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Die Grundlagenforschung der Mathematik kurz nach Nelsons

Im Dokument Sokratisch Mathematisieren (Seite 97-101)

2.3 Nelsons Philosophie der Mathematik

2.3.2 Die Grundlagenforschung der Mathematik kurz nach Nelsons

Bevor wir diese Untersuchung über die Methode Nelsons im Kontext seiner Mathematikphilosophie abschließen, möchte ich auf einige Punkte in der Geschichte der Grundlagenforschung der Mathematik hinweisen, die für gewisse Punkte der ArbeitNelsons relevant sind.

Der österreichische Mathematiker und Logiker Kurt Gödel(1906-1978), dessen Forschungen auf die Grundlagen der Mathematik – und eigentlich zugunsten des Hilbertprogramms – fokussiert waren, hat durch seine Unvollständigkeitssätze gezeigt, dass in keinem konsistenten formalen axiomatischen System, das mäch-tig genug ist – wie die Arithmetik – und dessen Sätze von einem Algorithmus aufgezählt werden können, alle wahren Aussagen beweisbar sind. Darüber hinaus kann dieses System die eigene Widerspruchsfreiheit nicht beweisen.244 Somit hat er die Unmöglichkeit des Hilbertprogramms gezeigt, dessen Ziele vonPeckhaus so dargestellt werden:

• „die Forderung nach Erstellung eines umfassenden Axiomensys-tems für ein jedes Gebiet der Mathematik;

• die Forderung nach einem Widerspruchsfreiheitsbeweis für jedes dieser Axiomensystems, insbesondere aber für die grundlegenden Systeme der Arithmetik und der Mengenlehre;

• das Postulat der «Entscheidbarkeit einer jeden mathematischen Frage durch eine endliche Anzahl von Operationen» im Rahmen einer mit finiten Verfahren operierenden Beweistheorie.“245

Der für uns hier interessante Aspekt seiner Arbeit ist das Verfahren, das Gödel in dem Beweis seines Unvollständigkeitssatzes angewendet hat. Dieses Verfahren scheint der Nelsonschen kritischen Methode konträr zu sein. InNelsons Sprache hat Gödel seinen Satz, der die Kritik der Mathematik zum Inhalt hat, mit arithmetischen Mitteln246, die die Mathematik zum Inhalt hat, bewiesen. Er hat auch in seinem Beweis die Trennung zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand der Erkenntnis unterlaufen. Obwohl der Beweis mathematische Gegenstände beinhaltet, sollte er aber als kein mathematischer Beweis, sondern als ein Beweis eines Satzes in der Kritischen Mathematik betrachtet werden. Der Grund dafür ist, dass der Satz etwas über mathematische Axiome behauptet und sie als den Gegenstand der

244. Vgl. Buldt 2001.

245. Peckhaus 1990, S. 1.

246. – z.B. durch Arithmetisierung der Beweisbarkeitsrelation –

Untersuchung behandelt. Sie werden nicht nach ihrer Gültigkeit untersucht, sondern als ein einen Teil des Systems. Die Aussagen der Unvollständigkeitssätze bezieht sich auf einer Eigenschaft eines logischen Systems innerhalb der Mathematik von einer besonderen Art.

Man kann also folgern, dass der Gödelsche Satz fürNelsonähnlich dem Satz A’

in dem oben genannten Beispiel ist. Wir haben schon erwähnt, dassNelsonselber der Meinung war, dass der Beweis von A’ mittelsmoderner Axiomatik undLogik durchgeführt wurde. Die Tatsache, dass er wegen seines frühen Todes diese Ent-wicklungen nicht erleben konnte, lässt die Frage offen, wie er auf diese Anwendung der mathematischen Mittel – nicht als ein Teil des ganzen mathematischen Systems, sondern nur als Hilfsmittel zum Beweis eines Satzes außerhalb des mathematischen Systems – in der Kritischen Mathematik reagieren würde:

• Nimmt er den Gödelschen Beweis des Unvollständigkeitssatzes als einen Teil derKritischen Mathematik an?

• Ist die Anwendung der Mathematik, die ihre Anwendung in der Erfahrung hat, in der Kritischen Mathematik überhaupt in derKant-Friesschen Tran-szendentalphilosophielegitimierbar?

Da der Begriff «Kritik» – insbesondere der Begriff «Deduktion» – und ihre Vor-aussetzungen nicht klar formalisiert und die Rolle, die Mathematik überhaupt dabei einnehmen kann, nicht ausführlich genug untersucht wurde, kann man nicht explizit sagen, welche PositionNelsonin Bezug auf «Deduktion» gegen diesen Satz einnehmen würde. Es ist aber sicher zu sagen, dass der Unvollständigkeitssatz nachNelsonder Kritischen Mathematik gehört. Es handelt sich also um einen Satz, der nicht in der Mathematik – oder verankert in der Anschauung – bewiesen wird. Der Inhalt dieses Satzes ist nicht von anschaulicher Natur. Deswegen ist dafür eine andere Art der Begründung zu verwendet, nämlich «Deduktion». Im folgenden Zitat verweist Nelsonauf den Unterschied zwischen den beiden möglichen Arten der Begründung, nämlich «Demonstration» und «Deduktion»:

„Unter ‚Deduktion‘ der metaphysischen Prinzipien ist nicht etwa ein Beweis dieser Prinzipien zu verstehen, wohl aber eine Begründung.

Diese Begründung ist ein höchst verwickeltes und kunstvolles Verfah-ren[...]. Sie besteht darin, daß man die fraglichen Prinzipien in analoger Weise auf eine unmittelbare Erkenntnis zurückführt, wie man die Axio-me rechtfertigt, indem man bei ihrer Einführung auf die Anschauung verweist. Der Unterschied ist nur der – und darauf beruhen alle die tiefliegenden Schwierigkeiten dieses Verfahrens –, daß die unmittelbare Erkenntnis, auf die es hier gilt die Prinzipien zurückzuführen, nicht

anschaulicher Art ist und also nicht klar zu Tage liegt, sondern erst künstlich, vermittels einer Theorie der Vernunft, ausgesucht werden muß.“247

Was Nelson in diesem Zitat über mathematische Axiome aussagt, ist die Be-schreibung ihrer Demonstration, und nicht ihrer Deduktion. Wie oben erwähnt, ist dieDemonstration auch eine Art Begründung, die er wie Friesklar von der Deduktion unterscheidet (vgl. z.B. Nelson 1970b S. 22f.). Weil in der Deduktion der mathematischen Axiome ihre Anschaulichkeit keine Rolle spielt, enthält somit dieseDeduktion – wie bei der von metaphysischen Prinzipien – auch „tiefliegende Schwierigkeiten“. Der Beweis desGödelschen Satzes, der als ein Teil der „Theorie der Vernunft“ gelten sollte, wird mittels der Mathematik, genauer gesagt durch eine Arithmetisierung, ausgeführt. Anwendung der Mathematik, um einen Satz in der Kritischen Mathematik zu beweisen, setzt einige Annahmen voraus, einschließlich die Axiome, die in der Basis der Mathematik liegen. Diese sind jedoch selbst der Gegenstand der Untersuchung. Dieser Punkt fordert eine tiefere und ausführlichere philosophische Untersuchung über die philosophische Bedeutung, Stellung und Gültigkeit des Satzes. Diese Tatsache macht es schwer zu glauben, dass solche Art Anwendung der Mathematik und somit der Beweis desGödelschen Satzes in dem philosophischen GedankensystemsNelsons legitimierbar sein kann.

Der nächste interessante Punkt in diesem Zusammenhang ist die These, die von zwei anderen Mathematikern und Logikern, Alonzo Church (1903-1995) und Alain Turing(1912-1954), vorgestellt wurde. Diese These ist bekannt alsChurch -Turingsches Unentscheidbarkeitstheorem der Prädikaten-Logik 1. Stufe.Wilhelm Ackermann(1896-1962), Mathematiker und SchülerHilberts, hat in den An-merkungen zur Neuausgabe der vorstehenden Abhandlungen248, die er zuNelsons Vortrag Nelson 1927 geschrieben hat, auf diesen Satz Bezug genommen:

„1935 zeigtAlonzo Church, daß wir nie ein Entscheidungsverfahren besitzen können, das uns erlaubt, die Richtigkeit oder Falschheit aller zahlentheoretischen Sätze festzustellen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß wir je einen bestimmten zahlentheoretischen Satz angeben könnten – man kann diese Behauptung sogar widerlegen –, der nachweislich unent-scheidbar wäre. Für die höheren Teile der Mathematik erwähnen wir die Cantorsche Kontinuumhypothese, bei der sich immer mehr die Einsicht durchsetzt, daß aus einleuchtenden mathematischen Prinzipien noch ihre Falschheit beweisen werden könne, obwohl ein Beweis (von Kurt

247. Nelson 1927, S. 101.

248. Ebd., S. 125.

Gödel) bis jetzt erst für den zweiten Teil der Behauptung vorhanden ist.“249

Diese Anmerkung Ackermanns bezieht sich auf die folgende Erläuterung Nel-sons:

„Eine Überzeugung, die jeden tieferen Mathematiker bei seinen For-schungen leitet und ihm die Spannkraft verleiht, trotz aller Fehlschläge bei einer Untersuchung auszuharren, eine Überzeugung, die wiederum durch denHilbertschen Ausbau der Axiomatik mehr und mehr in den Vordergrund des Interesses gerückt worden ist, geht dahin, daß jedes mathematische Problem e n t s c h e i d b a r sein muß, in dem Sinne, daß wir über Wahrheit oder Falschheit jedes mathematischen Satzes durch reines Denken, ohne Hilfe von außen, zu entscheiden vermögen [...].“250 Nelson äußert sich sogar über die Vollständigkeit in der Mathematik auch sehr optimistisch:

„Die mathematische Erkenntnis muß ja eine solche sein, über die wir u n a b h ä n g i g von den Umständen verfügen, und zwar so, daß sie k e i n e r E r w e i t e r u n g b e d ü r f t i g ist, um uns den Zugang zur Entscheidung eines Problems auf rein logischem Wege zu gestatten.“251 Diese EinsichtNelsons wurde vonAckermannmit der folgenden Anmerkung konfrontiert:

„1931 zeigt Kurt Gödel, daß es kein Axiomensystem gibt, aus dem alle richtigen mathematischen Sätze abgeleitet werden können, daß es vielmehr für jedes Axiomensystem richtige mathematische Sätze gibt, die erst bei einer Erweiterung des Axiomensystems ableitbar werden.“252 Ackermanns Kritik anNelsons Einsichten ist, wie er selber in der Vorbemerkung zuNelsons Vortragsmanuskript (vgl. Nelson 1927, S. 92) sagt, mit Berücksichti-gung der Ergebnisse in der mathematischen Grundlagenforschung zwischen 1930 und 1936 erzielt worden. Im Bezug zu diesem Thema muss ich anmerken, dass man jedoch die Forschungen in diesem Bereich bis heute, geschweige denn in dem oben genannten Zeitraum, nicht als abgeschlossen ansehen kann. Sowohl Gödels als auchChurchs undTurings Werke wurden erforscht und kritisiert253, und das

249. Ebd.

250. Ebd., S. 106.

251. Ebd., S. 107.

252. Nelson 1927, S. 125.

253. S. z.B. Wittgenstein 1984, Lampert 2017, K. Müller 2018 und Rodych 1999.

zeigt, dass dies noch kein abgeschlossenes Thema ist. Ein Beispiel eines aktuellen Forschungsprogramms zur Kritik des Church-Turing-Theorems ist The New Logic Project.254

Hier werde ich das, was ich bisher über die kritische Methodeim Zusammenhang mit der Mathematik erklärt habe, zusammenfassen. Die klare Trennung zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand der (kritischen) Erkenntnis ist in diesem Kontext von zentraler Bedeutung. Außerdem sind Vollständigkeit und Entscheidbarkeit Eigenschaften, dieNelsonvom mathematischen System erwartet, wobei Anschau-lichkeit für ihn selbstverständlich ist. So ist die Mathematik das optimale Milieu für seine wissenschaftliche Methode, in dem sie sich entfalten kann, weit abseits von den Komplexitäten und den Vagheiten, die der Philosophie innewohnen. Seine Erwartungen wurden durchGödels undChurchs Arbeiten jedoch angefochten.

Diese Herausforderungen sind allerdings selbst ihrerseits als Thesen kritisiert und in Frage gestellt worden. Wenn man in dem philosophischen Gedankensystem Nelsons immanent denkt, stellt sich die Mathematik wegen ihrer (überwiegen-den) Anschaulichkeit und systematischen Gestalt im Vergleich mit der Philosophie viel mehr in Form einer Wissenschaft dar, trotz der Herausforderungen in ihren Grundlagen.

Im Dokument Sokratisch Mathematisieren (Seite 97-101)