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Antidogmatismus

Im Dokument Sokratisch Mathematisieren (Seite 55-60)

1.3 Sokratisches Gespräch in der Philosophisch-Politischen Akademie

2.1.4 Antidogmatismus

Um denAnti-Dogmatismus als einen Hauptaspekt derNelsonschen Didaktik zu untersuchen, beziehe ich mich zunächst erneut auf seinen Vortrag „Die Sokra-tische Methode“. Die Punkte, die für diesen Aspekt der SokraSokra-tischen Methode relevant sind, werden herausgearbeitet und dann mittels bereits thematisierten erkenntnistheoretischen Erklärungen im Detail analysiert.

Wie im ersten Kapitel erwähnt wurde, benutztNelsonden BegriffAnti-Dogmatismus in seinem Vortrag nicht. Ich übernehme ihn von Gisela Raupach-Streys Darle-gung der Sokratischen Didaktik, in der sie ihn verwendet, um das zu bezeichnen,

68. Nelson 2002, S. 42.

69. Nelson 2002, S. 51.

wasNelson„das erste Geheimnis der Sokratischen Methode“ nennt.70 Um diesen Aspekt der pädagogischen Methode Nelsons vorzustellen, möchte ich zunächst einen weiteren Blick auf die Beschreibung des philosophischen Unterrichts werfen, die er in dem Vortrag gegeben hat:

„Wer im Ernst philosophische Einsicht vermitteln will, kann nur die Kunst des Philosophierens lehren wollen. [...] Soll es also überhaupt so etwas wie philosophischen Unterricht geben, so kann es nur Unterricht im Selbstdenken sein, genauer: in der selbstständigen Handhabung der Kunst des Abstrahierens.“71

Daher ist das, was der Philosophie-Lehrer seine Schüler lehren muss oder, wie Nelsonsagt, was er von ihnen erzwingen muss, „selbst zu denken“. Dieser „Zwang zum Selbstdenken“ oder die Abschaffung desDogmatismusbeinhaltet zwei Aspekte.

Der erste ist, dass die Schüler ihre unbegründeten Dogmen aufgeben müssen. Gerade dies sei der Anlass seine Methode nach Sokrateszu benennen:

„Ein [Sokrates] allgemein zugestandener Erfolg besteht zunächst darin, daß er durch seine Fragen die Schüler zum Eingeständnis ihrer Unwissenheit bringt und damit dem Dogmatismus bei ihnen die Wurzel durchschneidet.“72

DaNelsonselbst an keiner Stelle eine Erklärung des Dogmatismus gibt, werde ich mich auf Kants Beschreibung beziehen, die Nelsonmit großer Sicherheit kannte. Laut Wolfgang Nieke hat Kant „die erste Theorie der Erklärung des Ursprungs und der Überwindung des Dogmatismus“ geliefert.73 NachKant sei der Dogmatismus ein Verfahren, „das ohne Kritik des Verstandesvermögens auszukommen sucht“. Im Anschluss daran legtNiekedar, dass der „Dogmatismus der Metaphysik [...] das Vorurteil [sei], in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen“.74Weiter, angelehnt anKant:

„Dogmatismus ist eine Philosophie ohne vorhergehende Erkenntnistheo-rie.“75

Demnach vermeidet derjenige den Dogmatismus, der seine Vorurteile überwindet und beim Fällen eines Urteils auch gleichzeitig dessen Grundlagen kritisiert.

70. Vgl. Nelson 2002, S. 40.

71. Nelson 2002, S. 34f.

72. Nelson 2002, S. 39.

73. Vgl. Nieke 1972, Sp. 277 74.KrV, B XXX.

75. Nieke 1972, Sp. 277.

Nelson glaubt zwar, dass auch ein Vortrag zum „Selbstdenken“ führen kann, jedoch sei dies nicht garantiert:

„Anregung zum Selbstdenken kann, zumal bei reiferen Schülern, auch vom Vortrag ausgehen. Aber zu welcher Anlockung auch solche Anre-gung sich steigern mag, unwiderstehlich ist sie nicht.“76

Den einzigen Weg, die Schüler zum „Selbstdenken“ zu animieren, sieht Neslon in einer direkten und praktischen Aufforderung. Er zählt vier Faktoren auf, die er als notwendig erachtet (vgl. Nelson 2002, S. 39): erstens, dass der Unterricht in Form eines Gesprächs erfolgt,zweitens, dass die Schüler „sich aussprechen“ können, drittens, „sich auf jede Querfrage einlassen“ undviertens, dass sie „über die Gründe jeder Behauptung Rechenschaft abzulegen“ haben.

Der andere Aspekt, den er zur Überwindung des Dogmatismus darstellt, ist, dass der Lehrer sich zu dem besprochenen Thema nicht in belehrender Weise äußert:

„Die Entwicklung unseres Problems hat uns die tiefere Beziehung ent-hüllt, die besteht zwischen der kritischen Philosophie und der sokra-tischen Methode, so dass wir daraufhin das Wesen der sokrasokra-tischen Methode geradezu bestimmt haben als die Ausschaltung des Dogma-tismus im Unterricht, und das heißt hier: als den Verzicht auf jedes belehrende Urteil überhaupt.“77

Um diese Behauptung zu begründen, gibt Nelsoneine Beschreibung des Philoso-phieunterrichts, die auf seinem erkenntnistheoretischen Prinzip basiert:

„Der philosophische Unterricht löst seine Aufgabe, wenn er im Schüler die Einflüsse, die der Aufhellung der philosophischen Erkenntnis im Wege stehen, planmäßig schwächt, die ihr förderlichen planmäßig stärkt.

Ohne hier die Frage zu beantworten, welche Einflüsse sonst hier in Betracht kommen, wollen wir jedenfalls das Eine festhalten: dass ein unbedingt auszuschaltender Einfluss derjenige ist, der von den Urteilen des Lehrers ausginge.“78

Im ersten Teil des obigen Zitats weist Nelsonimplizit auf das Prinzip des Selbst-vertrauens der Vernunft hin. Insofern die unmittelbaren Erkenntnisse als dunkle Vernunftserkenntnisse in uns allen, Lehrer und Schüler eingeschlossen, angelegt sind, kann der Unterricht Bedingungen herstellen, so dass diese dunklen Erkenntnisse aufgerufen werden und in das Bewusstsein gelangen können (siehe hierzu den

76. Nelson 2002, S. 39.

77. Nelson 2002, S. 44f.

78. Nelson 2002, S. 45.

folgenden Abschnitt2.1.3). Im Folgenden versuche ich, die oben genannten Punkte aus dem Vortrag Nelsons detailliert zu überprüfen. Dafür werde ich, Nelson folgend, mit der Untersuchung des Dogmatismus bei Sokratesbeginnen.

Der Platonische Sokrates als Initiator des Anti-Dogmatismus

Die beiden oben angeführten Aspekte des Anti-Dogmatismus hat Sokrateslaut Nelsonin seinen Gesprächen mit seinen Schülern berücksichtigt: Er hat versucht, sowohl die Dogmen bei seinen Schülern auszuräumen, als auch auf die Vermittlung jeglicher eigener Dogmen zu verzichten. Dies war jedoch kein Ergebnis einer konse-quenten Durchführung einer pädagogischen Methode, zu deren Einhaltung er sich verpflichtet fühlte, sondernSokrateswar – wenn wir seine diesbezüglichen Aussa-gen ernst nehmen – zutiefst von seinem Nicht-Wissen überzeugt. Dies bedeutet, dass er bei sich nichts finden konnte, dessen er sich sicher war. Darüber hinaus prüfte Sokrates diesen Fakt fortlaufend mittels Reflexion und Diskussion mit anderen.

Somit konnte er sich selbst auf keine Dogmen berufen, die er seinen Schülern hätte vermitteln können.Nelsonweist auf diesen Punkt in seinem Vortrag ebenfalls hin:

„Sokrateshat, wie jederman weiß, kein System aufgestellt. Er hat wieder und wieder sein Nicht-Wissen zugestanden. Er ist jeder Behaup-tung entgegengetreten mit der Aufforderung, den Grund ihrer Wahrheit zu suchen.“79

Unter diesen Bedingungen konnte Sokrates die Athener mit keinem Erkennt-nisinhalt in Form einer Wahrheit belehren, allerdings nicht deshalb, weil er ihre Existenz leugnete. Vielmehr war er von der Existenz der Wahrheit überzeugt und forderte die Athener auf, diese zu suchen. Dies war nicht nur ein rhetorischer Aufruf, sondernSokrateszeigt in diesem Zusammenhang, lautNelson, auch einen Weg, auf dem sie zur Wahrheit gelangen könnten:

„[Sokrates] hat, wie es in der »Apologie« heißt, seine Mitbürger

»ausgefragt, geprüft und ins Gebet genommen«, nicht um ihnen lehrend eine neue Wahrheit zu vermitteln, sondern nur, um ihnen den Weg zu zeigen, auf dem sie sich finden läßt.“80

Für diesen Punkt liefertPlatons Dialog Menon m. E. gute Belege. Darin fordert Sokrates Menonauf, eine Definition fürTugend zu geben. Der Definitionsversuch

79. Nelson 2002, S. 26.

80. Ebd.

erfolgt ohne weitere vorhergehende Prüfung durch Menon. Um eine Definition zu finden, die die im Dialog genannten Kriterien erfüllt, und nicht, weil er sich unbe-dingt dazu verpflichtet sah, den Dogmatismus beiMenonauszuräumen, hinterfragt er dessen Versuch einer Definition. Dieser Prozess wiederholt sich mehrmals, bis Menonverzweifelt das bekannte Paradoxon aufstellt. Obwohl sich Sokratesnun mit seiner Antwort auf Dichter und göttliche Männer und Frauen also auf Autoritä-ten bezieht, lässt er jedoch auch die Lösung des Paradoxons nicht ungeprüft stehen.

Die Szene, die die Diskussion zwischen SokratesundMenons Sklaven schildert, hat die Funktion einer Begründung dieser erkenntnistheoretischen Aussage. Ob diese Begründung – in Nelsons Terminologie eine Deduktion – ausreichend und akzeptabel ist, ist eine Frage, die an anderer Stelle untersucht werden soll. Der Hauptpunkt hier ist, dass sogar die Antwort von göttlichen Männern und Frauen nach Sokrates, der sich auch als gläubig bezeichnet, einer weiteren Prüfung bedarf. Dies kann für uns auch anzeigen, dass die Philosophie von Sokratesnicht ein System philosophischer Ansichten als Hauptkern hat, sondern dass eher eine Methode im Mittelpunkt steht, die dazu beiträgt, die philosophischen Erkenntnisse zu klären. Daher wird das, was als geistiges Vermächtnis geblieben ist, ebenso durch diese Methode untersucht und kann bestenfalls die Funktion eines Impulses – aus der Erfahrungswelt stammend – haben und als ein Faktor zur Klärung der

dunklen Erkenntnisse dienen.

Wenn das Philosophieuniversum als etwas betrachtet wird, das zwei Welten in sich vereint, nämlich die Welt der Lehrsätze und die der Praxis, wobei in der ersten die Anamnesis-Lehre oder dasPrinzipdes Selbstvertrauens der Vernunft und in der zweiten die SokratischeMethode liegen, kann für den Anti-Dogmatismus eine Stellung zwischen diesen beiden Welten angenommen werden. Einerseitsbesteht zwischen dem Konzept der Sokratischen Methode und dem Prinzip eine starke Bindung, da die Überzeugung von der Existenz unmittelbarer Erkenntnisse, die nicht in Form von Urteilen vorliegen, die Entstehung von Dogmen verhindert, die ihrerseits die Form eines Urteils haben. Dieser Punkt kann in anderen Worten wie folgt lauten: Gemäß dem Prinzip sind nur diejenigen Erkenntnisse unmittelbar, die keiner Begründung bedürfen. Nur dann kann ein Urteil eine Erkenntnis sein, wenn eine Begründung dafür gegeben und seine Gültigkeit letztendlich auf eine unmittelbare Erkenntnis zurückgeführt werden kann. Unter Berücksichtigung der oben gegebenen Beschreibungen von Dogma und Dogmatismus ist ein Dogma vor allem ein Urteil. Daher kann ein Dogma keine unmittelbare Erkenntnis sein.

Da die mittelbaren Erkenntnisse begründet worden sind, können sie auch keine Dogmen darstellen. Daher hat ein Dogma in einer Erkenntnistheorie, die das Prinzip berücksichtigt und es darüber hinaus als eine Erkenntnis anerkennt, keinen Platz.

In den zuletzt gemachten Ausführungen, die zur Klärung der starken Bindung

zwischen dem Anti-Dogmatismus und dem Prinzip der Selbstvertrauens der Ver-nunft dienen sollten, hatte das Konzept Begründung auch eine zentrale Bedeutung.

Das zeigt, dass der Anti-Dogmatismus andererseits mit der Methode in engem Zusammenhang steht. Diese wird in dem folgenden Abschnitt detailliert und mit Bezug zum Konzept der Begründung ausgeführt. Im Grunde beinhalten diese Ausführungen, dass die Methode den Anti-Dogmatismus voraussetzt, und deswegen bringt die Ausführung der Methode den Anti-Dogmatismus in die Praxis.

Der Anti-Dogmatismus kann also als der grundlegende Aspekt der Sokratischen Methode bezeichnet werden, der das Prinzip des Selbstvertrauens der Vernunft, das den erkenntnistheoretischen Aspekt der Methode darstellt, an die Praxis heranführt.

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