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Ideal und Idealisierung

Im Dokument Sokratisch Mathematisieren (Seite 111-116)

2.3 Nelsons Philosophie der Mathematik

2.3.4 Ideal und Idealisierung

Zu Anfang dieses Kapitels wurde bereits kurz in der Beschreibung der Rezeption Nelsons, die PhilosophieKant-Fries’ betreffend, sowie in den erkenntnistheo-retischen Voraussetzungen als auch in der Untersuchung der kritischen Methode (2.1.1-2.2) das Thema Psychologie ausNelsons Sicht angerissen. An dieser Stelle werde ich erklären, wie Nelson das Problem der Mathematik im Kontext der

284. Peckhaus 1990, S. 164.

285. Hilbert 1903, S. 88.

286. Nelson 1906, S. 149, entnommen von Peckhaus 1990, S. 164.

Psychologie gesehen hat. In dem von Paul Bernaysverfassten Protokoll zu den

„Übungen über Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaften“287wurde gesagt:

„Wir gingen auch noch kurz auf den psychologischen Charakter der reinen Anschauung ein. Zu den Vorstellungen der geometrischen Ge-bilde gelangen wir durch ein Abstraktionsverfahren, welches wir auf Gegenstände der äußeren Wahrnehmung anwenden. Diese Abstraktion geschieht nicht in der Weise, dass wir die Merkmale, die mehreren Gegenständen gemeinschaftlich sind, absondern, sondern sie besteht in einer Idealisierung, das heißt einer Annäherung, für welche die Rich-tung durch die reine Anschauung vorgeschrieben ist. Die Möglichkeit eines solchen Verfahrens setzt eine nicht-empirische Vorstellung von etwas voraus, dem als Grenze die Idealisierung zustrebt. Da diese nicht nach Begriffen geschieht, so muss jenes Etwas anschaulich aufgefasst werden.“288

Das Thema der Diskussion ist hier, wie die geometrischen Erkenntnisse – genauer gesagt, die für diese grundlegende reine Anschauung – erlangt werden können. Wenn Nelsonalso in der Kritischen Mathematik die Erkenntnisquelle untersucht, meint er damit nicht, wo diese Erkenntnisse unabhängig von uns existieren, sondern, wie und durch welche Mittelwir zu ihnen gelangen.Paul Bernaysschreibt dazu:

„Mit der Behauptung, dass wir eine Anschauung von geometrischen Gebilden besitzen, soll aber nicht gesagt sein, dass wir in der Einbildung ein vollkommenes Phantasiebild, etwa einer Geraden oder eines Punk-tes, haben können, vielmehr gibt uns die reine Anschauung nur eine Regel, äußere Gegenstände nach bestimmten Gesichtspunkten aufzufas-sen und lässt uns die Gesetze ihrer Zerlegung und Zusammensetzung erkennen.“289

Im Folgenden werde ich die vonNelsonerwähnten Punkte in den obigen Zitaten, die die zweite Aufgabe der Kritischen Mathematik darstellen, zergliedern. Von diesem Punkt an wird ausschließlich Nelsons Mathematikphilosophie betrachtet.

Dazu muss ich die zentralen Begriffe der obigen Zitate in Betracht ziehen: reine Anschauung,Abstraktion,Ideal undIdealisierung.

Es wurde schon im Teil über die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen darauf hingewiesen, dass Nelson die Existenz eines Ideals als für jede Idealisierung

287. Nelson 2004c.

288. Ebd., S. 50.

289. Ebd., S. 50f.

notwendig erachtet. An dieser Stelle müssen als erstes die beiden Äußerungen Nelsons darüber wiedergegeben werden, und danach werde ich versuchen, die hier behandelten Themen zu analysieren. Nelsonführt in dem Vortrag (Nelson 1905), dessen Hauptideen ihre Wurzeln in denHilbertschen Schriften zur Axiomatik der Geometrie (vgl. Peckhaus 1990 S. 166 )haben, aus:

„Allein, jede Idealisierung setzt ein Ideal voraus, und wir müssen uns da-her fragen, von welcda-her Beschaffenheit und welchen Ursprungs denn das hier vorausgesetzte Ideal sein soll? Dies Ideal kann offenbar nicht selbst der Beobachtung entlehnt sein, da es ja gerade die Norm zur Korrektur der Beobachtung bilden soll. Dies Ideal ist in der Tat nichts anderes als die reine Anschauung und der hier als Idealisierung bezeichnete Prozeß besteht nicht sowohl in dem Übergang von der ‚Anschauung‘ zu den Axiomen als vielmehr in dem Übergang von der e m p i r i s c h e n Anschauung zur r e i n e n (nicht ‚inneren‘) Anschauung.“290

Fast neun Jahre später hat er in seinem Vortrag in Paris „Des fondements de la géométrie“ eine ähnliche Aussage gemacht, diesmal aber mit mehr Information über die HauptbegriffeIdealisierung undIdeal:

„In der Tat setzt jede Idealisierung ein Ideal voraus, das die Art des Vorgehens regelt. Ohne das Ideal würde der Idealisierung die Norm fehlen, und sie wäre willkürlich. Wäre sie aber willkürlich, so könnte sie keinen Anspruch auf strenge Genauigkeit und Allgemeingültigkeit erheben. Denn wir hätten keine Gewähr, daß, wenn wir uns einmal auf die Idealisierung eingelassen haben, diese unbegrenzt im Einklang mit unseren immer genauer werdenden Beobachtungen bleiben würde. Sie wäre vielmehr ihrerseits einer ständigen Berichtigung unterworfen. Die Idealisierung setzt also eine Erkenntnis voraus, die sowohl von unseren Beobachtungen als auch von unserem Willen unabhängig ist. In Wahr-heit geht man bei der Idealisierung der Beobachtung durch die Axiome nur von der sinnlichen zur reinen Anschauung über, das heißt, man abstrahiert von den zufälligen Gegebenheiten und der Ungenauigkeit der Sinne.“291

Später erwähne ich einige Beispiele von Abstraktion im Kontext der Geometrie, die von Nelson vorgestellt wurden. Eines der seltenen Beispiele, an denen er demonstriert, wie Abstraktion im Kontext der Arithmetik vollzogen wird, stammt aus seinen “Vorlesungen über moderne Naturphilosophie“:

290. Nelson 1905, S. 34.

291. Nelson 1970a, S. 173f.

„Die Rechnungsoperationen bestehen in der Anwendung gewisser all-gemeiner Prinzipien. Bei der Multiplikation mehrstelliger Zahlen z.B.

verfahren wir folgendermaßen:

7.23=7.(20+3) =7.20+7.3=140+21=161.

Anstatt also die Summen mit einer Zahl zu multiplizieren, multiplizieren wir jeden Summanden einzeln damit und addieren die beiden Produkte.

Wir kommen so durch Abstraktion zu dem distributiven Gesetz der Multiplikation: a(b+c) =ab+ac. Dieses Gesetz ist nicht aus diesem Einzelfall erschlossen, es macht im Gegenteil diese Multiplikationswei-se erst möglich, und es gilt mit voller Gewissheit für jede mögliche Multiplikation.“292

Alle wiedergegebenen Zitate, beginnend mit denen aus der Korrespondenz zwischen NelsonundHessenbergbis zu diesem Abschnitt, haben nur ein Hauptanliegen, nämlich die Genese und Geltung der mathematischen Erkenntnisse – im Speziellen der geometrischen Erkenntnisse – zu klären. Dieses Thema wurde in Nelsons Artikel in der Zeitschrift „Das Weltall“293anhand vonzweiAufgaben derKritischen Mathematik erläutert. DieersteAufgabe war, die Akkumulation aller mathemati-schen Urteile in Form eines wissenschaftlichen Systems und mit einer spezifimathemati-schen Struktur darzustellen, ähnlich dem, wasHilbertfür die Euklidische Geometrie geleistet hat. Auf diese Weise wird die Stellung jedes Satzes in dem System der mathematischen Wahrheiten so geklärt, dass es möglich geworden ist, klarzustellen, welche notwendigen und hinreichenden Bedingungen für seine Begründung erfor-derlich sind. Somit wird einerseits erfassbar, dass die Geltung eines jeden Satzes in dem System abhängig von bestimmten Urteilen ist, des Weiteren, auf welche Weise jede Aussage aus anderen hergeleitet werden kann.294

Hiervon muss man jedoch dieGrundsätzeausnehmen. Obwohl ihre Stellung somit in dem System evident wird, bleibt dennoch sowohl ihre Begründung – und daher ihre Geltung – als auch die Qualität ihrer Erlangung unbeleuchtet. Daher wurde bisher das Problem der Genese und Geltung der mathematischen Erkenntnisse lediglich partiell bearbeitet. Um dies zu vervollständigen, muss nun die Frage nach dem Ursprung und der Geltung der mathematischen Grundsätze ebenfalls unter-sucht werden.Nelsonnennt dies die erkenntnistheoretischen oder psychologischen Betrachtungen der mathematischen Erkenntnisse und damit die sogenannte zweite Aufgabe der Kritischen Mathematik.295 Hier ist der Punkt beachtenswert, dass

292. Nelson 2004d, S. 102.

293. Nelson 1906, S. 149.

294. Vgl. ebd.

295. Vgl. ebd.

das, wasHessenbergals Reaktion aufNelsons Kritik anHilberts Mathematik-philosophie geschrieben hat, im Grunde die Beschreibung der beiden Aufgaben der Kritischen Mathematik darstellt, darüber hinaus enthält seine Antwort den Hinweis auf die Auffassung, dassHilberts Werk in diesem Kontext unter Bearbeitung der ersten Aufgabe subsumiert werden muss.

Die erkenntnistheoretischen BetrachtungenNelsons, die Mathematik betreffend, können wie folgt aufgeteilt werden:

1) in diejenigen, in denenNelsonargumentiert, dass die Unterscheidung der logi-schen und empirilogi-schen Erkenntnisse nicht vollständig ist und den mathematilogi-schen Erkenntnissen weder logische noch empirische Erkenntnisquellen zugrunde liegen.

2) in diejenigen, die direkt auf die Beschreibung der Quelle der mathematischen Erkenntnisse und die Qualität ihrer Erlangung abzielt.

Ich werde mich an dieser Stelle nun auf den zweiten Punkt konzentrieren. Hier ist wichtig, dass die Voraussetzungen, die in2.1.3benannt wurden, in den Fokus kommen. Das wohl grundlegende Prinzip ist die Unterscheidung, die Nelson zwischen Vernunft und Verstand macht. Dieser Punkt, bei dem sich Nelson zumindest terminologisch von Kant unterscheidet, zeigt sich in der Einsicht Nelsons, dass die grundlegenden mathematischen Erkenntnisse – die synthetisch, a priori und anschaulich sind – mittels Vernunft erlangt werden und dunkel in uns liegen. Tatsächlich ist dies eine Facette desPrinzips des Selbstvertrauens der Vernunft, auf das ich später zurückkommen werde und das aussagt, dass diese grundlegensten mathematischen Erkenntnisse unmittelbare Erkenntnisse sind, die keine Begründung erfordern.

Bei der Abhandlung der Frage, wie diese Erkenntnisse erlangt werden, d.h. bei der Aufklärung der dunklen Vernunfterkenntnisse in uns, muss eine andere Vor-aussetzung Nelsons auch beachtet werden, nämlich die schon in Abschnitt 2.1.3 erwähnte Unterscheidung zwischen Urteil und Erkenntnis. Nicht jede Erkenntnis hat also die Form eines Urteils und nicht jedes Urteil ist eine Erkenntnis. Die Er-kenntnisse, die die Form eines Urteils haben, sind mittelbare ErEr-kenntnisse, und sie sind schon in unserem Bewusstsein und reflektiert. Die unmittelbaren Erkenntnisse sind jedoch nicht als Urteil gefasst worden. Sie sind selbst entweder anschaulich oder nicht anschaulich. Die anschaulichen Erkenntnisse sind zudem entweder em-pirisch oder rein. Diese drei Arten der unmittelbaren Erkenntnisse nach Nelson wurden zuvor mit seinen Beispielen bereits konkretisiert.296 Hier ist allerdings unsere Betrachtung dieser Differenzierungen in den obigen Zitaten, insbesondere die letzten beiden, prioritär. Er hat in diesen Zitaten klar zwischen Axiomen und

296. S.2.3.1o.2.1.3

reinen Anschauungen unterschieden. In den beiden zuletzt referierten Aussagen hatNelsonden Prozess beschrieben, wie die reine Anschauung erlangt werden kann. Dieser Prozess, den er „Idealisierung“ oder „Abstraktion“ nennt, hat als Ergebnis eine unmittelbare Erkenntnis, die nicht mehr dunkel ist. Die Abstraktion reiner Anschauungen aus empirischen Anschauungen ist jedoch laut Nelsonnur ein Teil des Aufklärungsprozesses der unmittelbaren Erkenntnisse. Sie müssen nämlich noch reflektiert werden, damit sie jeweils in Form eines Axioms, also eines speziellen Urteils, in unser Bewusstsein gelangen. Daher umfasst der Prozess der Aufklärung von mathematischen unmittelbaren Erkenntnissen – oder der der reinen Anschauungen – sowohl das Verfahren der Idealisierung als auch der Reflexion.

Bisher wurde die Existenz dieser besonderen Erkenntnisse nicht angesprochen.

Nelsonsetzt aber ihre Existenz voraus. Er unterstreicht die Notwendigkeit ihrer Existenz, d.h. die der Ideale, für den Prozess der Idealisierung. Somit ist eine Norm gegeben, mit deren Hilfe lautNelsonder Idealisierungsprozess bewertet werden kann. Diese Forderung selbst setzt aber voraus, dass der Idealisierungsprozess einer Kontrolle wie auch einer Bewertung unterzogen werden kann, um sein Ergebnis mit dem angestrebten Ideal zu vergleichen.

Diese Tatsache ist nachNelsons Meinung der grundlegende Unterschied zwischen Idealisierung und Induktion. Für beide Prozesse werden Prüfung und Kontrolle gefordert. Für einen davon ist das Ideal, die unmittelbare Erkenntnis, das Kriterium;

für den anderen ist das Kriterium weitere Beobachtungen, deren Ergebnisse zufällig und nicht notwendig sind. Er fordert von dem ersten Prozess „strenge Genauigkeit“, und es scheint, dass diese hohe Erwartung nur durch ein solch starkes Kriterium erfüllbar ist. Durch die bloße wiederholte Beobachtung der Phänomene kann man wegen ihrer Zufälligkeit keineswegs zu einem solchen Ziel gelangen. WieNelson selbst sagt, setzt daher „die Idealisierung [...] eine Erkenntnis voraus, die sowohl von unseren Beobachtungen als auch von unserem Willen unabhängig ist“.297Diese Erkenntnis ist „eine nicht-empirische Vorstellung von etwas [...], dem als Grenze die Idealisierung zustrebt“.298

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