhält sich ein Hund dann ungestört, wenn sein Verhalten den entsprechenden Umweltverhältnissen angemessen erscheint (IMMELMANN 1982, FEDDERSEN-PETERSEN 2004, 2008). Der Mensch muss in der Betrachtung der Umwelt eines Hundes unbedingt berücksichtigt werden, da er für den Hund den wichtigsten Sozialpartner darstellt. Jeder Mensch stellt aber unterschiedliche Ansprüche an seinen Hund und schafft damit ein sehr unterschiedliches Umfeld für jeden einzelnen Hund. Zudem stellt jede Hund-Mensch-Beziehung eine sehr individualisierte Beziehung dar, in welcher die Hunde lernen, ihr Verhalten reaktiv anzupassen, welches wiederum großen Variationen unterliegt. Daher können sich im Vergleich zwischen einzelnen Hunden erhebliche Abweichungen ergeben (FEDDERSEN-PETERSEN 1990, 1994, 1997b). Angesichts dieser extremen Variabilität zwischen den Hundeindividuen resultieren bei Haushunden daher ständig „Verhaltensabweichungen“, die nicht durch eine mangelnde Bewältigung der Umwelt bedingt sind, sondern Ausdruck neuer Strategien zur Anpassung an sich ändernde Umweltbedingungen und den Sozialpartner Mensch darstellen (FEDDERSEN-PETERSEN 1990, 1991b, 1996, 2008). Die Grenze zwischen dem normalen arttypischen und dem gestörten Verhalten ist somit nicht scharf zu ziehen, da sowohl die genetischen Anlagen, als auch die Umweltbedingungen während der Jugendentwicklung besonders bei Haustieren einer extremen Variabilität unterworfen sind, was die „Verhaltensindividualität“ des einzelnen Hundes bestimmt (BRUNNER 1988).

Laut FEDDERSEN-PETERSEN (1990, 1991b, 1996, 1998, 2008) liegen Verhaltensstörungen bei Hunden stets menschliche Unzulänglichkeiten zugrunde, sei es in Form unsachgemäßer Zucht bzw. Aufzucht oder infolge nicht hundegerechter Haltung und Erziehung. Somit lässt sich auch gestörtes Hundeverhalten nicht ohne Einbeziehung des Menschen analysieren. Die meisten Verhaltensstörungen äußern sich in Form gestörten Sozialverhaltens, mit der

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häufigen Folge gesteigerten, unberechenbaren Aggressionsverhaltens. In sehr vielen Fällen liegen Deprivationsschäden in der frühen Ontogenese zugrunde (FEDDERSEN-PETERSEN 1991b, 1998, 2008). Erworbene Verhaltensstörungen entstehen durch Belastungen hochgradig unbiologischer Umweltumstände (vor allem sozialer Bereich sowie die Ontogenese) oder aber durch organpathologische Veränderungen (BUCHHOLTZ 1982).

Um eine Verhaltensstörung nach TSCHANZ (1993) handelt es sich, wenn die Verhaltensänderung des Individuums nicht mehr auf Schadensvermeidung und Bedarfsdeckung abzielt. Den Großteil der Verhaltensstörungen bei Hunden verschiedener Rassezugehörigkeit stellen erworbene Verhaltensstörungen dar, auch als Neurosen bezeichnet (PETERSEN 1990, 2001a). Für deren Entstehung macht FEDDERSEN-PETERSEN (1990, 2001a) eine reizarme Umwelt oder Umweltbelastungen verantwortlich.

Dadurch kommt es zu nachteiligen Auswirkungen von Lernprozessen vor allem in der Sozialisationsphase. FEDDERSEN-PETERSEN (1990, 1996, 1998, 2001a) teilt Verhaltensstörungen folgendermaßen ein:

1. Frühontogenetisch erworbene Verhaltensstörungen:

Diese treten rasseunabhängig auf und sind meist gekennzeichnet durch hochstabile Entwicklungsschäden. Darunter fallen vor allem Deprivationsschäden, das heißt Schäden durch Erfahrungsentzug infolge fehlender sozialer Reize sowie Umweltreize. Diese Hunde neigen zu defensiver Aggression und unzureichender Bindungsfähigkeit an Familienmitglieder. Zudem sind die Reaktionen dieser Hunde vielfach wenig vorhersehbar.

Die Folgen einer Isolation in der Jugendphase sind in der Regel nicht kompensierbar, so dass von solchen Hunden immer ein Restrisiko und eine latente Gefahr ausgehen (FEDDERSEN-PETERSEN 1990, 1991b, 1996, 1998).

39 2. Aktualgenetisch erworbene Verhaltensstörungen

a) Verhaltensstörungen infolge beengter und reizarmer Haltung

Diese Störungen umfassen innerhalb eines kürzeren Zeitraumes erworbene Verhaltensanomalien, die sich partiell mit Deprivationsschäden überschneiden. Ursachen liegen in der reizarmen Umwelt, dem fehlenden Umgang mit einer Bezugsperson sowie dem fehlenden Kontakt zu Artgenossen. Es resultieren Unfähigkeit zur sozialen Kontaktaufnahme und Aggressivität gegenüber Menschen und Artgenossen oder aber Apathie (FEDDERSEN-PETERSEN 1990, 1991b, 1996, 1998).

b) Stereotypien von Bewegungsmustern

Diese sind in der Regel die Folge extrem reizarmer Haltung, es kommt beispielsweise zu Kreislaufen oder bestimmten zwanghaften Kopfbewegungen und Bellfolgen in räumlicher sowie zeitlicher Fixierung (FEDDERSEN-PETERSEN 1990, 1991b, 1996, 1998).

c) Traumatische Verhaltensstörungen nach Lernprozessen

Diese Störungen finden sich bei Hunden sehr häufig und resultieren aus einem oder mehreren traumatischen Erlebnissen (Beißerei, Gewalt, Autounfall). In der Folge kommt es assoziativ beispielsweise zu Nervosität, sozialer Unsicherheit oder hysterischen Reaktionen (FEDDERSEN-PETERSEN 1990, 1991b, 1996, 1998).

2.9 Leiden

Ist das Anpassungsvermögen sozial deprivierter Hunde überschritten, zeigen diese Hunde selbst in normalen Situationen starke Umweltunsicherheit und ständige Fluchtbereitschaft, vermögen sich kaum zu entspannen, da sie sich permanent durch ihre Umwelt bedroht fühlen und leben stets in der Erwartungshaltung „drohenden Unheils“. Neben der potentiellen Gefahr für den Menschen und Artgenossen, die von solchen Hunden ausgeht, ist hier der Tatbestand des Leidens erfüllt (FEDDERSEN-PETERSEN 1990, 1991b, 1997a, BUCHHOLTZ 1982).

40 2.10 Rasseabhängige Gefährlichkeit