• Keine Ergebnisse gefunden

I NTERVIEWS MIT HÖRGESCHÄDIGTEN S CHÜLERN

5. HÖRSCHÄDIGUNG IM KONTEXT VON STIGMA-IDENTITÄTSTHEORIEN

6.3 M ETHODE : Q UALITATIVE I NTERVIEWS

6.3.2 I NTERVIEWS MIT HÖRGESCHÄDIGTEN S CHÜLERN

Besonderheit der Interviews mit hörgeschädigten Schülern

Die Interviews mit den hörgeschädigten Schülern haben in dieser Arbeit einen zentralen Stellenwert, denn in kaum einer bisher veröffentlichten Studie wurden im Zusammenhang mit der Integrationsdiskussion Interviews durchgeführt, die die genannte Klientel explizit zu Wort kommen ließ, um über ihre wirkliche Lage Auskunft zu geben. Zu Recht schreibt Vaeth-Bödecker (1999, S. 196),

„daß das Integrationsverständnis wie auch überhaupt das Zielverständnis der Hörgeschädigtenpädagogik von der Vorstellung der Anpassung von Hörgeschädigten an die Normen der Hörenden geprägt war.“

So war es der Autorin ein besonderes Anliegen, die hörgeschädigten Schüler hierzu zu befragen. Dass dies bis jetzt nicht üblich war, hat auch die Recherche nach Literatur zu Interviews mit hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen ergeben. Selbst nach längerer Suche konnte keine explizit ausgewiesene Literatur für die Vorbereitung und Durchführung von Interviews mit hörgeschädigten bzw.

lautsprachlich weniger kompetenten Kindern gefunden werden. Somit musste bei der Durchführung der Interviews mit den hörgeschädigten Kindern eine neue, eigene Form generiert werden.

Da das Führen von Interviews mit Kindern, in diesem Fall hörgeschädigte Schülern, einer besonderen Vorbereitung bedarf, soll im Folgenden auf die Besonderheiten der Interviewführung mit dieser Klientel hingewiesen werden.

Um sich überhaupt mit der Methode des Interviewens vertraut zu machen, hat die Autorin sich selbst zu einem Thema interviewen lassen. Dadurch konnte die Interviewsituation anhand von Selbsterfahrung getestet werden, da sie sich hierfür in der Rolle der Befragten befand (vgl. Behnken & Jaumann 1995). Zudem wurde auch ein Probeinterview mit einer hörgeschädigten Schülerin durchgeführt, welches als sog. Vortest angesehen werden kann. Hier wurden bereits einige Probleme erkennbar, die sich während des Interviews zum einen mit der Schülerklientel bzgl. des Alters, zum anderen mit einer hörgeschädigten Interviewpartnerin bzgl. des sprachlichen Niveaus der Fragen ergeben. Dies stellte eine der wichtigsten Vorbereitungen für die für die Auswertung herangezogenen Interviews dar. Das Interview wurde zwar transkribiert, um auf sprachliche Auffälligkeiten, z.B. bzgl. der Fragetechnik, aufmerksam zu werden, aber selbst-verständlich für die Endauswertung nicht verwendet.

Die Besonderheit von Interviews mit hörgeschädigten Schülern kann mit der zum Teil eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit hörgeschädigter Schüler begründet werden. Da sich die Interviewführung mit Erwachsenen wesentlich von der mit (hörgeschädigten) Kindern und Jugendlichen unterscheidet, sollen hier einige Maßnahmen genannt werden, die in der Literatur angeführt werden. Es hat sich gezeigt, dass die zu ergreifenden Maßnahmen für hörgeschädigte Schüler in besonderem Maße zu berücksichtigen sind.

Im Vorfeld wurden die Schüler bereits von dem Vorhaben der persönlichen Befragung von ihren Eltern aufgeklärt. Das hatte den Vorteil, dass die Schüler bereits mit einem Vorwissen in die Interviewsituation gehen konnten.

Zu Beginn des Interviews stand eine sog. „Kennenlernphase“ (Paus-Haase 1998, S. 125). Hierfür suchte die Autorin die Familie zu Hause in ihrem gewohnten Umfeld auf. In allen Fällen wurde mit der Mutter bzw. dem Vater des Schülers und dem Schüler gemeinsam ein Vorgespräch geführt. So hatten alle Beteiligten die Möglichkeit, sich kennen zu lernen und gegebenenfalls Rückfragen zu stellen. Es wurde vor jedem Interview darauf hingewiesen, dass alle Daten streng vertraulich behandelt werden, indem eine Anonymisierung erfolgt. Interessierte Schüler konn-ten das Aufnahmegerät genau begutachkonn-ten, um sich auch mit der Technik vertraut zu machen. Nachdem das Gespräch mit dem Elternteil allein durchgeführt wurde, wurde besonders darauf geachtet, dass die Schüler ohne Anwesenheit der Eltern befragt wurden, damit sie keinen direkten Einfluss auf das „Interviewgeschehen“

nehmen können (Heinzel 1997, S. 405).

Besonders wichtig wird in der Kindheits- und Jugendforschung das Einlassen auf die Kinder mit ihren speziellen Bedürfnissen genannt, was in besonders hohem Maße für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche gelten kann:

„Dazu gehören das Einlassen auf die Gegenwart der Kinder; das Einlassen auf die Art und Weise, wie Kinder selbst auf die Gegenwart zugreifen, d.h.

auf die Konkretheit ihrer Selbstverfügungen; das Einlassen auf kindliche Selbst- und Weltverständnisse“ (Renner & Schneider 2002, S. 11).

Wenn Paus-Haase (1998, S. 126) auf die Probleme bei Interviews mit Kindern hinweist, indem sie auf die Notwendigkeit aufmerksam macht, „sich auf Kinder in ihrer Lebenswelt nicht nur einzulassen, sondern auch das methodische Vorgehen während der Erhebung auf ihre speziellen Eigenarten abzustimmen“, dann hat das für die Interviewsituation mit hörgeschädigten Kindern eine besondere Relevanz, da die Lebenswelt hörgeschädigter Kinder eingeschränkt sein kann (vgl. Ahrbeck 1992). Somit erfordert es hohes Geschick, große Flexibilität und eine sprachliche Sensibilität mit einer „hörgeschädigtenspezifischen“ Fragetechnik.

Das Gespräch sollte sich am „Artikulations- und Kommunikationsvermögen“ der Kinder (Paus-Haase 1998, S. 126) orientieren. Bzgl. der Verbalisierungsfähigkeit bei hörenden, also sprachlich nicht eingeschränkten Kindern kann konstatiert werden, „dass in den kindlichen Erzählungen und Konstruktionen unterschiedliche

kognitive und sprachliche Fähigkeiten zum Ausdruck kommen“ (Heinzel 1997, S.

401). Eine Tatsache, die ebenfalls bei Kindern und Jugendlichen mit einer Hörschädigung und einem damit verbundenem Defizit und sowohl sprachlicher Aufnahme und sprachlicher Widergabe in Form der Lautsprache eine besondere Relevanz besitzt.

Im Telefonat zur Terminvereinbarung mit den Eltern wurde jeweils geklärt, ob die Kinder wirklich zu einem Gespräch bereit sind und lautsprachlich in der Lage sind, über ihre Situation Auskunft zu geben.

Die Erzählstimuli wurden präzise und kind- bzw. jugendgerecht (d.h. aus der Lebens- und Erfahrungswelt der Kinder und der Jugendlichen) gewählt.

Es hat sich herausgestellt, dass die Schüler auf bestimmte Reizworte besonders spracharm oder sprachintensiv reagierten. Dazu gehörte zweifelsfrei die Situation an der allgemeinen Schule. Hier waren zum Teil mehrere Impulse oder Nach-fragen nötig, bei denen außerordentlich sensibel reagiert werden musste. Bei Stimuli wie „Situation am Förderzentrum“ reagierten die Schüler je nach sprachli-cher Kompetenz sehr sprachintensiv. Es kann also davon ausgegangen werden, dass bei Interviews mit hörgeschädigten Kindern häufiger sprachliche Impulse gesetzt werden müssen.

Generell waren die Fragen kurz und präzise gehalten, um die Schüler nicht zu verwirren und auch möglichst präzise Antworten zu erhalten. Es konnten auch nonverbale Mittel wie Mimik und Gestik genutzt werden, um die Erzählfreude der Schüler zu unterstützen.

Die Interviews dauerten ca. 15 bis 25 Minuten, um die Konzentrationsfähigkeit und die auditive Gedächtnisleistung der Schüler nicht allzu sehr zu strapazieren.

Die Gesprächsatmosphäre kann als partnerschaftlich, wohlwollend, freundlich nachfragend und aufgeschlossen bezeichnet werden, was nach Heinzel (1997) positive Auswirkungen auf die Interviewsituation hat.

Es hat sich gezeigt, dass fast alle Schüler sehr motiviert waren und sich quasi geehrt fühlten, einen Beitrag zu einer Forschung zu leisten. Die Motivation resul-tierte offensichtlich aus der Tatsache, dass sie ernst genommen wurden, und der Erkenntnis, dass sie etwas Wichtiges zu berichten haben, woran „erwachsene Wissenschaftler“ großes Interesse haben (Wilk 1996, S. 60).

Den Schülern wurde zu Beginn des Interviews klar gemacht, dass ihre persönliche Meinung ausschlaggebend ist und es daher keine richtigen oder falschen

Antwor-ten geben kann, die dann selbstverständlich auch nicht in irgendeiner Weise bewertet werden, um das Gefühl einer Prüfungssituation zu vermeiden (vgl. Behn-ken & Jaumann 1995).

Art der Interviews

Mit den ausgewählten Schülern wurden bewusst keine narrativen Interviews geführt, da diese sprachlich zu große Anforderungen (vgl. Heinzel 1997) darge-stellt hätten. Sie können nahezu als fokussiert im Hinblick auf ein bestimmtes Ereignis der Schulzeit bezeichnet werden.

Der Ausgangspunkt des fokussierten Interviews stellt die Tatsache dar, dass „die zu Befragenden eine spezifische, konkrete, keineswegs experimentell konstruier-te, sondern ungestellte Situation erfahren und erlebt haben“ (Lamnek 1993b, S.

79). Der Schulwechsel von der allgemeinen Schule an das Förderzentrum kann als solche Situation angesehen werden. Es stand also dieser bestimmte Untersuchungsgegenstand im Mittelpunkt des Gesprächs, bei dem vor allem

„Reaktionen des Interviewten auf das fokussierte Objekt“ ermittelt werden sollten (Bortz & Döring 2002, S. 315).

Selbstverständlich konnte keine Beobachtung der Situation des Schulwechsels durch die Forscherin erfolgen, wie es in der Literatur vorgeschlagen wird (vgl.

Bortz & Döring 2003), da dieser erst nach Vollzug bekannt wurde. Allerdings konnten Forschungsfragen (siehe Punkt 6.1) zu diesem Schulwechsel generiert werden, auf deren Grundlage die Interviewleitfäden entwickelt wurden.

Insgesamt konnte die Interviewform mit den hörgeschädigten Schülern aber dennoch als fokussiert bezeichnet werden, da sie sich stark an den zentralen Elementen des fokussierten Interviews orientierte. Dazu gehören eine „non-direktive Gesprächsführung“ und die Aufforderung zu „retrospektiver Introspektion“

(Bortz & Döring 2002, S. 316) z.B. durch die Frage „Was hast du dir damals in der Situation gedacht?“, Raum für unerwartete Reaktionen während des Interviews und das tiefgründige Führen des Gesprächs, indem direkt nach Gefühlen gefragt wird wie „Wie ging es dir in dieser speziellen Situation?“

Kriterien für Interviewauswahl

Im Fokus der Studie standen zwölf hörgeschädigte Schüler, die bereits integriert an einer allgemeinen Schule beschult waren und an das Förderzentrum gewechselt haben. Jeweils zwei Schüler wurden aus jedem Regierungsbezirk Bayerns mit den Stellen des MSD in München, Augsburg, Straubing, Nürnberg, Bamberg, Würzburg ausgewählt, um auch zwischen zwei Schülern innerhalb eines Regierungsbezirkes etwaige Vergleiche oder Unterschiede feststellen zu können. Insgesamt konnten also 48 Interviews durchgeführt werden, jeweils acht (zwei Schüler, deren Eltern, jeweils die Lehrer der allgemeinen Schule und die Förderschullehrer), zu denen die Schüler nach dem Schulwechsel gekommen waren, in jedem Regierungsbezirk.

Die Adressen dieser Kinder konnten über den jeweiligen MSD in Bayern ermittelt werden. In einem Anschreiben an die Eltern dieser Kinder wurde auf der Basis der Freiwilligkeit um einen Termin für ein Interview sowohl mit den Eltern als auch mit ihren Kindern gebeten. Da der Rücklauf höher war als erwartet, konnte eine Auswahl getroffen werden. Diese Auswahl unterlag folgenden Kriterien:

• Schulwechsel von der allgemeinen Schule an das Förderzentrum

• leicht- bis hochgradige Schwerhörigkeit des Schülers

• angemessenes Sprachniveau

• zurückliegender Schulwechsel nicht länger als fünf Jahre Ermittlung der Interviewpartner

Per Zufallsprinzip wurden die potentiellen Interviewpartner ausgesucht. In einem Telefongespräch mit den Eltern des zu interviewenden Schülers wurden die oben genannten Kriterien abgeprüft. Dabei sollten besonders „informationsreiche Fälle“

(Steinke 2003, S. 328) ermittelt werden. Dadurch war die Möglichkeit gegeben, herauszufinden, ob der zu untersuchende Sachverhalt im „subjektiven Erleben“

der Schüler und auch der Eltern repräsentiert war (Bortz & Döring 2002, S. 308).

Von den ausgewählten Schülern wurden jeweils zwei von jedem MSD in Bayern befragt, um eventuelle Vergleiche innerhalb eines Regierungsbezirkes anstellen zu können. Da in Bayern die Regierungsbezirke von den sechs MSD (Oberbayern, Niederbayern, Mittelfranken, Oberfranken, Unterfranken, Schwaben) vertreten werden, entstand so eine Mindestzahl von zwölf zu befragenden Schülern. Die Leitfäden mit den Schülern werden in Kapitel 7.1.2 erläutert.